Für eine kurze Zeit schien es, als würde ein kleiner Eklat den Erfolg von Robert Seethalers neuem Roman überschatten: Im Spiegel erschien ein Text, in dem der Rezensent Wolfgang Höbel zu Recht anmerkte, dass Parallelen zwischen Seethalers Roman Ein ganzes Leben und der vor zehn Jahren veröffentlichten Novelle Train Dreams von Denis Johnson nicht von der Hand zu weisen seien. Höbel machte etwas sehr Vernünftiges – er rief Robert Seethaler an, der offenbar erschrocken reagierte und sofort zugab, Johnsons schmale Novelle seinerzeit gelesen zu haben. Dass Literatur wiederum andere Literatur hervorbringt, dass es das schöpferische Genie nicht mehr gibt, dass jeder Autor auf den Schultern eines anderen steht – all das dürften mittlerweile längst Binsenweisheiten sein.
Und so darf man Robert Seethaler von jedem Vorwurf freisprechen, und zwar mit Erleichterung. Denn Ein ganzes Leben, sein noch nicht einmal 160 Seiten starker Roman, hat eine Kraft und eine Sogwirkung, wie sie ihresgleichen suchen. Seethaler, geboren 1966 in Wien, Schriftsteller, Schauspieler und Drehbuchautor, erzählt vordergründig von einem heute ganz und gar unvorstellbaren Dasein. Aber in Wahrheit erzählt er, wie immer in einem solchen Fall, von den tieferen Dimensionen des Menschlichen, also auch von uns. Sein Held, Egger heißt er, ist einer, der nicht fragt, sondern tut.
Ein Schlag von vielen
Verletzt ist er noch und geschwächt, und trotzdem schleppt er sich noch einmal an die Stelle, an der vor Kurzem noch sein Haus stand. „Er wollte begreifen, was geschehen war, aber als er nach Stunden an sein Stück Land kam und die verstreuten Balken und Bretter sah, wusste er, dass es nichts zu begreifen gab.“ Ein Schlag, einer von vielen, und Egger nimmt ihn hin, geht damit um und macht weiter, immer weiter.
Robert Seethaler hat sich in seinen mittlerweile drei Romanen offensichtlich auf Außenseiterfiguren spezialisiert. Nun ist ihm ein Buch gelungen, das, man kann die Begriffe nicht vermeiden, so ergreifend und erschütternd ist, wie man es lange nicht mehr lesen durfte. Ein ganzes Leben erzählt genau das, ein Leben vom Anfang bis zum Ende, erzählt in aller Ruhe und in aller Kürze eine Biografie, mit all ihren Wendungen und nicht wenigen Katastrophen, aber ohne nach Pointen zu haschen. Das Bestechende an diesem Roman ist, dass er die gängigen Muster umkehrt: Er erzählt ungeheuer viel Spektakuläres, aber er verbirgt das hinter einem komplett unaufgeregten Stil, der die Schicksalsergebenheit des Protagonisten aufnimmt: Ein ganzes Leben ist Sprache gewordener Fatalismus.
Es gibt keine Glorifizierung der Vergangenheit, aber auch nicht den Hauch eines utopischen Potenzials.
Man muss sich einmal selbst aufzählen, was hier auf 156 Seiten geschieht: Andreas Egger ist vier Jahre alt und Waise, als man ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Stadt in ein Bergdorf bringt und beim Großbauern Kranzstocker absetzt, einem entfernten Verwandten seiner verstorbenen Mutter. Dort wird er durchgefüttert und körperlich misshandelt, ein Hinken bleibt zurück. Als die erste Bergbahn gebaut wird, wird Egger zu einem der wichtigsten Arbeiter; er kennt die Landschaft und kann klettern, vor allem aber, das ist sein prägender Zug, hat er keine Angst. So geht das Leben weiter: Er findet eine Frau, baut ein Haus, verliert alles, zieht in den Krieg, gerät in russische Gefangenschaft, bleibt dort acht Jahre, kehrt zurück und arbeitet, im Dorf zwar als Heimkehrer akzeptiert, aber als Sonderling isoliert, bis zu seinem Tod als Hilfskraft und Bergführer. Das war alles, das ist auch genug. Einmal verletzt sich eine Touristin auf einer Tour; nun könne man, sagt sie, gemeinsam zu Tal hinken. Nein, antwortet Egger, „ein jeder hinkt für sich allein.“
Reaktionäre Heimatliteratur?
Selbstverständlich darf man die Frage stellen, ob dieser Form von Heimatliteratur, und darum handelt es sich fraglos, nicht etwas Reaktionäres anhaftet. Ganz entschieden nein, und das aus mehreren Gründen: Ein ganzes Leben ist keine Laudatio temporis acti, keine Feier vergangener Zeiten, auch wenn die Technisierung und die damit verbundenen Veränderungen in den Menschen (Fernseher, Mondlandung) und in der Natur (Skipisten, Tourismus, Verkehr) sehr genau wahrgenommen und protokolliert werden. Was allerdings nicht beschrieben wird, ist eine damit verbundene Entidyllisierung. Man spürt keinen Bruch, kein Vorher, kein Nachher. Die Welt geht ihren Gang, und Egger geht mit.
Der Blick des Erzählers, der stets nahe an Eggers Seite bleibt, ohne ihm jemals zu nahe zu treten, ist stets auf die Gegenwart, auf das Jetzt gerichtet; es gibt keine Glorifizierung der Vergangenheit, aber auch, und das macht den Roman auf so brillante Weise erschreckend, nicht den Hauch eines utopischen Potenzials. Der große Abwesende, das fällt allerdings erst auf, als das Wort zum ersten Mal fällt, ist der Herr im Himmel: „Er war nie“, so heißt es gegen Ende des Romans, „in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben. Der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde.“ In die katholische Milieufalle geht Seethaler nicht. Wo auch immer Schmerzen, Krankheiten und Unglücke herkommen mögen – von oben kommen sie nicht. Allerdings kommt von dort auch keine Erlösung.
Alpine Fantasieorte
Nur scheinbar ist das Geschehen in einer ganz konkreten Geografie verortet; wenn man allerdings den im Roman ausgelegten Spuren folgt und im Internet nach den Schauplätzen des Romans sucht, die ganz und gar authentisch klingen („Karleitner“, „Zwanzigerkofel“, „Ferneis-Gletscher“, „Klufterspitze“), stellt man fest, dass all das Fantasieorte sind, die mit Sicherheit ein reales Vorbild haben, aber letztendlich von Seethaler als Versatzstücke einer Alpen-Kulisse in ein kunstvolles literarisches Fantasiegebilde umgewandelt worden sind. Das ist eine weitere Paradoxie: So distanziert und ruhig Seethalers Sprache auch daherkommt, so plastisch, anschaulich und sinnlich erfasst sie die Welt. Egger zieht Bilanz: „Er hatte länger durchgehalten, als er selbst je für möglich gehalten hätte, und konnte im Großen und Ganzen zufrieden sein.“ Am Anfang war Winter. Am Ende ist wieder Winter. Egger war da und ist wieder gegangen. Die Menschen machen weiter. Immer weiter.
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