Für das nächste Mal wünschen wir uns ein Märchen

Auszug aus einem Roman in Arbeit. Von Carolina Schutti. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 71

Online seit: 24. Juni 2022
Carolina Schutti © Simon Rainer
Carolina Schutti. Foto: Simon Rainer

Wir schleppen fortan das Buch mit, wohin wir auch gehen. Meyers großes Kinderlexikon. Wir sind auf den Altpapiercontainer geklettert und haben gelesen: zur freien Entnahme. Wir interessieren uns für schwarze Löcher und ausgebrannte Sterne und schlagen noch im Gehen nach. Wir finden Milchstraße und Sternzeichen.
Wir lesen alles über Pilze und lieben Gift, Lamellen und Pilzgeflecht.
Wir stellen uns vor, wie Affenbrot schmeckt.
Wir beneiden Tim, der vor dem Bug eines Frachtschiffes steht.

Wir legen uns nebeneinander auf den Waldboden, unsere Arme und Beine sind nackt.
Wir halten uns an den Händen.
Lassen los.
Wir machen eine Mutprobe, wer es länger aushält, nicht nach der Hand der anderen zu greifen, während wir uns vorstellen, wie unsere Hautschüppchen von Mikroben und Pilzen zersetzt werden.
Wie wir das unter uns pulsierende Myzel ernähren.

Obwohl man die Sonne am milchweiß gefärbten Himmel nicht sehen kann, ist die Hitze kaum auszuhalten. Ich trage das Handtuch, meine Schwester trägt einen Badeanzug. Wir begegnen keiner Menschenseele, doch wir riechen schon von Weitem den trägen Fluss. Seine tiefgrüne Duftspur lockt uns unwiderstehlich an so wie die Kühe, die gierig das nahezu stehende Wasser trinken oder die Kröten, deren Laich
schwarzen Perlenketten gleich
an der Wasseroberfläche treibt. Der Bauer ist heute im Holz und so durchqueren wir ungestört seine Weiden. Wir lassen uns von kleinen blauen Schmetterlingen ablenken und beginnen zu rennen, als Pferdebremsen an unser Blut wollen. Wir teilen unser Blut mit niemandem und hassen die Pusteln, auf denen Eiterblasen wachsen. Wir hassen Blutsauger, auch die mit den schönen Namen, wir hassen Schmetterlingsmücken, Sandmücken, Herbstgrasmilben und Gnitzen, wir hassen Stechfliegen, Flöhe, Wanzen und Läuse, wir hassen Zecken, Blutegel und Eulenfalter. Wir haben die vollständige Liste in unser Buch eingelegt, wir haben sie auswendig gelernt, wir sagen sie uns vor.
Wir laufen unterschiedlich schnell, obwohl wir gleich lange Beine haben. Ich sehe, wie meine Schwester sich ärgert, wie sie darum kämpft, nicht in das hektische Trippeln der Mutter zu fallen, wie sie ihre Schenkel nach oben reißt, als würde das etwas ändern. Ich verlangsame mein Tempo, um den schönen Tag nicht zu verderben.
An einer Stelle versinken unsere Füße bis zu den Knöcheln im morastigen Untergrund, in kleinen Gruben stehen ölig schimmernde Wasserlachen. Wir halten inne, um sie zu untersuchen, riechen an der schwarzbraunen Erde, bohren unsere Finger hinein und spülen die Hände mit dem regenbogengleichen Wasser. Bevor es zu spät für das Baden ist, besinnen wir uns, suchen eine Stelle am Ufer, an der keine Kuhfladen sind, hängen unsere Kleider ins Schilf. Und auf einmal denke ich: Du siehst komisch aus in deinem getupften Badeanzug, der sich über deinem leicht gewölbten Kinderbauch spannt, und ich blicke an mir herunter und sehe die Rippen unter meiner gebräunten Haut. Ich schäme mich nicht, nackt zu sein. Du schnaufst, als du versuchst, an die andere Uferseite zu gelangen. Ich drehe mich auf den Rücken und bewege Arme und Beine wie eine Qualle, ich habe das Gefühl, endlos lange so schwimmen zu können, schließe die Augen, hege den Verdacht, mich im Kreis zu bewegen und erwarte gleichzeitig jeden Moment, mit dem Kopf ans Schilf zu stoßen, an die ins Wasser ragenden Wurzeln der Weiden oder an etwas, von dessen Existenz ich nichts wissen will.
Das Schwimmen hat uns die Mutter schon früh beigebracht, wir besaßen zusammen ein Paar orangefarbene Schwimmflügel. Eine musste immer brav am Ufer des Baggerlochs sitzenbleiben und durfte sich nicht rühren, während die Mutter die Arme und Beine der anderen bewegte, geduldig, immer schön abwechselnd, so lange, bis wir ihre zwei kleinen Fröschchen waren, die sie getrost aus den Augen lassen konnte. Wir waren traurig, als es das Baggerloch auf einmal nicht mehr gab, als das Wasser verschwand
ein Parkplatz entstand
und ein paar flache Hallen, in denen müde Menschen ein und ausgehen, so hat es uns die Mutter erzählt.

Ich bin kein kleiner Frosch, ich bin eine Würfelqualle, ich verteile mein Gift im Umkreis von Kilometern, nicht einmal die Libellen dürfen sich der Wasseroberfläche nähern, denn noch im aufsteigenden Dunst ist so viel Gift enthalten, dass es umgehend ihren Flügelschlag lähmt. Meine Tentakel streifen über den lehmigen Grund des Flusses, finden Zuckmückenlarve, Schlammröhrenwurm und Posthornschnecke. Blutegel, Wasserassel und ab und zu einen müden Fisch. Ich bin eins mit dem Wasser und fürchte mich nicht.
Wer da schreit, bist du. Ich richte mich auf, blicke in deine Richtung, du winkst aufgeregt, das Wasser spritzt, ich erschrecke, doch es sind nur die fernen, dunklen Wolken, die du meinst. Ich fürchte mich nicht, auch nicht, als das Grollen meine Ohren erreicht, immer noch nicht, als ich es blitzen sehe. Jetzt schreist du nicht mehr, du brüllst, und ich beende das Theater, indem ich aus dem Wasser steige, mich mit dir verbünde, es ist doch noch fern, sage ich, du zitterst, hast wirklich Angst, ich reiche dir das Handtuch, steige, nass wie ich bin, in mein Kleid, helfe dir mit den Schuhen, weil du vor lauter Zittern die Schnürsenkel nicht binden kannst.
Wir halten uns an den Händen und laufen nach Hause, so schnell wir können, während schwerer Regen auf uns fällt.

Manchmal spricht die Mutter von einem Erlebnis. Ihr Gesicht beginnt zu leuchten wie der Mond. Wir stellen uns den Pavillon für die Musiker vor, der nach Hund stinkt und nur selten benützt wird. Die Mutter stellt sich eine weite Wiese vor mit Gruppen von Leuten, die zur Musik tanzen.
Die Kinder bekommen Fähnchen und die Erwachsenen haben Feuerzeuge, erzählt die Mutter. Mein Fähnchen hat einen gebrochenen Stab. Eure Großmutter hat Angst, ich könnte mich an den spitzen, langen Holzfasern verletzen, und sie bittet meinen Vater um eine Packung Taschentücher und löst den Klebestreifen ab und umwickelt damit mein Stäbchen und sagt mir, ich solle nun ganz vorsichtig damit winken, denn es gebe keine Möglichkeit, ein neues Fähnchen zu bekommen, die Ausgabestelle sei am anderen Ende der Halle und ich würde doch sehen, dass es kein Durchkommen gebe, also vorsichtig damit, ja? Und ich nicke und halte mein Fähnchen in die Höhe und neige es nach rechts und nach links und die anderen Kinder zerschneiden mit ihren Fähnchen die Luft, sodass das Papier nur so knallt, und auf einmal gibt es ein Rumoren und vorne beginnen die Leute zu schreien und die Beine vor mir rücken nach vorn und hinter mir rücken welche nach und sie alle rücken enger zusammen und auf einmal knacken die Lautsprecher und es rauscht und es sirrt und dann hört man Gedichte und die Leute sind irritiert, denn das haben sie nicht erwartet, einige lachen, einige sagen So ein Scheiß und ich sage es nach und meine Mutter packt mich am Genick und ich fühle mich wie ein in die Falle gegangenes Tier und verstumme und halte mein Fähnchen noch ein bisschen höher und neige es vorsichtig nach links und nach rechts und trotz aller Vorsicht berührt es jemanden am Kopf und der wischt es mit einer Armbewegung weg wie ein lästiges Insekt und dreht sich nach mir um und blickt mir starr ins Gesicht mit zusammengezogenen Augenbrauen und ich senke meinen Arm und sehe dass das Papier einen Riss hat und ich tupfe Spucke darauf aber es ist natürlich nicht mehr zu reparieren und es riecht schlecht zwischen all den Beinen und auf einmal hört man Musik und jemand brüllt in ein Mikrophon und ich lasse das Fähnchen fallen und halte mir die Ohren zu und schließe die Augen und stelle mir vor ich sei woanders aber meine Haut spürt dass ich da bin und meine Nase riecht dass ich da bin und die Hand meiner Mutter senkt sich auf meinen Kopf und streicht aufgeregt über mein kurzgeschorenes Haar und dann plötzlich zieht sie meine Hand vom Ohr und ruft Jetzt!, jetzt! jetzt!, jetzt endlich! und sie stellt sich auf die Zehenspitzen und ich sehe ihr erhobenes Kinn und dass sie rote Flecken auf dem Hals hat und mein Vater packt mich und versucht mich hochzuheben doch es ist unmöglich ich stecke zwischen den Beinen fest und dann legt er seine Hand auf meine Schulter wie zum Trost oder wie als Versprechen dass er mir später alles ganz, ganz, ganz genau erzählen wird –

Wir hören mit großen Augen zu.
Wir wünschen uns für das nächste Mal ein Märchen.

Entschuldigung!, Entschuldigung!, Entschuldigung! brüllen wir, als die Mutter in einem Anfall damit droht, ihre und unsere Papiere zu vernichten.

Sie fuchtelt mit einem Feuerzeug vor unseren Gesichtern herum, all unsere Dokumente hat sie samt den Klarsichthüllen aus der Mappe gerissen und auf den Tisch geworfen.
Wollt ihr, dass wir verschwinden?, kreischt sie und jede von uns bekommt eine Ohrfeige, die Wange und Ohrmuschel glühen lässt.
Jede von uns wird an den Haaren gerissen und jeder wird ein Tritt versetzt, ehe sie uns unvermittelt, wie aus dem Hinterhalt, in die Arme schließt und gleich darauf weinend zusammenbricht.
Ein Häufchen.
Ein Häufchen Elend.
Wir weinen nicht, wir schluchzen, später, nachts, in unseren Betten. Jetzt müssen wir beweisen, dass wir stärker geworden sind, dass wir uns vor nichts und niemandem fürchten, auch vor unserer Mutter nicht.
Ich bin nicht schlecht, sagt sie, ich bin eure Mutter.
Ich weiß, sagt meine Schwester.
Ich weiß, sage ich.
Wir helfen der Mutter hoch, glätten ihr Haar und setzen uns an den Tisch.
Die Mutter liest uns die Dokumente vor.
Hält uns Geburtsurkunde, Stammkundenkarte, Meldezettel und Treuepass dicht vor die Augen. Ein Zeugnis. Eine alte Zugfahrkarte. Eine Rechnung, an deren Herkunft sie sich nicht mehr erinnern kann.
Ohne all dies hier seid ihr nichts.
Wir nicken betreten und sehen zu, wie sie Folie um Folie in eine Schachtel legt. Die Löcher in den Klarsichthüllen sehen aus, als hätte man Schmuck von Ohrläppchen gerissen, die Mappe ist nicht länger zu gebrauchen.
Ihr könnt sie haben, sagt die Mutter, wollt ihr? Wir nicken, versuchen, die verbogenen Ringe zu schließen, die Dellen an den Ecken zu glätten, bedanken uns und warten, bis der Blick der Mutter glasig wird und wir in unser Zimmer verschwinden können.

Wir lassen unsere Fingernägel wachsen, sodass die tiefe Rille zwischen Nagel und Fingerkuppe zu einer Behausung wird
….. für duftiges Moos
……für luftige, dunkle Walderde
……für feinste Rindensplitter
und vor allem:
für die blassblauen Fasern unbestimmter Herkunft

Zwischen Asien und Atlas hat kein Astronaut Platz und wir streiten darüber, ob wir stattdessen Architekt oder Arzt werden wollen. Frau Dr. Lange verschreibt Andrea ein Medikament. Das klingt nicht schlecht, schreiben können wir. Wenn jemand ein Haus bauen möchte, bespricht er mit einem Architekten, wie er sich sein Haus vorstellt. Dann zeichnet der Architekt, wie es außen und innen werden könnte. Zeichnen können wir nicht so besonders, nur Blumen, und wir bezweifeln, dass man damit als Architekt weit kommt.
Wir versuchen es weiter hinten. Heldin würde uns gefallen.
Heldinnen gibt es hier nicht, auch keine Helden. Hexe, Handwerker, Gastarbeiter. Wir sehen uns die Geburt an. Sie ist keine blutige Angelegenheit. Fußgänger. Wir wissen natürlich, dass das kein Beruf ist. Förster. Fleischer. Familie. Ich finde so eine große Familie schön, wenn man genug Platz hat und sich gut versteht, meint Mutter. Wir sind nicht sicher, ob wir eine große Familie sind. Wir sind nicht sicher, ob wir uns gut verstehen. Die Familie ist nicht abgebildet, wir sehen uns den Fallschirm, den Falken, das Fahrrad und die Fabrik an. Wir finden Frank blöd, weil er auf der Wiese herumliegt und idiotische Fragen stellt.
Ich schlage vor, mit rotem Stift eine Heldin einzutragen. Zwischen Heizung und Herd hat eine Zeile Platz. Ich könnte schreiben: Ich muss jemanden retten, sagt Heike, obwohl es gefährlich ist, und sie schafft das. Meine Schwester möchte nicht. Wir könnten Heike als Heldin an den Herd stellen, neben dem Herd sind zwei Fingerbreit Platz, wenn wir Heike nicht anmalen, bleibt sie beige wie der Hintergrund und starrt in den Topf, in dem irgendetwas kocht. Meine Schwester möchte das nicht. Wir könnten ein Blatt einlegen und in aller Ruhe Heikes Heldentaten beschreiben. Meine Schwester möchte das nicht. Meine Schwester möchte, dass das Buch bleibt, wie es ist. In mir kocht Wut hoch. Ich starre auf den Topf auf dem Herd und auf die Tollkirsche und auf den Fingerhut, die unverständlicherweise bei den Heilpflanzen abgebildet sind, denn wer weiß schon, was eine winzige Menge ist – wer dieses Buch ernst nimmt und keine Blätter einlegt und Ergänzungen vornimmt, sicher nicht, der liest Heilpflanze und ist zu faul zum Weiterlesen und sieht sich das Bild von der Tollkirsche an und geht in den Wald und stirbt unter elenden Krämpfen. Meine Schwester heult, obwohl ich sie nicht einmal berührt habe. Ich schließe das Buch und werfe es ihr in den Schoß, jetzt heult sie noch mehr. Ich krieche unter das Bett zu meinen Listen und schreibe in Großbuchstaben Heldin und hasse den Namen Heike und schreibe, dass Helena große Taten vollbringt.

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Carolina Schutti studierte Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und klassische Gitarre und absolvierte eine Gesangsausbildung. Nach einigen Jahren Lehr- und Unterrichtstätigkeit und nach ihrer Promotion über Elias Canetti war sie Lektorin an der Universität Florenz, ehe sie 2010 ihr zum Rauriser Literaturpreis nominiertes Debut Wer getragen wird, braucht keine Schuhe publizierte. Der zweite Roman Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein (2012) wurde mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet, 2015 erschien die Novelle Eulen fliegen lautlos (Alois Vogel Literaturpreis), 2020 folgte der Roman Patagonien, 2021 der Roman Der Himmel ist ein kleiner Kreis im Droschl Verlag. Mit einem Ausschnitt daraus wurde sie zum Ingeborg Bachmann-Preis 2020 nominiert. Darüber hinaus verfasste sie Hörspiele, Texte für interdisziplinäre Theaterprojekte und einen Lyrikband (nervenfieber, 2018). Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.