Das eine ist der Markt und das andere die Wirklichkeit, wird die per Kurznachricht verhandelte Diskussion mit der Kollegin, Freundin, Komplizin, geschlossen. Worum geht es? Wieder einmal um das Gezerre zwischen Markt und Wirklichkeit, wieder einmal um den eigenen literarischen Weg. Es geht um: Was kannst du? Und nicht um: Wer weiß davon? Es geht um: Wo willst du hin? Und nicht um: Was ist dir möglich? Es geht um: Wer bist du? Und nicht um: Wie möchten sie, dass du gesehen wirst? Auf dem Weg bleiben, den Fokus nicht verlieren, den eigenen, den ganzen, den ewigen Text weiterschreiben. Weiterleben, hinausgehen damit, zurückkommen zu sich, besinnen auf das, worum es geht. Worum geht es?
Dafür haben wir uns entschieden: Schreiben als Beruf. Wir haben uns entschieden, vom Schreiben zu leben, die Entscheidung ist gefallen und jetzt folgt also das Leben. Die Entscheidung war hochtrabend, sie hat sich (keine Überraschung) um sich selbst gedreht, war lange Zeit kühn, Behauptung nahezu, ist irgendwann daran ermüdet, hinterfragt zu werden und zur Tatsache geworden: Schreiben als Beruf. Ich tue den ganzen Tag, was ich will, und nenne das meinen Beruf. Im vierten Jahr stellt sich Routine ein. Ich weiß schon, dass ich nicht produktiver bin, wenn ich mich zwinge, aber blaumachen fällt mir schwer. Ich habe verstehen müssen: Es ist ein praktischer Beruf, denn auch das Nichtstun gehört zum Tun. Das Zuschauen, das Flanieren, das Pausenmachen, das Abstandhalten (zum Text). Das Weiterleben: Die Vorwärtsbewegung im Lebensverlauf. Was alles geschieht: Die Katastrophe. Die Post-Katastrophe. Und schließlich das Schöpfen daraus. Das ständige Zerren an Unglück und Glück: Erstes ist literarisch freilich brauchbarer. Wie verkommen bin ich, weil ich beim Eintritt der Katastrophe an das Schreiben denke und daran, wie sie mir nützen kann? Dass ich Vorteile aus persönlich schrecklichen Situationen ziehe, weil das Schreiben als Beruf auch eine Art Stoßdämpfung im schicksalhaften Pech ist: Wenn die Katastrophe eintritt, fördert das die Arbeit. Dahinter immer die Frage: Wieviel riskiere ich? Wieviel gebe ich preis, womit lebe ich dann, wie sehr tritt ein, was noch nicht eingetreten ist, aber eintreten könnte. Was wird erst wahr und was ist es längst. Die Unlust am Erfinden macht sich schon lange in mir breit. Die Abneigung gegen das Wort „Geschichte“ oder „erzählen“ fällt mir wieder ein. Etwas ist im Gange auf dem eigenen Weg, im eigenen Schreiben. Etwas ändert gerade die Richtung, nein anders: Etwas, das lange nichts miteinander zu tun haben wollte, kommt sich jetzt näher.
Immer dieses Gefühl, dort nicht hinzugehören, wo man mich einlädt, egal wo. Das Unbehagen wird zur Gewohnheit, damit umzugehen ist die Kür. Etwas mit Künsten und ihrer öffentlichen Wirkung heißt die Ringvorlesung, in die ich geladen bin, und beschäftigt sich mit Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst, in der konkreten Einheit mit Soziologie und Literatur. Neben dem Zugang zu meinen Stoffen und möglichen Bezügen zur soziologischen Ausbildung darf ich mich und mein Schreiben kurz vorstellen. Das nennt ein anderer Mensch in einem anderen Zusammenhang an diesem Tag Einfach kurz zu Ihnen. Die Vorstellrunde, die Kurzbiographie. Das letzte Mal, als ich es kurz machen wollte, ist in eine monatelange Arbeit erodiert, die sich unwiederbringlich in mein Schreiben hineingefressen hat. Als mich jemand von den St. Veiter Thomas Bernhard Tagen bzw. der Literaturzeitschrift SALZ fragte, ob ich etwas zu meinem Leseerlebnis Thomas Bernhard sagen wolle, wollte ich nicht. Dafür gab es viele Gründe, aber um der Kürze willen: Der wichtigste war, dass ich aus Schwarzach-St.Veit stamme, die Gegend, in der Thomas Bernhard seine Lunge kurieren sollte, dem Ort, in dem er im Kirchenchor sang, und so weiter. Unnötig zu sagen tue ich mich mit meiner Herkunft nicht leicht, habe es aber bisher immer vermieden, mich literarisch an ihr abzuarbeiten. Genau das wollten sie nun also von mir und ich schrieb, warum das nicht gehe. In meiner Erinnerung schrieb ich zuerst ein paar kurze, entschiedene Sätze, die dann ein paar mehr wurden. Ich schrieb länger, als ein Absagemail konventionellerweise sein soll. Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches: Mein Absagemail wurde abgelehnt. Sie behandelten mich wie ein Kind: „Das überlegst du dir noch einmal.“ Ich war zu meiner eigenen Überraschung aber nicht wütend, sondern beeindruckt von dieser Frechheit, die das im Grunde ja war. Ich überlegte und schrieb dann ein weiteres Absagemail, diesmal ein glühendes, es wurde wirklich sehr lang, ich schrieb jedes Problem hinein, das ich mit meiner Herkunft habe, löschte am Schluss ein paar Namen, schrieb ein paar wieder hinein, kopierte den ganzen Text heraus und schrieb darüber den Titel Schwarzach-St.Veit, nach dem unveröffentlichten Bernhard Manuskript, eine Frechheit also, wie überhaupt diese gesamte Aktion.
Dann luden sie mich ein, nach St. Veit zu kommen und meinen Text vor Germanist*innen vorzulesen. Da waren aber nicht nur Germanist*innen, da war auch meine Mutter. Ich hatte den Text nie mehr durchgelesen und schon gar nicht laut. Ich war überrascht, wie schwer es mir fiel, ihn vorzulesen. Ich hatte den Text falsch in Erinnerung: Ich dachte, er sei einigen gegenüber vielleicht schonungslos und gemein, aber er war nicht schonungslos und er war nicht gemein, er war offen und das war anscheinend spürbar. Warum erzähle ich das? Für mich war mit dieser Aktion etwas sehr Wichtiges auf dem eigenen Weg, im eigenen Schreiben, geschehen. Ich wusste, dass ich etwas begriffen hatte, aber ich wusste nicht genau, was. Ich schrieb noch etliche andere Texte dieser Art, Lehrzeit, Krankheit, Großvater. Das alles war ja immer noch gedacht als eine Arbeit zu Thomas Bernhard und ich wollte noch ein bisschen weiterspielen mit dem Durchscheinen seiner großen autobiographischen Themen, aber ohne Bezüge herzustellen, die es ja nicht gibt. Es waren einfach lustvolle Experimente. Ich schrieb schnell und viel, weil ich merkte, dass hier etwas zusammentraf, was mich meine lebenslang gehegten Abneigungen gegen das Geschichtenerzählen, gegen das Präteritum, gegen die Geste, die Pirouette, das fertig- -alles-ausmalen und dann brav zusammenfalten: Ich entdeckte eine zuverlässige Art zu schreiben und ich nannte sie für mich: Die umstandslose Kunstlosigkeit. Diese umstandslose Kunstlosigkeit wollte ich zuerst weiter pflegen und möglicherweise an ihr herumschleifen, aber ihr Wesen war es, dass es nicht viel herumzuschleifen gab, weil dann sofort alles wieder zur Geste verkam.
In meinen Romanen verfolgte ich bisher etwas anderes, das war eine Art „Schreiben im Negativ“, bei der eine Voraussetzung an die Leser*in gewesen war, zu hören, was zwischen den Zeilen steht. Mein Schreiben in den Romanen lebt von dem, was zwischen den Zeilen steht, aber die berechtigte Frage ist ja: Wenn nur das, was wir ohnehin täglich hören, dort steht, warum soll jemand es dann lesen? Und warum schreibe ich nicht genau das Umgekehrte? Ich habe darauf keine Antwort. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Ich wollte nie erklärend schreiben (was hätte ich auch erklären sollen), sondern immer das hörbar machen, was nicht gesagt wird, was aber auch nicht dort steht, was also zwischen Autor*in und Leser*in gehört wird, wenn das Geschriebene gelesen ist. Es handelt sich also genaugenommen um einen unsichtbaren, stofflosen Raum, der nur existiert, wenn das, was nicht dort steht, gemeinsam gehört wird, ohne es zu hören.
Als ich zu studieren begann, hatte ich schon zehn Jahre lang die sogenannte Arbeitswelt kennengelernt. Ich war gelernte Augenoptikerin und machte eine vierjährige Diplomausbildung in der Begleitung von erwachsenen Menschen mit Behinderung. Ich war oft im Ausland gewesen und kam nicht mit dem Ziel ins Studium, Erasmusreisen zu machen oder einen Freundeskreis aufzubauen. Ich dachte wirklich, ich würde mich jetzt der geistigen Welt widmen, rechnete dabei aber nicht mit dem effizienzalerten Geist, der da bereits um sich griff, wenn die Kommiliton*innen ihre Apples zuklappten und fragten, wie viele Punkte sie nun für diesen ganzen Aufwand hier bekämen. Es ging im Studium um viele andere Dinge, an die ich nicht so sehr gedachte hatte: Es ging um ECTS Punkte und rasches Vorankommen. Man stieg aufs Gas und nicht, wie ich mir erhofft hatte, auf die Bremse. Man redete und arbeitete und schrieb an der Oberfläche, und nicht, wie ich meinte, die ich die Universität ja bisher nicht gekannt hatte, in der Konzentriertheit. Ich begann, ohne das bewusst so zu planen, eine Art geheimes Parallelstudium, denn ich merkte bald, dass ich mich viel mehr dafür interessierte, wie die Soziolog*innen, also die Vortragenden aber auch die Studierenden, miteinander redeten und zu mir oder anderen sprachen. Ich studierte im Grunde wahrscheinlich mehr die Sprache als den Inhalt, was in der Soziologie ja insofern mindestens genauso wichtig ist, als das eine vom anderen nicht zu trennen ist, solange das gemeinsame Ziel die Beschreibung der sozialen Wirklichkeit bleibt.
Soziologie war für mich immer das einzige Studium, das ich mir hätte vorstellen können. Meine Schwester, überhaupt in vielen Dingen das große Gegenteil zu mir, hatte Germanistik studiert, und Germanistik langweilte mich zu Tode. So spät, wie ich erst einstieg, so sicher war ich mir dafür. Zum einen, wie eben beschrieben, wegen der Bemühung um Genauigkeit in der Sprache. Zum anderen, weil das Zuführen dieser Lehre in mir ein Gefühl der Kohärenz herstellte. Ich will versuchen, das zu beschreiben: Der soziologische Blick ist ja meistens einer von außen und ich merkte durch das Studium, dass ich immer schon von außen geschaut hatte, auch wenn ich, wie zum Beispiel in die Lebenswelt in den verhärmten Innergebirgsdörfern, in etwas hineingeboren war, auch wenn ich von außen betrachtet dazugehört hatte. Im Studium fiel mir auf, dass ich diesen soziologischen Blick nicht erwerben musste, sondern ihn, gleich einem Gendefekt, bereits mit mir trug. Auch da, wo ich herstammte, hatte ich stets von außen geschaut und war – vielleicht deswegen- von den anderen immer tief entrückt gewesen, auch wenn ich damals noch zur Schule ging und im Großen und Ganzen mitmachte. Ich war ein Affe unter Affen, aber zugleich war ich immer schon auch die Besucherin vor der Glasscheibe im Zoo, wenngleich ich erst im Studium erfuhr, dass es den Zoo gibt. Im Studium lernte ich, dass man so etwas Teilnehmende Beobachtung nennt, und fand in dieser Bezeichnung eine Art Lebensüberschrift; und weil ich das Leben nie trennen konnte von der Arbeit des Schreibens, war es auch meine Arbeitsüberschrift, kurz: Es war die Art, zu schreiben, und so war es auch die Art, zu denken und zu leben.
Das führt mich zum Was Sie so schreiben und warum, dem Punkt also, den ich eigentlich erzählen soll, die Kurzbiographie, das Was-machst-du-so. Ich weiß heute mehr als jemals, warum ich mich immer so gewehrt habe, gegen das Erzählen. Nichts war mir unsympathischer als das Wort Geschichten. Ich habe das Schreiben damit nie gleichgesetzt und je älter ich werde und je mehr sich der Lauf der Welt und das Schreiben der Anderen, der Zeitgenoss*innen und der Umgang mit der Wirklichkeit und überhaupt die Definition von Wirklichkeit und das Ringen um sie verändert, desto mehr, das wissen wir, steigert sich im Schreiben die Sehnsucht nach dem Echten und Wahren, dem Wahrhaftigen. Dabei ist mir völlig egal, was sich tatsächlich zuträgt, was eine kühne Lüge ist, was ein Fiebertraum. Für mich macht es nicht den geringsten Reiz aus, dass ich behaupten kann, mein zweiter Roman basiert auf einer wahren Lebensgeschichte, denn wer traut sich zu behaupten, zu wissen, was das heißt? Ich jedenfalls nicht. Ich fand diese Frage auch immer maximal uninteressant. Mir geht und ging es immer um etwas ganz anderes, den Punkt, an dem Leser*in und Schreibende sich begegnen, weil sie wissen: Genau so würde es gewesen sein. Es ist wahr, auch wenn es sich nicht zuträgt. Es ist wahr, weil wir wissen, dass es so gewesen wäre.
Hier sollte etwas vom bereits Gesagtem zusammenfließen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es das tut. Das eine ist der Markt und das andere die Wirklichkeit, stand in der Kurznachricht von heute Morgen. Ich bin Teil dieses Marktes geworden, weil ich vom Bücherschreiben lebe, im Moment. Dass das jederzeit vorbei sein kann, und ziemlich sicher einmal vorbeisein wird, wahrscheinlich früher, als ich mir vorstellen kann, weiß ich, aber es ängstigt mich nicht. Ich bin schon oft abgetreten, ich weiß, wie sich ein Abschied anfühlt, und dass es nicht das Schlimmste sein muss, weiß ich auch (Kurzprosa auf ewig). Wenn ich überhaupt einmal alt werde, dann nicht mit diesem Markt, sondern mit der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, an die ich oben versucht habe, mich zu nähern, an die ich ein Leben lang versuchen werde, mich zu nähern anhand der eigenen Arbeit, anhand der Arbeit der anderen, anhand der Verlässlichkeit von weißem Papier. Das alles könnte auch verkürzt gesagt werden, aber nicht von mir. Ich könnte sagen: Ich bin Affe und Besucherin. Ich könnte behaupten, gelernt zu haben, was ein Zoo ist. Ich könnte sagen: Mein Name ist. Ich stamme aus. Ich könnte mir einen Platz zuschrieben, einen Beruf. Ich könnte erklären, wie schwer es ist, einen Anfang zu machen, und von der Angst reden, einmal ein Ende zu setzen. Ich könnte am anderen Ende beginnen bei: Wer bist du? Was bist du? Ich könnte sagen: Meine Arbeit ist das Schreiben, aber wenn ich aufhöre zu arbeiten, schreibe ich auch.
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