Wahrheit und Lüge – oder: Mathildes letztes Plädoyer

Von Beatrix Kramlovsky. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 110

Online seit: 24. März 2023
Beatrix Kramlovsky © Leonhard Hilzensauer
Beatrix Kramlovsky. Foto: Leonhard Hilzensauer

Die Wahrheit ist eine Lüge, behauptet Mathilde. Sie muss es wissen, sie ist geistig geradezu anstrengend fit und zehrt von knapp vierundneunzig Jahren Lebenserfahrung.

Sie war Wissenschaftlerin, kurze Zeit Politikerin, jahrelang Mutter, der Mann ging abhanden, ein Kind wurde von einem grotesken Tod geholt; sie liebt es, Großmutter zu sein, stand bis zu ihrem 68. Geburtstag in einem Labor, erklärt mir Vieles, manchmal ein wenig belehrend, meist sehr anregend, kennt uralte Schimpfwörter, spricht vier Sprachen; eine davon halte nicht nur ich für selbst erfunden.
Immer!, schiebt sie nach und nimmt einen Schluck, bevor sie weiter ausholt.

Unsere Körper lernten das Verstecken von Wahrheiten, bevor wir die Worte fanden, um sie zu benennen und einzuzäunen. Erinnere dich, geh zurück an den Anfang, die Zeit vor dem geschriebenen Wort, die Zeit vor den ersten Handabdrücken an glatten Felsenwänden. Die Jagd beginnt mit einem Vortäuschen von Desinteresse, um die Beute in Sicherheit zu wiegen, völlig egal, ob Mann oder Frau, die laut letzten Forschungsergebnissen sowieso gemeinsam, je nach Gruppenzusammenstellung arbeiteten. Haben wir also diese Fähigkeit aus dem Tierreich schon in den späten Stadien unserer Primatenweiterentwicklung als Fundament für eine Kulturleistung angelegt? Täuschung, um an Essen zu kommen, Täuschung, um eine konkurrierende Gruppe schneller loszuwerden? Natürlich!
Als wir die Durchwanderung der Kontinente begannen, nutzten wir bereits rudimentäre Sprachen oder zumindest differenzierte Laute, die die Verbindungen verwandter Clans vertieften und nicht nur Objekte benannten, sondern Gefühle wie Freude, Angst, Schmerz, Hoffnung, Wut, Zuneigung und Befehl. Man kann das Ich nur als sich von anderen Ichs unterscheidend erkennen, wenn Wissen beginnt, ein Wort nach dem anderen zu bilden, um Missverständnissen auszuweichen.
Der Bereich des Diffusen fing an zu schrumpfen, weil wir das so wollten. Wir hatten Fragen und suchten Antworten. Die Fragen waren vielleicht ehrlich gemeint, die Antworten waren jedenfalls oft verunsichernd und luden zu Interpretationen und Lügen ein. Weitere Worte wurden notwendig. Das Hirn wuchs, Sprachgebilde wuchsen, die Wurzeln der ersten Mythen entwickelten sich. Keine Urgeschichte ohne einen wahren Kern, aber keine Weiterentwicklung ohne bewusste Veränderungen. Lügen. Verdanken wir also unsere Hochkulturen einem tragfähigen Geflecht von Unwahrheiten? Jede Erfindung führt zu einer Geschichte.
Cervantes hat vor fünfhundert Jahren behauptet, die Dichtkunst wäre nichts anderes als ein geniales Blendwerk, in dem wir Wahrheiten unterbringen.
Das Erzählen per se dient vielleicht der Verbreitung von Wahrheit, doch steckt dahinter ein Mensch mit Interessen, Emotionen, – Lügenmotoren.

Wieder greift Mathilde zum Glas, Grüner Veltliner. Sie behauptet, sie fühle das Pfeffrige gern auf ihrer schrundigen Zunge, im schrumpeligen Leib. Das verleihe ihr einen Sekundenglanz.

Bevor du das Große betrachtest, schau dich im Kleinen um. Nimm die eigene Familie als Beispiel. Ich habe die Notlüge zu einem tragfähigen Geflecht entwickelt, um meine Liebsten vor grausamen Realitäten zu bewahren.
Mein Alexander hat gelogen, bevor er noch seinen Mund aufmachte; sein Körper hat ihn verraten.
Bibi nahm es nie so genau.
Erna hat ihre Sicht von Wahrheit verbreitet und behauptet, das diene kaufmännischen Interessen.
Josef hat mit Wörtern jongliert und Inhalte angepasst.
Peter war kriminell, der ist was „Richtiges“ geworden, sogar eine Straße haben sie nach ihm benannt.
Mein Großvater hat auch gelogen, wenn es gerade konveniert hat und er der Frau weismachen wollte, dass seine augenblickliche Form von Liebe dem Himmel zu verdanken wäre.
Alle Menschen lügen und viele von ihnen wollen nichts anderes als ihren Blickwinkel auf die Wahrheit damit schützen. Die Geschichte lehrt, wie es geht. Schau, was auf den ältesten Tontafeln steht: Namen, verbunden mit angeblich großen Taten, die im Licht der Ehre gleißen. Von den erschlagenen Leibern auf den Äckern erzählen sie nicht, von den verbrannten Hütten, den blutroten Bächen, nicht von den Vergewaltigten und den Kindern, die man verschleppte. Außer man konnte einen kompletten Stamm in die Sklaverei schicken, von der das eigene Volk profitierte, sodass das Verbrechen zur Heldentat mutierte. Was hat sich verändert in den letzten sechstausend Jahren? Hört man die Wahrheit des Besiegten ebenso laut wie die des Siegers?
Sei ehrlich.
Das meine ich jetzt nicht als Witz.
Ich lebe fast ein Jahrhundert und bin von Weltkriegen geprägt, vom Kalten Krieg und den ersten Aussichten auf eine atomare Selbstvernichtung unserer Spezies. Du bist erst ein halbes Jahrhundert hier, in einer für uns recht friedlichen Zeit, in der unser Wissen sich ausdehnte, proportional zur Gier, vielleicht in manchen Jahren weniger Kinder starben, weniger Menschen Opfer der Armut wurden, und doch die Kluft zwischen uns wuchs. Obwohl wir alles in kürzester Zeit erfahren, wollen wir nicht alles wissen. Wir lügen uns idyllische Inselchen zurecht, um nicht direkt auf wachsende Wüsten schauen zu müssen. Wir wissen, dass wir das können und andere können es nicht. Was für ein Pech. Nicht allen kann es gut gehen.
Es könnte sein, dass dein Jahrhundert elendiglich endet.
Ja, ich bin mir sogar ziemlich sicher.
Jetzt lüge ich nicht. Eure Kinder tun mir leid. Man kommt oft ungestraft zum Handkuss, aber diesmal führen wir die uns Nachfolgenden sehenden Auges einem alles verändernden Drama entgegen. Wir beschleunigen sogar das Tempo.
Wir verdrängen das Wissen. Wir sind alt. Wir sind müde. Aber ich weiß, dass wir den Boden für Lügen mit weit greifenden Folgen bereitet haben. Kriege werden plötzlich wieder so leicht vom Zaun gebrochen. Man glaubt denen, die von Berufs wegen nur mit Fakten arbeiten, weniger und Schwadroneuren dafür mehr. Versteh mich recht, ich rede nicht von denen, die sich irren oder einer Idee folgen, die sich später als falsch herausstellen wird. Ich rede von wissentlichem in die Irre Führen und dem Aberglauben der zu Schafen Mutierten, die aufpolierte Scheuklappen vorziehen. Würden wir aus der Geschichte lernen, wüssten wir, dass das der breite Weg ins kollektive Verderben ist.
Ich weiß, was du sagen willst! Woher wissen wir denn, was eine Wahrheit sein könnte, wenn alles Lüge zu sein scheint?
Wahrheit hat etwas mit Anstrengung zu tun. Die Suche nach ihr ist zeitaufwändig, kostet Energie, erwartet Neugier und Kraft, mit Enttäuschungen zu leben, und zwar von jedem Einzelnen. Sobald dir ein Fakt als Wahrheit aufgetischt wird, versuche, die Quellen zu finden, die Gegenstimmen zu überprüfen. Das ist nicht immer aufregend, nicht immer tröstlich oder von Erschrecken oder Freude begleitet. Bleibe trotzdem wach. Manchmal ist die Wahrheit bei weitem nicht so unterhaltsam wie die Lüge. Deshalb lieben wir ja gute Erzählungen und überlegen dabei, was könnte wahr sein? Wahr in meiner ganz persönlichen Welt, die sich nicht unbedingt mit der Welt anderer, vieler anderer decken muss. Wahrheiten können wahr sein und sich trotzdem nicht decken. Das hört man nicht gern, weil es zeigt, wie verwirrend vielfältig unsere Welt ist, wie gegensätzlich Kulturen sein können. Denn jede hat für sich recht und verbreitet eine Wahrheit, für die sie mit ihrer Existenz einsteht.
Findest du nicht auch, dass es langsam immer komplizierter wird? Das mit dem Hirn und seinen Synapsen haben wir uns mit genügend Insektenmus anfuttern können. Einfacher hat es das Leben trotzdem nicht gemacht.

Mathilde lacht. Es ist kein zittriges Altweiberlachen. An ihren guten Tagen kann ihre Stimme noch einen Raum voller Menschen durchdringen; da wird sie zur priesterlichen Sibylle, die Schachtelsätze jongliert, ohne ein Verb fallen zu lassen, die Zusammenhänge zerbröselt und seziert und als Kassandra ein Menetekel an die Wand wirft. Lädt man sie heute noch ein, um vor Publikum zu sprechen, ist es meist vor einer Kamera. Aufzeichnungen sind praktisch, wenn einen alten Körper jederzeit das bisschen Kraft verlassen kann. Man schmückt sich noch mit ihr, weil sie tatsächlich beeindruckend ist. Aber Mathilde weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird.
Bald kann sie nicht mehr mit dem Stock gehen, sondern braucht den Rollstuhl für alles. Bald wird ihr wunderschön von Erfahrung gezeichnetes Gesicht nicht mehr nur Klarheit, Güte, Wissen und Humor verraten, sondern fortschreitenden Verfall. Bald wird man vergessen, dass sie zu den gescheitesten lebenden Frauen gehört, die in ihrem ersten halben Jahrhundert um jede Aufmerksamkeit und Achtung kämpfen musste in einer Art, die Männern unbekannt ist. Man wird vergessen, was sie geleistet, erforscht, geteilt hat. Wenn sie stirbt, wird man Reden verfassen und ihre Verdienste aufzählen und sie als Beispiel hinstellen. Es werden neue Lügen über sie verbreitet und aus ihren Wahrheiten neue Varianten erschaffen. Interpretationen sind nichts anderes als erklärende Geschichten, in einem Spiegel verzerrt, in einem Schmelztiegel verbogen und zurechtgeschoben.
Kassandra hat man nie geglaubt.
Warum, so frage ich mich, war Kassandra eine Frau?
Weil Männer die Geschichten niederschrieben, auf denen unsere Kultur fußt?
Mathilde lacht und fragt: ist das jetzt ein Lügenmärchen oder steckt mehr als der berühmte Kern drin?

Ihr Glas ist leer und sie will nicht nachgefüllt haben.
Weißt du, sagt sie, und ich merke, dass sie zum Schluss kommen will, dass eine wichtige Wahrheit am Ende trumpfen soll. Weißt du, wir haben alles gut machen wollen und so Vieles hinterlassen wir nun schlecht vorbereitet. Unsere Generationen werden nicht strahlen in der Geschichtsschreibung der Zukunft. Wir vergehen und andere werden uns beurteilen. Der Blick auf Vergangenes ist zu oft auf Details gerichtet, jedoch anders fokussiert als der durchs Fernrohr auf die Zukunft.
Aber versuche, der Wahrheit verpflichtet zu bleiben und die Möglichkeiten der Fantasie zu nutzen, um sie zu stärken. Erzähle die Geschichten, die sich dir aufdrängen und pflege die Geschichten, die dir geschenkt werden. Das menschliche Leben ist nichts anderes als eine Summe von mehr oder weniger kreativen Darstellungen unser Fähigkeiten, großartiger Wohltaten und Gräuel gleichermaßen. Und vergiss nie: Die Lügerei aus Gier ist die unverschämteste, die den meisten Schaden bringt. Die Lügerei aus Liebe kann eine der schlimmsten sein, denn sie geht immer mit Geheimnissen einher und was verschwiegen wird, drängt an die Öffentlichkeit, egal, wie lange es dauert und was es schon verursacht hat.
Die Lüge kann etwas formvollendet Schönes sein, aber deshalb muss sie nicht gut sein. Mit der Wahrheit ist es ganz genauso.
Willst du noch etwas wissen? Was bleibt? Beides, die Lüge und die Wahrheit und das dichte feine Gespinst dazwischen, wenn wir unser Leben gut mit dem Leben anderer verwoben haben. Dafür bin ich dankbar, all diese Geschichten, von denen ich Teil werden durfte, deren Verlauf ich miterzählt, deren Spuren ich verfolgt und gerettet habe.
Ich mag Menschen, manche sogar besonders.
Und eine Handvoll liebe ich.

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Beatrix Kramlovsky, 1954 in Steyr, Oberösterreich, geboren, studierte in Wien Sprachen und veröffentlicht seit 1972. Publikationen im In- und Ausland, Veröffentlichungen in mehreren Sprachen. Arbeitete als Literaturwissenschaftlerin an verschiedenen Universitäten weltweit im Rahmen von Kulturaustauschprogrammen des österreichischen Außenministeriums. Überzeugte Europäerin. Die wichtigsten Themen für literarische Werke sind Ausgrenzung, Heimatverlust und gewaltsamer Tod. Lebt seit 30 Jahren im Weinviertel. Stipendien, Preise und Nominierungen im In- und Ausland. Letzte Romanveröffentlichungen Die Lichtsammlerin (2019), Fanny oder das weiße Land (2021) und Frau in den Wellen (2022), alle bei hanserblau im Hanser Verlag.

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Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. Jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift VOLLTEXT für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.