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Von Ann Cotten. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 69

Online seit: 10. Juni 2022
Ann Cotten – Selfie
Ann Cotten – Selfie.

間Klickzahl. Raummaß. 間

Setzt du die Pflanzen ein, während du auf die Familie aufpasst. Ist das Loch immer zu klein – und das ist es – musst du es immer nochmal ausweiten, und nochmal, und wieder. Nie, eigentlich, bis zur Zufriedenheit, da die Erde von den Seiten immer wieder massiv ins Loch zurückrieselt, dann eben ein, zwei, drei Mal, bis du die Geduld verlierst und die Pflanze mit dem topfförmigen Wurzelstock da einfach reinstopfst.

Auf diese Weise setzt du bei der Lektüre, Beurteilung und Gestaltung deiner Umgebung die Spanne deiner Geduld ein. Du verwandelst deine Geduldsspanne sozusagen in ein Raummaß. Sie ist kein Modulor von Corbusier, aber auch keine industrielle Norm. Sie zeigt ungefähr an, was du erträgst. Wozu du dich strecken kannst. Kann sich in einem ermesslichen Maß dehnen und zusammenziehen, wie Holz und andere Materialien. Ja, wenn es fröstlig kalt ist oder furchtbar heiß oder, wie meistens, im 10-Minuten-Takt wechselt, bist du vielleicht ungeduldiger, als wenn bei moderater Temperatur eine unwesentliche Brise die Augenblicke fröhlich an dir vorbeiweht. Widmetest du solche Sternstunden der Wohnungseinrichtung, wärst du von Harmonie umgeben. Aber andererseits, so ein Mensch würdest du eh nicht sein wollen.
Freilich könntest du dich besser in die Gesellschaft fügen, wenn du dich nach deren Maßen zur Orientierung als Ziel zu strecken geübt hättest; wenn dir eine gut entwickelte, vertrauenswürdige Konvention, diese menschenförmige Norm, mit Flötenstimmen raten würde: bis da ist noch zuwenig; bis hier ist es genug, darüber hinaus ist mehr als genug und schaut auch danach aus.
Wenn die Umgebung, freilich, schön wäre; vertrauenswürdig, nachahmenswert.
Da es nicht so ist, bist du auf das angewiesen, was traditionell das Innere genannt wurde, und das nicht existiert. Im besten Fall ist aus dem verfügbaren Material etwas gebaut, was das Hereinströmende zu etwas filtert, was so etwas wie Schönheit, Brauchbarkeit, Kohärenz hat, und das dir ermöglicht, Freude zu erzeugen, für dich und für andere, und weiterleben zu wollen.

間Das Maß. 間

Um das relative ideale Maß zu erforschen, ist zunächst eine entschiedene Maßlosigkeit notwendig, und so kommt dieses schreckliche Paradox, dass die Formuliererinnen weiser Ratschläge oft nicht gerade den Eindruck vorbildlicher Menschen machen. Man ist vom Lernprozess gezeichnet; bei Trial and Error ist es nicht etwa so, dass man den Error links beiseiteliegen lässt: man ist durch ihn durchgegangen. Bei Ermahnungen zum Maßhalten, etwa von mütterlicher Seite, musste ich mich immer fragen: Warum denn – um so zu leben wie du? Fies ist es, nach einem halben Leben feststellen zu müssen, fuck, dieses deprimierende Maß, auf halbem Weg stehen zu bleiben; diese Sturheit, die nachgibt, wenn es schon zu spät ist und der Schaden sich schon andeutet; diese als Mäßigung getarnte Faulheit hat sich im Schatten meiner heroisch maßlosen Herumplantschereien genau so ausgebreitet, als hätte ich es absichtlich gemacht.

Platz hier!            間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間間

Das Wort Aida heißt auf Japanisch Gap, Lücke, und liefert mir endlich eine Ausrede für meine Beteiligung am nostalgisch-trashigen Kollektivfetisch für die Konditoreikette Aida, die bestimmt keine guten Verträge für ihre Angestellten hat, aber Fixanstellungen. Diese Atmosphäre strahlt es aus. Köstlicher noch als die angemessen kleinen, man könnte aber auch sagen, einen piekfeinen Geiz feiernden Mehlspeisen ist die Reibung zwischen dem Kitsch der Opernreferenz mit der menschenfreundlichen Ansage einer Pause.

Hingegen hat der rein rhythmisch-klangliche Gebrauch des Worts Oida seine Funktion als Pufferwort im österreichischen Umgang fest etabliert. Bezeichnet es gelegentlich noch den Gatten oder die Gattin, so markiert es als Sprechakt genau deren Abwesenheit, und wird bei ihrer oder seiner Anwesenheit zu einem für sich stehenden, auf keine Person referenzierenden Ausruf. Ein Bekannter von mir hat in ähnlicher Funktion hochdeutsch „Freundin“ gesagt, aber das hat sich nicht breiter durchgesetzt; wohl hingegen im restdeutschsprachigen Raum „Bruda“, „Schwesta“ (Frauen benutzen häufig beides füreinander) oder „Digga“ (Dicker), was auch sehr hilfreich das Bild eines unverwüstlichen, polsterförmigen Mitmenschen in den Raum stellt. Es sind dies so etwas wie Babyelefanten oder Abstandmaße, Armlängen, die Zuneigung durch Abstand ermöglichen, wo mehr Nähe Fluchtwünsche aufkommen ließe.

Hier könnte ein Poller stehen. Oder Ihre Werbung. Aber blicken Sie einfach auf und denken Sie an Ihre Mutter.

(Ich habe angesetzt, diese Zwischenaktivitäten kursiv zu setzen. Aber sie kamen mir sofort gettoisiert vor. Gerade: Essay, schief: performativer Sprechakt. Das ist, wie wenn ich in einer Aida-Filiale sitze und zuhöre, wie die Mitarbeiterin versucht, die Stoffausgabezentrale zu überreden, ihr den Stoff zu geben, damit sie Sitzpölster für die Stammkunden nähen kann, während draußen die Arbeiter die Pflastersteine für die neu beruhigte Einkaufsstraße mit einer neuartig erscheinenden hydraulischen, rückenschonenden Steineanhebemaschine einsetzen, und ich in meiner viereckigen Blase von verspiegelter Nische als einzige völlig schmähstad, völlig außer Gefecht, völlig nutzlos, tatenlos und gedankenlos bin.)

Als Zeitmaß, also als Puffer, um Zeit zu gewinnen, benutzt man im Deutschen wie im Japanischen, wenngleich mit leicht unterschiedlicher Nuance, den Ausdruck „Ma…“ – zufällig auch die zweite Lesart des Zeichens für Aida. Man sieht darin ein Tor, in dessen Mitte eine Sonne aufgeht, sinkt oder herumhängt oder so – ein Hinweis auf Zeitlichkeit. 間に合う、„Maniau“, die Weile treffen, heißt es, wenn man rechtzeitig kommt. Es ist eine elementare Silbe, die beim Öffnen und Schließen des Munds entsteht, wobei die Äußerung zeitlich rhythmisch gegliedert wird. Nachdem dies bekanntlich die erste Aktion sprechender Babies ist, haben Homonyme dieser Lautung vielleicht nicht so überragende Bedeutung. Maniak und Maniok (die Wurzel), etwa, sind unverwandt. Wenn man also in mehreren Sprachen, um Zeit zu reklamieren und gemischte Gefühle anzuzeigen, „Ma…“ sagt, so verweist das höchstens auf Universalismen. Leute, die Spuren von allen Frühstücken der Menschheit an Kleinkindern suchen, könnten auf die Idee kommen, dass es sich bei diesem offenbar interkontinentalen Ausdruck der Unentschlossenheit um eine abgekürzte Form der Mutteransprache handelt. Der ganze Name Mama wird für echt harte Folterszenen und Todesmomente aufgespart, das hier ist eher das Echo eines nur leicht verunsicherten Seitenblicks auf die vertraute Figur: was macht denn sie daraus? oder eine Besinnung, ein kurzer Blick um sich, ein kurzer Schritt zurück oder vielleicht sogar zwei, um sich der passenden und zielführenden Richtung zu vergewissern.

Eventuell könnte das auch den Überschneidungspunkt von Maniak und Maniok darstellen, der Knolle, deren Wurzeln aussehen wie Wasser in den Beinen: so eine Art Bereitschaft, im einen Fall, sich in ein Hobby oder eine Angelegenheit rückhaltlos hineinzustürzen wie sonst nur als Kleinkind in das Bein der Mutter. Im Fall von Maniok, das auch Kassaba genannt wird, muss man ein bisschen rumlutschen, um die Gemeinsamkeit herauszuforcieren, vielleicht so etwas wie, dass sie wie alle Wolfsmilchgewächse von giftiger Milch durchzogen ist und nur durch Kochen, Trocknen und andere Verarbeitungsformen genießbar wird – wie der Mensch, oder?
間間Onomatopoetische Einlage, vergessen Sie bitte nicht auf die Rückenübungen beim Lesen:

Pirol ist wie Oriole, und etwas anders als Uguisu. Was ist mit diesen liquiden Buchstaben, dem schwarzweißen Lichtschattenblinken der oi Kombination, über das die Liquida fließen wie Bachwasser? Wir wissens, aber könnens nicht sagen. Stimmt nicht, wir sagens eh. Nur nicht mit anderen Worten. Nur mit diesen.

パラノイアParanoiaパラの親

Die Mutter muss als Mutterschiff ein Knotenpunkt der Assoziationen der sie umgebenden jüngeren Mitmenschen sein, aber wer ist sie? Die Art, wie sie sich bewegt; die Dauer ihrer Aufmerksamkeitsspanne, ihre typischen Reaktionen auf alles. Am interessantesten vielleicht, wenn sie sich abwendet, wenn sie einen vergessen hat und wie unbeobachtet agiert. Blitzartige Momente, deren Rhythmus sich einbrennt.
Zugleich müssen Kinder, wenn die Hormone richtig einkicken, an eine sedierte, später ganz willfährig gemachte Figur gewöhnt sein, die, ohne ungeduldig zu werden, mit zeitluxuriöser, verliebter Co-Faszination die Millionen Wiederholungen begleitet, die man gerade braucht, um etwas zu lernen. Fatal. Und diesen gemeinsamen Puls mit der Wirklichkeit, der zugleich eine Abwesenheit von Schmerzen bedeutet, suchen wir durch Anpassung und Manipulation, in Unterricht, Musik, Konversation und Arbeit. Eine Umgebung, die sich an mich anpasst: ein Flauschepullover, ein Memory-Kissen. Entspannung heißt, dass jemand anderer die Zeit vorgibt, gegen den man keinen Widerstand leisten muss, weil dieser Dienst nur für einen da ist. Service-Hotlines, allein der Gedanke, dass sie da sind. Vor Ort Fernsehen, Streams, endless supplies serieller Goodies, harmlose Trigger bis an den Horizont. Man hängt an den Lippen der Lehrerin, des Lehrers, oder des Scrollstreams, und empfindet die zähflüssige goldene Zeit als Fluss, in dem man mitfließt, gegen den man nicht kämpft.
Schicksalshafte, im Leben einmalige Ekstase wurde als das höchste der Gefühle rechnerisch bestätigt, und nun umgibt uns dieses dramatische, rosige Abendlicht in Form jeder LED-Glühbirne, in den Bildschirmen mit herausgefilterten Blautönen, in der nach Auswertung von Umfragen auf das Unterbewusstsein eines Durchschnittskunden, also eines mittelständischen Managers aus England, perfekt abgestimmten Lobby. Sogar in den Werbungen, die die Funktionalität von zusammengebosselten Lernapps aus Vietnam unterbrechen, starrt mich ein Bahnabteil voll rosigem Dunst in Verzauberungsbereitschaft an. Als Kinder von Müttern lernen wir die Kunst, Mitmenschen mit Charme zu hypnotisieren – oder lernen sie nicht. Wir wittern etwas, sehen den fatalen Riss und versuchen, die Kunst zu entlernen, die uns immer wieder uns selbst unsichtbar macht. Wir setzen uns in die hinterste Reihe eines ewigen Klassenzimmers, während eine Lehrerin oder ein Diaprojektor den Kosmos erklärt. Wir suchen den zufälligen, der Optimierung des emotionalen Engagements und der Motivation irgendwie entwischten Spielraum, der erlaubt, müßige und kontraproduktive Gedanken zu verfolgen, und der als Fetisch verhindert, dass man jemals in einer als sinnvoll geltenden Businessform an die Spitze kommt. Stattdessen lebenslange Unwucht garantiert. Wie T. Haberkorn letztes Jahr am IFK referierte, geben bestimmte Typen von ADHS die besten Bedingungen für den maximalen Erfolg auf sozialen Medien ab – allerdings weit abgeschlagen nach der erstplatzierten Bedingung: bereits erfolgreich zu sein, bevor man anfängt.

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Ann Cotten, geboren 1982 in Ames, Iowa, lebt in Wien, Berlin und Nagoya. Studium der Germanistik in Wien, Schriftstellerin. Zuletzt erschienen: Verbannt (edition suhrkamp, 2016), Lather In Heaven (englisch, Broken Dimanche Press, 2016), Jikiketsugaki. Tsurezuregusa (Verlag Peter Engstler, 2017), Fast Dumm (starfruit press, 2017), Was Geht (Sonderzahl 2018), Lyophilia (Suhrkamp 2019). Übersetzerin Englisch-Deutsch, u.A. Joe Wenderoth, Rosmarie Waldrop, Isabel Waidner, Legacy Russell, Nirvana, Adam Green, Liesl Ujvary. Zur Zeit ist sie Junior Fellow am IFK Wien für ein Dissertationsprojekt „Vorarbeiten zu einer transhumanistischen Ästhetik“, in dessen Rahmen sie das vergangene Semester in Hawaii verbrachte.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.