Farbe bekennen

Von Anna Kim. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXXII

Online seit: 24. September 2021
Anna Kim © EJ van Lanen
Anna Kim. Foto: EJ van Lanen

Vor ein paar Monaten erhielt ich die Anfrage, ob ich einen Offenen Brief unterzeichnen würde, der folgendermaßen beginnt: „Am 13. April machte die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse ihre Shortlist öffentlich. Alle darauf Genannten sind hochverdiente Autor:innen und Übersetzer:innen. Jede:r Einzelne wäre ein:e würdige:r Preisträger:in. Unter den Nominierten befinden sich jedoch keine Schwarzen Autor:innen und Autor:innen of Colour.“ Die Verfasserinnen und Verfasser erklärten, sie fänden die Entscheidung der Jury problematisch, doch es sei keineswegs ihre Absicht, zu „attackieren“, vielmehr „wollen wir ihre Entscheidung zum Anlass nehmen, eine Diskussion zu führen, die in unseren Augen längst überfällig ist: Über institutionelle Strukturen innerhalb der deutschen Gesellschaft, die nicht immer für alle wahrnehmbar sind, aber dennoch immer wirken. Auch im Literaturbetrieb.“
Literatur könnte und sollte „gesellschaftliche Strukturen“ und „herrschende kulturelle Vorstellungen“ in Frage stellen, dafür sei es allerdings notwendig, ihre Vielfalt zu fördern und zu pflegen. „Doch im deutschen Literaturbetrieb gibt es ganz offensichtlich eine institutionelle Struktur, die Schwarze Schriftsteller:innen und Schriftsteller:innen of Colour ausschließt. Kulturelle Institutionen, die fast ausschließlich weiße Autor:innen auszeichnen, verhindern die Weiterentwicklung der vielfältigen Literatur- und Kulturszene in Deutschland. So verfestigt sich ein eindimensionales Konzept von Literatur und Kultur.“ Das Ziel sei eine Kultur, in der „eine Vielheit an Stimmen und Perspektiven Normalität ist.“ Dafür seien Jurys, Verlagshäuser und Feuilleton-Redaktionen notwendig, „die die gelebte Realität der deutschen Gesellschaft repräsentieren“.
Initiiert wurde der Brief von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus Deutschland, Großbritannien und den USA. Einen guten Vorsatz enthielt er auch: Die Unterzeichnenden versprachen, selbst tätig zu werden, in ihren jeweiligen Bereichen bzw. wissenschaftlichem Umfeld, um dem aktuellen Ungleichgewicht entgegenzuwirken.1

Ich las den Brief wieder und wieder; ich wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Einerseits war ich nicht überrascht, ein solches Schreiben geschickt zu bekommen. In vielen Anfragen, die mich erreichen, geht es um diesen Themenkreis. Mal verbirgt er sich in den Schlagwörtern Migration, Migrationsliteratur oder Migrationshintergrund, mal versteckt er sich in einem Korea-, Ostasien- oder Asien-Titel, dann wieder möchte man meine Meinung zu Heimat bzw. Heimatlosigkeit hören. Anfangs war ich jedes Mal überrumpelt, wenn Fragen zu diesem Themenkreis auftauchten, später erwartete ich sie, es ging sogar so weit, dass ich sie beantwortete, selbst wenn sie gar nicht gestellt wurden, ein solch wohl dressiertes Zirkuspferd war ich.

Das Unbehagen, das ich nach jedem Auftritt als Anna Kim, Migrationsliteratin spürte, wollte mich nicht mehr verlassen.

Stichwort Zirkuspferd (eine leichte Übertreibung, ich weiß): Ich galoppierte brav auf die Bühne, zeigte mein Kunststückchen, obwohl es nicht immer um dieses ging, sondern um eine wie mich auf dem Podium, ich wieherte ein paar Mal, dem Publikum gefiel es (oder nicht), und schon war die Show auch wieder vorbei. Dass sich sowohl mein Zirkusakt als auch die Worte, die sich in meinem Wiehern versteckten, immer öfter wiederholten, bemerkte ich nicht nur, ich tat dies bewusst: Ich wiederholte das, was (meistens aufgrund seiner Schlichtheit) funktionierte, das andere ließ ich aus. So verlor das Gesagte zunehmend seinen Inhalt, das Sprechen wurde zu einem sinnlosen Akt, und die Veranstaltungen begannen mich zu quälen. Der Unterschied zwischen der Person, die an den Lesungen oder Podiumsdiskussionen teilnahm, und der Privatperson Anna Kim war bald unüberbrückbar groß; auf der Bühne meinte ich, eine Anna Kim spielen zu müssen, die mit mir nicht viel gemeinsam hatte, bis auf das Geburtsjahr und den Geburtsort. Gleichzeitig war mir bewusst, dass dies nicht nur, aber auch meine Schuld war, ich hatte diese Figur miterschaffen, auch ich hatte ihr die Worte in den Mund gelegt, und ich ließ sie sie aussprechen. Das Unbehagen, das ich nach jedem Auftritt als Anna Kim, Migrationsliteratin spürte, wollte mich nicht mehr verlassen.
Ich tat das Einzige, was ich meiner Meinung nach tun konnte: Ich begann, Einladungen abzulehnen. Es traf sich, dass ich zu dieser Zeit schwanger wurde und aufgrund von Komplikationen nicht mehr reisen durfte.

Der Offene Brief erreichte mich nach fast drei Jahren Bühnen- und Öffentlichkeitsabstinenz. Ich hatte die Zeit nicht genutzt, um über mein Dilemma nachzudenken, im Gegenteil, ich hatte die Zeit genutzt, um darüber nicht nachzudenken, nicht einmal einen Gedanken daran zu verschwenden; einfach ich zu sein, selbstverständlich ich zu sein, sonst niemand2. Das Schreiben ließ es nicht weiter zu, diese Selbsttäuschung fortzusetzen, denn es definierte mich in einer Weise, die ich in dieser Klarheit selten ausgesprochen höre: Es machte mich zu einer Autorin of Colour.

Bisher gab es zwei Arten, wie die Öffentlichkeit auf mein Anderssein reagierte: (1) Sie nahm es zur Kenntnis, zugleich übersah sie es. (Das, dies ist mir im Nachhinein klar, versetzte mich in einen angespannten Zustand.) Geschah dies aus Freundlichkeit? War es der Versuch, mir Gleichheit zuzugestehen? Ich glaube schon; ich glaube allerdings auch, dass dies einer Hilflosigkeit entsprang: Mein Gegenüber hätte auch gar nicht gewusst, wie er diesen Teil freundlich miteinbeziehen sollte und konnte. Damit zwang er mich jedoch so zu tun, als gäbe es nicht den Teil der Gesellschaft, der mich als einen Fremdkörper wahrnimmt. (2) Sie nahm es nicht bloß zur Kenntnis, sie nahm es als das Einzige zur Kenntnis. Ein Gespräch, das unter diesem Gesichtspunkt geführt wird, ist eine Sackgasse. Es nimmt oft die Gestalt einer Inquisition an, denn es geht um die Festlegung, manchmal sogar um die Betonung von Differenzen. Gemeinsamkeiten dürfen am Ende des Abends – als versöhnlicher Ausklang – angeführt werden, stehen aber nicht im Zentrum der Befragung; nicht selten war mir, als wäre ich am Ende des Abends fremder als zu Beginn.
In beiden Fällen, (1) und (2), stellt sich gar nicht erst die Frage, ob man dem Ent-Fremden ein Ende setzen sollte. Und wie.

Als Kind gehörten meine Familie und ich zu den Exoten unter den Ausländern, etliche Jahre später wurde ich zu einer Person mit Migrationshintergrund, und nun sollte ich eine Farbige sein?

Ich setzte mich an den Computer, um den Brief zu unterschreiben, doch etwas hielt mich davon ab. Ich bin keine deutsche Autorin, sagte ich mir, ich kenne mich mit dem deutschen Literaturbetrieb nicht genug aus, um ihn zu kritisieren. Außerdem, erklärte ich mir selbst, ist es problematisch, Begriffe wie colour einfach so aus dem anglo-amerikanischen Raum zu übernehmen, diese Länder besitzen eine andere Geschichte, eine, in der Sklaverei eine wesentliche Rolle spielte, sind somit in Österreich und Deutschland nicht in gleichem Ausmaß anwendbar. Außerdem, schloss ich meine eigenen Ausführungen, bin ich keine Autorin of Colour. Oder bin ich eine Autorin of Colour? Als Kind gehörten meine Familie und ich zu den Exoten unter den Ausländern (die Notwendigkeit, das weibliche Pendant anzugeben, bestand damals noch nicht), etliche Jahre später wurde ich zu einer Person mit Migrationshintergrund, und nun sollte ich eine Farbige sein?
Natürlich stimmen alle diese Bezeichnungen. Mein Geburtsland sowie das meiner Eltern liegt im Ausland, ergo bin ich eine Ausländerin. Am Anfang meiner Biografie steht eine, wenn auch nicht von mir beschlossene, Migration, also besitze ich einen Migrationshintergrund. (Im Laufe meines Lebens kamen zu dieser Migration viele weitere dazu. Im Hintergrund meiner Biografie tummeln sich demnach Migrationen.) Und ja, meine Hautfarbe ist anders als die der Mehrheit in Österreich und Deutschland. Wie genau man diese Färbung nennt, ist Definitionssache; wenn alles, was von einer eher hellen Hautfarbe abweicht, farbig genannt wird, ist meine Haut mit Sicherheit farbig und ich somit eine Farbige.
Die Bezeichnung Ausländerin habe ich gelernt zu übersehen. Migrationshintergrund ist ein Begriff, der genauso hässlich ist wie die Absicht, die in der Bedeutung steckt, doch offenbar bin ich dagegen so abgestumpft, dass es mich heute kaum noch berührt. Das Wort Colour aber löste in mir ein neues Gefühl aus: Ich fühlte mich in ihm gefangen. Es schien ein Netz über mich auszubreiten, von dem ich meinte, mich nur befreien zu können, wenn ich es zerriss –
und nun kommt Corona ins Spiel.

Am Anfang der Pandemie schien die Welt geradezu beglückt davon zu sein, in China die Schuldige gefunden zu haben. In Deutschland, wo ich zu dem Zeitpunkt lebte, herrschte sowieso keine besondere Chinaliebe; es wurde geradezu mit Genuss darauf hingewiesen, wer die Pandemie ausgelöst habe. Dass ein Präsident Trump mit China-Flu und ähnlichen Bezeichnungen Öl ins Feuer goss, muss ich nicht weiter ausführen. In jedem Fall häuften sich die Meldungen, dass Menschen aufgrund ihres ostasiatischen Aussehens attackiert worden wären, im Frühjahr 2020 auch in Europa, nicht nur in den USA3.
Ich hatte schon bemerkt, dass mir Menschen auf den Straßen auswichen, die Straßenseite wechselten und Augenkontakt mieden; ich hatte aber auch dezidiert freundliche Blicke erhalten. Ich hätte nicht sagen können, ob es an der Pandemie lag, dass unser damals einjähriger Sohn, immer, wenn er mit meinem Mann (einem Weißen) unterwegs war, beim Bäcker Brezel und Quarkbällchen geschenkt bekam, mit mir aber nicht, oder ob ich, wenn ich mich in einer unordentlichen Schlange einordnete, einfach übersehen wurde, weil unordentliche Schlangen nun einmal schwer zu überblicken sind. Vielleicht, fragte ich mich, lag es auch an mir, und mein (übervorsichtiges) Benehmen rief erst recht unfreundliches Verhalten hervor?
Mir wurde schmerzlich bewusst, was sich hinter dem Begriff honorary white verbirgt; wie zynisch er ist. Arbitrary white sollte er lauten, sagte ich mir, nicht honorary. Ehre empfand ich schon lange keine mehr, von der Mehrheitsgesellschaft dermaßen ausgezeichnet worden zu sein. Das Konzept honorary white – bei uns nennt es sich Mustermigranten und gut integriert und meint doch bloß assimiliert – täuscht nicht bloß die Empfänger dieser zweifelhaften Ehre, es gaukelt auch der anderen Seite vor, einen Prozess durchlaufen, also abgeschlossen zu haben (den Prozess der Akzeptanz nämlich, der am Anfang der Integration steht und nicht, wie manche glauben, jener der Assimilation) –, obwohl dies nicht der Fall ist. Racial profiling ist seit 9/11 stärker geworden, keinesfalls schwächer; wenn man sich mir gegenüber neuerdings tolerant zeigen will, spricht man mich auf Englisch an und erklärt, wenn ich sage, ich spräche auch Deutsch: „Good for you.“ Haben wir mit den Begriffen aus dem anglo-amerikanischen Raum auch die dort herrschenden Gewöhnlichkeiten übernommen?
Nicht zuletzt bedeutet honorary white auch, sich dafür schämen zu müssen, wenn man diskriminiert wurde, weil jene, die ehrenhalber weiß sind, ja nicht (nie!) diskriminiert werden. Wenn es zu einem solchen Übergriff kommt, ist die Schuld nicht bei den Schuldigen zu suchen – sie gestanden ja den Opfern eine Ehre zu –, sondern bei den Opfern. Diese haben sich offensichtlich etwas zu Schulden kommen lassen.
„Doch im deutschen Literaturbetrieb gibt es ganz offensichtlich eine institutionelle Struktur, die Schwarze Schriftsteller:innen und Schriftsteller:innen of Colour ausschließt.“ Ja, das gibt es, vielleicht handelt es sich (noch) nicht um eine Struktur, sondern mehr um eine Kultur oder eine Gewohnheit: die Gewohnheit nämlich, so zu tun, als existierte im Betrieb kein Rassismus (und auch kein Sexismus). Der Literaturbetrieb ist jener Teil unserer Gesellschaft, der aus jedem Autor, aus jeder Autorin mit nicht weißer Hautfarbe automatisch einen honorary white macht. Damit aber nimmt er an den herrschenden Strukturen teil und führt diese sogar fort, obwohl es nicht notwendig wäre. Denn: Sollten wir, die wir über das Mögliche genauso schreiben wie über das Unmögliche, nicht besser sein? Sollten wir nicht imstande sein, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem Akzeptanz nicht nur versprochen, sondern gelebt wird?
Es hilft nichts, wir leben in einer Welt, nein, wir leben in einem Entwicklungsstadium, in dem der ethnische Hintergrund noch immer eine große Rolle spielt. Wann wir dieses Stadium verlassen werden, lässt sich nicht abschätzen; es hängt auch davon ab, ob und wann alle Betroffenen, die Mehrheit und die Minderheit, Farbe bekennen.

Je öfter ich den Offenen Brief las, desto mehr wurde mir bewusst, wie farbig ich war; wie viel geistiger Aufwand und Selbsttäuschung nötig gewesen waren, um diese Tatsache zu ignorieren. Und mit einem Mal war ich erleichtert, geradezu befreit –
als hätten sich die Ränder des Netzes gelüftet.

Anmerkungen
1) Hier kann man den gesamten Brief nachlesen.
2) Mein Wunsch erfüllte sich nicht ganz. Mein Sohn machte aus mir eine Mutter, mit einer Unausweichlichkeit, die ich noch immer nicht fassen kann.
3) Inzwischen musste Biden sogar eine Taskforce ins Leben rufen, die sich mit Übergriffen auf Asian Americans befasst.

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Anna Kim, geboren 1977. Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Letzte Buchveröffentlichungen: Die große Heimkehr (Suhrkamp, 2017), Über die Dringlichkeit (Innsbruck University Press, 2017), Fingerpflanzen (Topalian & Milani, 2017). Mehr Informationen unter: www.annakim.at

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.