8 x 8 Angstübungen

Von Barbi Marković. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XLIII

Online seit: 10. Dezember 2021
Barbi Marković @ Apollonia Theresa Bitzan
Barbi Marković. Foto: Apollonia Theresa Bitzan

1. Ein junger Mann fühlt sich im Job benachteiligt. Er mischt seinen Kolleginnen zermahlene Benzos in den Kuchen, um sie zu verlangsamen.

2. Eine bettflüchtige Patientin reißt sich die Venen auf und auch den Unterleib.

3. Alle checken alles, nur du nichts.

4. Die Bürgerinnen haben Angst und beginnen zu deportieren.

5. Die Toten der Neuen Donau auferstehen.

6. Die Toten der Neuen Donau brennen jedes Jahr die Gastronomiehütten ab, und du bist zuständig.

7. Bakterien überwältigen dich und du stirbst. Die Ärzte denken bis zum letzten Moment, es sei nur psychisch.

8. Du suchst eine Ärztin, aber es gibt inzwischen nur noch private.

9. Eine Frau vertieft sich in Gedanken über ihren Bürojob und stürzt die Treppe runter, bricht sich alles.

10. Eine Frau rettet den Selbstmörder, der sich vor die U-Bahn werfen wollte, aber er bedankt sich nicht aus Rassismus.

11. Menschen leben in Wohnungen, die komplett leer und sauber sind. Sie können ihre Schubladen nicht öffnen. Sie haben nur auf gewisse Bereiche Zugriff.

12. Die Hausmeisterin scannt deinen Einkaufssack.

13. Das hast du alles nur geträumt. Alles. Alles.

14. Das Wildschwein überrascht dich beim Spazieren und hackt dir das Bein ab.

15. Eine Psychologin macht sich Sorgen um eine vergipste Patientin und erlebt nach der Sitzung einen Spontanbeinbruch am gleichen Bein. Das ist nur der Anfang.

16. Du vergisst einen Termin und wirst angerufen, wo du bist.

17. Du hast vergessen, dass du im Schauspielhaus lesen sollst.

18. Du sollst lesen, aber du hast den Text vergessen.

19. Du hast den Text nie geschrieben!!!

20. Alle sind enttäuscht und wenden sich von dir ab.

21. Durch einen hirnlosen Fehler im Sozialverhalten verlierst du alle deine Freunde.

22. Eine Frau erkennt, dass sie schwanger ist, aber die Abtreibung ist nicht ihre Entscheidung.

23. Es gibt einen schrecklichen Unfall mit einem Motorrad.

24. Eine Biologin bekommt trotz Fahrradverbots die Erlaubnis, für eine Studie täglich durch den Lainzer Tiergarten zu ihren Pflanzen zu fahren. Schon am ersten Tag wird sie von einer Gruppe SpaziergängerInnen im Namen der Regel vom Rad heruntergezogen und verprügelt. Sie bekommt keine Chance, die Genehmigung zu zeigen.

25. Jemand hustet jemanden an und überreicht ihm ein schreckliches Virus. Eigentlich reicht ein Blickkontakt für die Übertragung. Alle schauen zum Boden.

26. Jemand kauft eine gut bewertete Kaffeemaschine, die aber durch die Hitze giftige Metalle von ihren Wänden in den Kaffee absondert, und diese Person beginnt die Haare zu verlieren, und ihre Blutwerte sinken, aber sie weiß nicht warum.

27. Tiere werden so behandelt, wie sie behandelt werden.

28. Alle Wiener Gastarbeiter*Innen bekommen zur gleichen Zeit den Anruf, vor dem sie sich seit Jahren fürchten. Eine Person am anderen Ende sagt, dass ihre Eltern verstorben sind und man sie nur zufällig Tage später entdeckt hat. Sie werden außerdem darüber informiert, dass es niemanden anderen gibt, der oder die das Begräbnis organisieren kann. Zugleich werden die Grenzen aus anderen Gründen dichtgemacht, und folglich verwesen die Leichen ihrer Eltern in der sogenannten Region unkontrolliert vor sich hin.

29. Dein bester Freund wird rechts.

30. Dein bester Freund wird Verschwörungstheoretiker.

31. Du hast absolut nichts mehr zu anziehen.

32. Eine Person hebt ihr Kind hoch, damit es den Pfau im Zoo besser sieht, und der schöne Ziervogel springt und pickt dem Kind die Augen aus.

33. Du kotzt und hast Durchfall, und der Zustand hört nicht nach einer Weile auf.

34. Die Bettwanzen werden immer größer und eines Nachts, als sie schon Kakerlakendimensionen erreicht haben, saugen sie dich aus.

35. Das Essen ist vergiftet.

36. Die Reichen gewinnen endgültig. Das Spiel ist aus.

37. Eine Person im Publikum hat keinen Mund unter der Gesichtsmaske, jemand, den du kennst.

38. Irgendwas mit einem Wespenstich im Hals eines Mädchens, oder Schlangenbiss.

39. Eine Frau sagt etwas Sinnvolles in einer Sitzung, aber der Satz wird erst wahrgenommen, nachdem er von einem Kollegen wiederholt wurde. Als wäre sie ein Geist.

40. Menschen werden für wertlos erklärt und dem Tod überlassen.

41. Bei einer Zoom-Konferenz willst du etwas sagen, aber als du drankommst, verschluckst du dich vor Aufregung, dein Hustenzuckerl verstopft dir die Atemwege und du stirbst vor den Kollegenaugen.

42. Ein Opernsänger zieht in dein Haus ein.

43. Etwas völlig Unerwartetes passiert und wirft dich aus dem Gleichgewicht.

44. Jemand kehrt in seinen Heimatort zurück.

45. Die Toten kommen zurück. Sie sind keine Zombies, sondern essen normal. Ihre Körper sind geheilt und größtenteils wieder zusammengestellt. Mehrere Generationen von Toten verlassen den Friedhof und wollen in ihre ehemaligen Wohnungen einziehen. Sie waren vor euch da.

46. Im Hotelrestaurant gibst du einer Katze was von der Fischplatte ab, und der Shrimp verfängt sich in ihrem Hals. Du hörst sie tagelang keuchen in der Nacht. Tagsüber vergisst du es, aber in der Nacht ist sie wieder da, sie keucht immer leiser.

47. Ein Loch öffnet sich und verschluckt jemanden.

48. Ironie wird von einem auf den anderen Tag als unangebracht und beleidigend aufgefasst.

49. Du gehst an einem Bus voller Touristen vorbei und schaust hinein. Vorne neben dem Fahrersitz ist die Tourismusführerin. Du bist die Tourismusführerin.

50. Du wirst entführt, und deine Brille, Dioptrie minus drei, zerbricht. Jetzt siehst du nichts mehr und bleibst bis zum Ende deines Lebens entführt.

51. Alle zwei Stunden kommen E-Mails mit neuen Inhalten für das Projekt, ohne Ankündigung. Kleinigkeiten, die du noch überarbeiten sollst.

52. Du wirst alt und deine Kunst ist überholt.

53. Zehn Jahre schreibst du auf Deutsch, plötzlich fällt dir auf: Du kannst kein Deutsch.

54. Du hast eine Erzfeindin. Eine Person, die in der Gesellschaft aktiv gegen dich arbeitet. Diese beginnt, sich im Freundeskreis einzuschleimen und drängt dich weg. Alle lieben sie.

55. Dein Cousin spielt Computerspiele. Er ist durchsichtig und grün. Mit der Zeit verliert er den Kontakt zur Außenwelt und sieht schlecht aus. Er wird von seinen ehemaligen Schulfreunden und seiner Familie nie wieder erwähnt. Eines Tages stirbt er und wird weiterhin nicht erwähnt.

56. Mann und Frau essen Huhn und Kartoffeln. Auf einmal erblassen sie. Das Huhn schmeckt komisch.

57. Eine Person geht zur Akkupunktur wegen Rückenverspannungen, aber die Praktikerin hat einen schlechten Tag, sie verliert die Konzentration für eine Sekunde und sticht daneben.

58. Alles, was du sagst, ist fad und geht unter. Wie sehr du dich auch bemühst.

59. Dein Roman ist erschienen. Während du das Buch in der Hand hältst, fällt dir ein besserer Titel ein.

60. Jahrelang hast du an deinem besonderen Geschmack gearbeitet, mit dem du dich von den anderen abheben wolltest. Jetzt hast du es geschafft. Was du magst, magst du allein.

61. Jemand macht einen Fehler im Körpermanagement und zerstört sich.

62. Du passt sehr auf deine Ernährung auf, deine inneren Organe glänzen tadellos. Bei einem Abendessen erlaubst du dir, ein Cola zu trinken. Sofort merkst du, dass es ein Fehler war. Du wirst zersetzt.

63. Der Film zeigt deinen persönlichen Horror. Ein Mann bleibt im Felsen stecken und muss sich irgendwas abhacken, um zu überleben.

64. Menschen werden wie Produkte öffentlich bewertet. Ein Mädchen googelt sich selbst.

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Barbi Marković, geboren 1980 in Belgrad, studierte Germanistik, lebt seit 2006 in Wien, 2011/2012 als Stadtschreiberin in Graz. 2009 machte Marković mit dem Thomas Bernhard-Remix-Roman Ausgehen Furore. 2016 erschien der Roman Superheldinnen, für den sie den Literaturpreis Alpha, den Förderpreis des Adelbert von Chamisso-Preises sowie 2019 den Priessnitz-Preis erhielt. 2017 las Barbi Marković beim Bachmann-Preis, 2018 wurde Superheldinnen im Volkstheater Wien aufgeführt. Zahlreiche Kurzgeschichten, Theaterstücke und Hörspiele. Zuletzt im Residenz Verlag erschienen: Die verschissene Zeit (2021).

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.