Mir steckt die Gegenwart im Hals

Von Christoph W. Bauer. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 90

Online seit: 4. November 2022

Ich bin ein Spurenverwischer, ein Hochstapler, ein Schriftsteller kurzum. Lässt sich so die Frage beantworten, die mir neulich ein Bekannter stellte: „Wie würdest du dich positionieren?“ Das Wort Position erinnert mich an Pose, an Posse – und vielleicht kommt mir auch deshalb der Hochstapler in den Sinn. Sofort habe ich einen Satz auf der Zunge, der mich seit Jahren begleitet, einen Satz aus Diderots Rameaus Neffe: „Ich sehe nur um mich her und setze mich in meine Position, oder ich erlustige mich an den Positionen, die ich andre nehmen sehe.“ Auch an den Begriff Posten muss ich denken, vor allem in der Kindheit bekam ich das Wort oft zu hören, die oder der haben einen tollen Posten, schade, rasch haben sie den Posten wieder verloren. In meiner Jugend dann: Stell dich auf die Hinterfüße, mach was, du lebst nur so in den Tag hinein, denk an die Zukunft, ein guter Posten ist wichtig, wie willst du sonst dein Leben bestreiten? Das Gegenteil von einen guten Posten zu ergattern hieß, als Hilfsarbeiter zu enden, irgendwo „auf dem Bau“, in einem Spanplattenwerk, bei einem Zimmerer oder als Bierfahrer.

Christoph W. Bauer © Fotowerk Aichner
Christoph W. Bauer.
Foto: Fotowerk Aichner

Das alles blieb mir erspart, aber was heißt hier erspart? In welchen Häusern würden wir wohnen und mit welchem Mobiliar und so ganz ohne Bier? Ich habe tatsächlich viele Jahre in einem Skiverleih gearbeitet, Skischuhe geschrubbt, sie desinfiziert und auf einen Schuhtrockner gehängt, sie wieder abgenommen und in Regale gestellt, ich weiß nicht mehr, wie viele Schuhe es waren, abertausende bestimmt. Und noch heute habe ich manchmal einen Stinkstiefelgeruch in der Nase, Erinnerung an ein früheres Leben. Ich habe keine Lehre abgeschlossen, die Universität einige Monate lang im wahrsten Wortsinn bloß besucht, war also Gast in einem Leben, das für mich keine Möglichkeit darstellte. Die Literatur jedoch begriff ich als ein Spiel mit Möglichkeiten, ein Spiel mit Masken, sie lehrte mich Alternativen, lehrte mich Aufbrüche, Ankünfte. Sie wurde mir Fluchthelferin, selbst wenn ich die Gefahr noch nicht erahnte, sie trieb mich an und ließ mich ins Leere laufen, düpierte meine Denkgewohnheiten, feite mich vor voreiligen Schubladisierungen; immer wieder war sie mir Fallenstellerin, auf sicheren Wegen wähnte ich mich, als sich plötzlich mit wenigen Worten ein Abgrund auftat. Ich dachte nicht an die Zukunft, mir steckte die Gegenwart im Hals, ich wollte sie erbrechen, ich setzte alles auf eine Karte, ich wollte, was ich tat: schreiben.

Das hat nun so gar nichts mit Berufung zu tun, sondern verdankt sich dem Umstand, dass ich mich in die Gegenwart immer erst hineinbuchstabieren muss, um sie mir greifbar zu machen, hineinzweifeln muss ich mich, nach jedem Aufwachen, Wort für Wort setzt sich ein Hier und Heute zusammen. Das mag hochtrabend klingen, pathetisch gar, ist aber bloß meinem Wunsch nach Neuanfängen geschuldet, literarischen Wahlverwandten gewiss auch, nicht zuletzt meiner Kindheit.

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Vor mir ein Berg, hinter mir einer, links ein Berg, rechts ein anderer, dieses Bild stellt sich mir ein, wenn ich an meine Kindheit denke. Aufgewachsen im Tiroler Unterland, im Brixental, im Schatten des Hahnenkamms wurde mir dieses Bild zur Sprungfeder für Träume, Fantasien, nicht zuletzt für meine Neugier. Es muss noch etwas anderes geben als diese Berge, dachte ich, etwas anderes als Wachsgeruch in der Nase, etwas anderes als rote Tore, blaue, und jeden Tag Skiclubtraining und jedes Wochenende ein Skirennen, fünf vier drei zwo eins ab, fünf vier drei zwo eins ab, und runter den Hang, Zweiter ist Letzter, Zweiter ist Letzter, das war die Parole, mit der uns der Trainer in den Ohren lag.
Ja, es muss etwas anderes geben als die Sorge um ausgelastete Hotelbetten, als Nachbarn, die saisonlang mit ihren Kindern in die Keller ziehen, um ihre Schlaf- und Kinderzimmer an Gäste zu vermieten. Etwas anderes als postsaisonalen Baulärm und die herbstliche Zurüstung auf die nächste Wintersaison, schlicht etwas anderes als das Wort Saison, das wie ein Sesamöffnedich verwendet wird.

Etwas anderes als argwöhnische Blicke, die all jene trafen, die sich dem Ganzen entzogen, und die gab es freilich auch, solche, die sich abseits einer Melange aus Blasmusik und Hardrockklängen für andere musikalische Formen interessierten, für Bücher gar, oder sogenannte Zuagroaste. Letztere fielen auf, das hat sich bis heute nicht geändert. War ich einer von ihnen? Gewissermaßen ja. Aufgrund der Herkunft meines Vaters sprach ich zuhause Hochdeutsch, kaum hatte ich die elterliche Wohnung jedoch verlassen, redete ich im Dialekt, früh lernte ich, die Sprachebenen zu wechseln, eine Fähigkeit, wenn es denn eine ist, die ich noch heute beherrsche. Mein Vater zog Beethoven Mozart vor, meine Mutter konnte da nur protestieren, und beide lasen, Tolstoi, Dostojewski, aber auch Dante Alighieri, erinnere ich mich und sofort fällt mir ein, wie alleine die Namen der Schriftsteller meine Fantasie anregten.

Mein Lieblingsbuch im elterlichen Bücherregal war Meyers Universallexikon, in dem ich mich stundenlang vertiefen konnte – und dadurch so manches Skiclubtraining versäumte. Als Grund für mein Fehlen wagte ich, das Lexikon allerdings nicht zu nennen, ich erfand Geschichten, die zumindest für mich plausibel klangen, ich schwadronierte, ich war ein anderer. Ich verwandelte mich und spürte, dass Worte dies ermöglichten. Ob der Trainer mir die Geschichten abnahm, weiß ich nicht, sehr wohl aber, dass er mich ohnehin nicht als künftigen Skiweltmeister einstufte, was ihn mir plötzlich sehr sympathisch macht.

In der Tat ein sympathischer Mann, denke ich heute, ein Trainer, der seine Position sehr ernstnahm und damit auch wusste, worauf es ankommt im Leben – auf Anerkennung. Und so nahm er jeden aus der Trainingsgruppe, auch den Schlechtesten, zumindest zweimal im Winter mit zu einem Bezirkscuprennen, um ihm zu danken für seinen Einsatz im Training. Vielleicht hätte er sogar am wahren Grund für meine Abwesenheit Gefallen gefunden, ja, ich hätte ihm erzählen sollen, was mich umtrieb: Worte, in deren Klang ich rote Tore und blaue Tore hinter mir ließ, ich war sozusagen über alle Berge, wenn ich das Lexikon aufschlug und Begriffe aneinanderreihte zu einer Zauberformel, die ich laut vor mich hin sprach: Madagaskar, Maracuja, Mare internum.

All das kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich in einen Zug einsteige, um ins Dorf meiner Kindheit zu fahren. Vieles hat sich dort verändert, die Hotels sind größer, die Sorgen um die Auslastung wohl auch, die alten Torstangen aus Bambus sind Kippstangen gewichen, unverändert die Parolen und das blanke Entsetzen, wenn die Touristen ausbleiben – einerlei, Madagaskar, Maracuja, Mare internum, Hahnenkamm ich komme, rufe ich mir dann zu.

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Meine letzte Begegnung mit ihr liegt einige Jahre zurück, müde vom Schulterklopfen und Händeschütteln, von belanglosen Gesprächen und vermeintlich wichtigen Begegnungen, trat ich aus einer der Messehallen in Frankfurt auf die Terrasse hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Es war ein grauer Tag, ich zog mir die Kapuze des Parkas über den Kopf, die Wolken hingen tief, und einmal mehr fragte ich mich, was ich auf einer Buchmesse zu suchen hatte. Menschen mit Mobiltelefonen huschten an mir vorbei, mit Notebooks, Bücherstapeln und Verlagskatalogen, jede und jeder augenscheinlich in einer unabdingbaren Mission unterwegs, ernste Mienen, zielstrebige Blicke, kurzum, ich kam mir verloren vor, mehr noch, völlig fehl am Platz. Meine Lesung kam mir in den Sinn, die Moderatorin und ihre Fragen, die alles meinen konnten, nur nicht mein Buch, ich überlegte mir ernsthaft, abzureisen, da sah ich sie plötzlich, überlebensgroß tauchte sie hinter einer überdachten Lesebühne auf, in ungelenken Bewegungen steuerte sie die Mitte des Platzes an, drehte sich dort langsam im Kreis und winkte mir zu. Sofort hatte ich die Titelmelodie im Ohr, dachte an Lachgeschichten, Sachgeschichten, sah mich im elterlichen Wohnzimmer auf der Couch sitzen, vor einem Schwarzweißfernseher, der damals Farbe in mein Leben brachte. Farbe und Trost, wobei ich nicht mehr weiß, wovon ich in der Kindheit getröstet werden wollte, es vielleicht nicht mehr wissen will, weil das nur Fragen aufwürfe, auf die es zweifelhafte Antworten geben würde, aber tröstlich war es allemal, die Maus auf dem Messegelände zu erblicken, meine Stimmung änderte sich umgehend.

Und just in dem Moment, als die Maus auftauchte, gesellte sich ein alter Freund und Weggefährte neben mich auf die Terrasse, ich las in seinem Gesicht, dass er ähnlich empfand wie ich, ihm steckte die Gegenwart im Hals, als wollte er sich im nächsten Moment hinausbrüllen, was reine Interpretation ist, aber er winkte entschieden zurück. Du musst wach bleiben, sprach ich mir innerlich zu, wach und unerschrocken, die eingeschlagene Richtung, so sehr sie nur eine Möglichkeit war, sie ist beizubehalten, und wenn dir das erneut einen Umweg über die Vergangenheit abnötigt.

Blicke ich zurück, waren die frühen 1970er-Jahre weder bunt noch schwarzweiß, sie waren schlicht grau. Zumindest empfinde ich das heute so und schaue ich mir Fotografien aus jener Zeit an, bestätigen die Bilder meinen Eindruck. Grau war auch der dominierende Farbton in Filmen, graue Mäntel, graue Hüte, graue Kostüme, graue Nachrichtensprecher, die ich nicht voneinander unterscheiden konnte, für mich sahen sie alle gleich aus. Meine Großmutter, ich erinnere mich genau, wusste sich zu helfen, sie spannte eine Farbfolie vor ihr Fernsehgerät, der Effekt war faszinierend wie irritierend zugleich, ein Farbenbrei, in dem jede Handlung absoff. Schön anzusehen war das nicht, und ich frage mich, in wie vielen Haushalten es wohl solche Farbfolien gab – in dem meiner Eltern nicht. Freilich dienten die Folien nur als Übergangslösung, auf so manches wurde verzichtet, um sich irgendwann einen Farbfernseher leisten zu können, am besten einen mit Fernbedienung, was sich mir nicht ganz erschließt, gab es doch nur zwei Kanäle, damit zappt es sich nicht lange.

Dieser Grau-in-Grau-Tristesse entfloh ich nur allzu gerne, eine Möglichkeit dazu bot Die Sendung mit der Maus. Jede Folge sehnte ich herbei, lehrte sie mich doch, über den Tellerrand zu schauen und Neuland zu entdecken, ein Blick zur Seite genügte, schon war die Wirklichkeit eine andere. Das war mir in der Kindheit gewiss nicht bewusst, aber als ich in Frankfurt die mir zuwinkende Maus sah, empfand ich das als eine Art Befreiungsschlag, den ich vielleicht auch als Kind empfunden haben muss. Bester Laune verließ ich die Terrasse, schlenderte durch die Hallen, von Stand zu Stand, die Maus vor Augen, die Titelmelodie in Ohren, immer wieder zur Seite blickend, Neuland entdeckend.

Die Spuren, die ich verwischt und wieder freigelegt habe, sie führen zu Orten und Menschen, weil Literatur für mich ein Spiel mit Möglichkeiten ist. Vergangenheit ist in Gegenwart gelebte Zeit, las ich einmal, und ich buchstabiere mich wieder hinein in eine Gegenwart, zweifle mich hinein, während ich am Schreibtisch sitze, eine Fotografie vor mir. Auf ihr zu sehen eine Nachbildung der Maus aus Kindheitstagen, in einem Beet am Straßenrand, wer hat sie dort platziert und in welcher Intention? Einerlei, die Maus winkt mir zu, und ich kehre über Frankfurt noch einmal ins Grau meiner Kindheit zurück, ins elterliche Wohnzimmer, es wirkt mit einem Mal viel größer und heller. Der Schwarzweißfernseher hat ausgedient, ein neuer Apparat mit Fernbedienung liefert farbige Bilder, die Maus greift zu einem Bleistift, spitzt ihn zwischen den Zähnen, ich ahne es bereits, nun heißt es wieder, eine Woche zu warten. Ich schließe kurz die Augen, öffne sie erneut, lese das Wort Maus, das M zerfällt und rieselt herab, nur noch drei Buchstaben jetzt vor mir, aber ich weiß, auch das ist ein Neuanfang – aus.

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Christoph W. Bauer, geb. 1968, ist ein österreichischer Lyriker, Schriftsteller und Herausgeber. Er publizierte mehrere Bände mit Gedichten sowie Erzählungen und Romane, 2022 erschien sein neuer Lyrikband an den hunden erkennst du die zeiten, zuvor der Roman Niemandskinder (2019). Er ist Kurator der Reihe Dichter*in im Fokus für das Literaturhaus Niederösterreich. Diverse Preise und Auszeichnungen u.a. Outstandig Artist Award (2015), Tiroler Landespreis für Kunst (2015), Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck (2022).

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Hier und Heute. 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. 100 Wochen lang, jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.