Was bleibt

Von Barbara Rieger. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 87

Online seit: 14. Oktober 2022
Barbara Rieger © Alain Barbero
Barbara Rieger. Foto: Alain Barbero

Warum habe ich nicht gleich Blumen mitgebracht statt Bier und Apfelstrudel?
Er brauche alle Kalorien, die er bekommen könne, hat die erste Krankenschwester gemeint, und auch die zweite Krankenschwester hat meine Frage, ob ich ihm das Bier und den Apfelstrudel geben dürfe, bejaht, und erst die dritte hat mir dann, nachdem sie das Bettzeug und sein Gewand zweimal wechseln mussten, erklärt, dass er so gut wie nichts mehr bei sich behalten kann.

Vor dem Seniorenheim in der Sonne sitzen ein paar Leute und lächeln, während ich mit den Blumen an ihnen vorbei und hinein gehe, so als wäre ich jede Woche, vielleicht sogar jeden Tag hier bei ihm gewesen. Der Weg durch die Eingangshalle fühlt sich vertraut an. Die Treppe hinauf, den Gang entlang. Es scheint fast normal, zu seinem Zimmer zu gehen, alles scheint normal, bis ich die Tür öffne.

Mein Vater liegt auf dem Boden. Das Krankenhaushemd bedeckt ihn halb. Seine nackten Beine. Um ihn herum die drei Krankenschwestern. Sie sehen mich an. Er sei aus dem Rollstuhl gerutscht. Sie warten auf die Rettung. Sie dürften ihn nicht bewegen. Wahrscheinlich eine oder mehrere Rippen gebrochen. Seine Augen sind offen, er sieht mich an und ich kann nicht anders. Ich gehe auf die Knie, stelle die Blumen auf den Boden und greife nach seiner Hand.

Ich halte seine Hand, als die Sanitäter kommen und ihn fragen, ob ihm etwas wehtue. Ja, sagt er. Ich halte seine Hand, als sie ihn immer wieder fragen, wo es ihm wehtue, und er nicht antwortet. Ich lasse seine Hand erst los, als sie beschließen, ihn alle gemeinsam mit einem Ruck auf die Trage zu heben. Eine Schwester verspricht die Blumen zu gießen, eine andere zischt dem Sanitäter zu, dass mein Vater besachwaltet sei, als würde das irgendetwas erklären, als wäre damit vollkommen klar, wie man sich mir gegenüber zu verhalten habe.

Ich laufe ihnen hinterher. Ich frage, ob ich mitfahren darf, und steige in den Rettungswagen ein, vorne beim Sanitäter. Er lenkt schweigsam und ich habe das Bedürfnis, ihm alles zu erzählen. Dass mein Vater und ich uns heute zum ersten Mal an der Hand gehalten haben. Dass er schon vor einiger Zeit aus meinem Leben gerutscht ist wie aus seinem Rollstuhl.
Aber als wir von der Autobahn ab- und durch die Stadt fahren und das Krankenhaus vor uns auftaucht, habe ich noch immer nichts gesagt. Das Auto hält, der eine Sanitäter steigt wortlos aus und hilft dem zweiten Sanitäter mit der Trage. Sie drehen sich nicht nach mir um. Ich folge ihnen, starre auf ihre Rücken und auf die große Tür, sie öffnet sich. Sie schieben den Vater davon.

Ich habe mich in einen Warteraum gesetzt. Als würden sie meinen Vater irgendwann wieder herausschieben. Als würde er plötzlich wieder auftauchen, so wie er damals wieder aufgetaucht ist. Geheilt. Damals hat das Wort für mich gut geklungen, und meine Mutter hat ihm geglaubt. Für eine kurze Zeit hat sie ihm geglaubt. Mit einem Ruck stehe ich auf, gehe einen, gehe weitere Gänge entlang, stehe vor einem Schalter, stelle Fragen und erhalte keine Antworten. Ich drehe mich um und folge den Exit-Schildern.

Erst draußen schaue ich auf mein Handy. Ein entgangener Anruf von David und eine Nachricht von Chris: Ich hoffe, du findest die richtigen Worte, lese ich, für diesen Abschied. Ein Regentropfen fällt aufs Display. Ein zweiter. Ich stecke das Handy weg und gehe zur Bushaltestelle, steige in den Bus mit der Anzeige Zentrum und Hauptbahnhof, stecke die Streifenkarte in den Entwerter und setze mich ans Fenster. Mein Handy vibriert, es ist so wichtig und schwierig, Abschied zu nehmen, hat Chris geschrieben, sei dankbar, dass du die Möglichkeit hast. Ich bin froh, dass der Bus sich in Bewegung setzt, dass die Regentropfen immer schneller und lauter gegen die Scheiben prasseln, dass alles verschwimmt:

Wie Chris und ich uns nackt gegenübersitzen und ich ihm von meinem Vater erzähle, ihm sage, dass ich die Erinnerungen an ihn an einer Hand abzählen könne. Wie er mir gesteht, dass er gar kein Bild von seinem Vater habe, obwohl er mit ihm zusammengewohnt hat bis zu seinem Tod. Wie ich mir einbilde, Tränen in seinen Augen zu sehen. Wie mein Blick zwischen David und seinem Vater hin und her schweift, wie identisch Davids Hintern und der seines Vaters sind, wie die beiden von hinten nur die Dicke der Speckrolle um die Mitte und die Anzahl der Haare auf ihrem Kopf unterscheidet und wie dieser Unterschied immer kleiner wird. Wie sein Name plötzlich auf dem Display meines Handys aufscheint. Der Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mutter, als ich ihr sage, dass ich zu ihm fahren und mich verabschieden werde, und wie sie schließlich sagt: Ja. Wahrscheinlich ist das gut.

Der Bus fährt in eine Kurve, mein Kopf rutscht gegen die Scheibe, ich lasse ihn dort liegen. Ich sehe Ströme von Wasser und wie ich zum ersten Mal das Zimmer betrete. Seine Armbanduhr auf dem Tisch neben dem Bett. Wie er versucht, sich aufzurichten. Wie ich das Bier aus meinem Rucksack hole und in den Trinkbecher leere. Wie ich den Apfelstrudel aus der Alufolie wickle und auf den Tisch lege. Wie ich behaupte, die Mutter hätte den Apfelstrudel gemacht. Wie er beginnt, mich nach ihr zu fragen. Die Apfelstrudelstücke an seinem Kinn, auf seiner Brust, als ich überlege ihn zu füttern, wie er mich nie gefüttert hat. Wie der erste Schwall Bier aus ihm herauskommt und dann der zweite. Wie das Bier und der Apfelstrudel aus ihm heraus über das Bett und durch das Zimmer spritzen. Wie ich um Hilfe rufe, wie sie rufen, ich soll hinausgehen, und wie ich nicht gehe, nicht gehen kann, sondern bleibe und zuschaue. Wie damals.

Mein Kopf wird unsanft gegen die Scheibe gedrückt, ich richte mich auf, überlege gleich bis zum Bahnhof zu fahren, in den Zug zu steigen, und dann nach Hause, zu David, denke ich, oder zu Chris und ob es irgendeinen Unterschied macht. Der Bus hält in immer kürzer werdenden Abständen, der Regen lässt nach, aber die Leute, die ein und aussteigen sind nass. Ich wundere mich, dass ich trocken geblieben bin. Ich versuche mich in dieser Stadt zu orientieren, in der ich nur einmal war. Für die Zeitspanne von einem Bier habe ich gedacht, er würde sich für mich interessieren. Stadtzentrum, höre ich.

Ich steige aus und gehe zum Hotel, als würde ich mich hier auskennen. Ich stelle mich unter die Dusche, bis kein warmes Wasser mehr kommt. Dann wickle ich mich in ein Handtuch und rufe David an. Er erklärt mir, dass es nicht meine Schuld sei, dass der Vater aus dem Rollstuhl gerutscht ist. Ob ich morgen zu ihm komme, will er wissen, und ob ich wirklich noch einmal hinfahren und mich verabschieden will, ob ich nicht schon genug gelitten habe. Ich behaupte, dass ich erstmal etwas essen und dann weiterdenken würde. Nachdem ich aufgelegt habe, hole ich die übriggebliebene Flasche Bier aus meinem Rucksack, öffne sie und trinke. Warm, süß, geselcht. Damals hat die Mutter die Kotze aufgewischt und das Blut, wessen Blut war es, ich bin nicht mehr sicher.
Wenn du jemanden zum Reden brauchst, melde dich, lese ich auf meinem Handy, jederzeit. Ich gehe zum Fenster, öffne es und atme die frische Luft ein. Ich starre auf mein Handy, auf die Unterhaltung mit Chris, versuche mir vorzustellen, er wäre hier. Ich frage mich, ob er mitgekommen wäre, hätte ich ihn gefragt. Ich tippe: Ich kann nicht, will nicht reden.
Ich gehe ins Bad, trockne meine Haare, ziehe mich an und trinke das Bier, fast auf ex. Ich bin überrascht, wie gut ich aussehe. Ich sollte bei dir sein, schreibt Chris, ja, antworte ich, ich sollte immer bei dir sein, schreibt er, vielleicht, schreibe ich, werfe das Handy aufs Bett und verlasse das Zimmer.

(
Jedes Ficken ist ein Ficken gegen den Tod, habe ich in einem Roman geschrieben. Habe ich zu dir gesagt. Oder du zu mir.
No one fucks as hard as a writer, hab ich kürzlich wieder wo gelesen.
Wir könnten auch sagen: Jedes Schreiben ist ein Schreiben gegen den Tod.
Jede Geschichte ein Versuch, das Unverständliche verstehbar zu machen, das Unerträgliche erträglich.
Jeder Text der Versuch, Schmerz in Lust zu verwandeln.
Und dieser Versuch wiederum selbst ein Schmerz an der Grenze zur Lust und eine Lust an der Grenze zum Schmerz und ist nicht alle Lust Lust an dieser Grenze, denn: Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit ..?
Jede Geschichte ist auch eine Liebesgeschichte, hast du geantwortet. Oder ich dir.
Vielleicht ist es auch nur die richtige Mischung aus Wahrheit und Lüge.
Oder?                                                                 )

Am nächsten Tag kenne ich den Weg ins Hotel. Am Handy eine Nachricht von David: Wann kommst du wieder? und ein entgangener Anruf von Chris. Ich weiß schon, wie lange ich duschen kann, bis das Wasser kalt wird. Ich sehe noch immer gut aus. Ich kenne den Weg ins Krankenhaus und finde den richtigen Ton am richtigen Schalter. Ich hinterlasse meine Telefonnummer. Sie würden mich anrufen, wenn es so weit ist, versprechen sie und schicken mich auf die Onkologie.
Da er sich übergeben hat, sei er in der Isolationszelle, erklärt mir eine Ärztin. Sie dürfe mir keine Auskünfte erteilen, aber sie rät mir, die Nummer vom Sachwalter herauszufinden. Sie hilft mir in den Mantel. Zusätzlich zum Mundschutz muss ich eine Haube aufsetzen und Handschuhe anziehen. Wenn ich fertig bin, soll ich alles ausziehen und in die Mülltonne stopfen, sagt sie mit einem Lächeln. Wenn ich fertig bin, denke ich und gehe hinein.
Der Vater ist noch kleiner und dünner und blasser als gestern, noch weniger, noch schwieriger zu begreifen, wie könnte ich beginnen, hallo, könnte ich sagen oder tschüss, oder ich bin’s, deine Tochter, könnte ich sagen und meine Hand auf seine legen. Zum zweiten Mal. Zwischen uns Plastik. Wir starren uns an.

Wie geht es dir?, fragt er plötzlich, seine Stimme klingt abgehakt, gepresst, als hätte er seine ganze Kraft in diesen Satz gesteckt. Ich nicke, schlucke.
Hast du eine gute Arbeit?, fragt er, seine Stimme klingt etwas sanfter, als ginge das mit dem Reden nun, wo er einmal damit angefangen hat.
Ich selbst kann nichts mehr sagen, kann nur mehr nicken und versuchen diese Tränen zurückzuhalten. Es gelingt mir nicht.
Und einen guten Mann?, fragt er und ich nicke wieder, meine Nase ist zu, ich habe das Gefühl zu ersticken, ich nicke noch einmal, obwohl ich mir nicht sicher bin, weder was David noch was Chris betrifft, ich nicke, weil ich immer einen finde, der gut genug ist.
Und Kinder?, fragt er und ich schüttle den Kopf.
Und wie geht’s der Mutter?, fragt er und seine Stimme klingt wieder gepresst, klingt wie damals am Telefon, als ich abheben musste, weil die Mutter nicht wollte, nicht konnte, nicht durfte, wo ist sie?, will er wissen, damals hat sich die Mutter im Bad versteckt, das Bad war der einzige Raum ohne Fenster, damals musste ich lügen, wann kommt sie?, will er wissen, bald, sage ich, sage ich damals oder heute, wirklich?, fragt er und ich sehe hinunter auf meine Schuhe.
Sie hat einen anderen, oder?
Ich ziehe den Rotz durch die Nase hoch, höre auf zu weinen und sehe auf die Wanduhr. Sie hat einen anderen, sagt er.
Wie ist es möglich, dass sich der Sekundenzeiger so schnell und der Minutenzeiger so langsam bewegt? Die Hand des Vaters zittert, als er sie hebt.
Sag es mir.
Ob die Krankenschwester im Seniorenheim den Blumenstock neben seine Armbanduhr gestellt hat?
Bitte, sagt der Vater und ich sehe ihn an und schüttle den Kopf.
Nein, sage ich und dass ich dann gehen werde, aus dem Zimmer, aus dem Krankenhaus und zum Bahnhof. In den Zug werde ich steigen und zurück nach Hause fahren. Der Vater sagt nichts. Ich sehe, wie der Minutenzeiger einen Sprung macht und ich nehme mir vor, noch fünf Minuten zu bleiben. Der Vater sagt noch immer nichts und ich überlege, ob es irgendetwas gibt, das uns verbindet, irgendeine gemeinsame Erinnerung außer die von damals. Der Minutenzeiger springt weiter. Ob er sich an die Schuhe erinnern könne, frage ich ihn schließlich. Ob er sich erinnern könne, dass ich ihn einmal besucht habe, dass er mir diese Leder-Stiefletten mit hohen Absätzen gekauft hat. Wie viele Männer ich damit abgeschleppt habe, erzähle ich ihm nicht. Der Vater sieht mich mit leeren Augen an, auf einmal bezweifle ich, dass er weiß, wer ich bin. Diese Schuhe, sage ich, habe ich noch immer.
Ich sehe auf die Uhr. Drei Minuten noch.
Ich werde dann gehen, sage ich.
Wann kommt die Mutter?, fragt er, und auf einmal bin ich mir nicht sicher, ob er nicht seine eigene Mutter meint.
Bald, sage ich.
Der Vater beobachtet mich. Wie ich aufstehe und zur Mülltonne gehe. Wie ich zuerst die Handschuhe ausziehe. Dann aus dem Mantel schlüpfe. Die Haube und den Mundschutz abnehme. Wie ich alles in die Mülltonne stopfe und den Deckel wieder schließe. Eine Minute noch. Ein Countdown, würde Chris sagen. Jede Sekunde ist eine zu viel, würde David meinen. Der Vater schweigt.
Ich gehe jetzt, sage ich.
Der Vater nickt.
Tschüss, sagt er.
Er hebt die Hand ein wenig, holt Luft.
Sag deiner Mutter, ich habe sie wirklich geliebt.
Ich nicke. Ich hebe die Hand und lasse sie wieder fallen. Ich gehe. Durch die Tür, aus dem Zimmer, durch die Station und aus dem Krankenhaus, ohne mich umzudrehen, und erst, als ich wieder im Bus sitze, als ich mir wünsche, dass es wieder zu regnen beginnt, als ich mir gleichzeitig Chris und David herbeiwünsche, als ich für einen Moment lang überlege, ob ich der Mutter das wirklich ausrichten soll, wird mir bewusst, dass es das jetzt war.

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Barbara Rieger, geb. 1982 in Graz, lebt als Autorin und Schreibpädagogin in Wien und im Almtal (Oberösterreich). Gemeinsam mit Alain Barbero Herausgeberin des Foto- und Literaturblogs „cafe.entropy.at“ aus dem zwei Foto-Literaturbände hervorgingen. Zuletzt erschien die von ihr herausgegebene Anthologie Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt (Leykam Verlag 2021). Für ihren zweiten Roman Friss oder stirb (erschienen 2020 bei Kremayr & Scheriau) erhielt sie das Wiener Literaturstipendium. Sie ist Dozentin am und Vorstandsmitglied des BÖS –  Berufsverband Österreichischer SchreibpädagogInnen.

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Hier und Heute. 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. 100 Wochen lang, jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.