Neulich

Eine Kolumne von Andreas Maier
„Es war die Zeit der Blockaden und der Demonstrationen, und man hatte eine gewisse Übung in den Dingen des selbstgefälligen Widerstands gegen dies und das.“

Online seit: 3. Mai 2018

Es war einmal ein Herbstmarkt in Friedberg, ich erinnere mich, Schallers Festzelt stand groß auf der Wiese, überall Volksmusik, Bier, wie immer, aber auf diesem Herbstmarkt war etwas anders als sonst, es war der Herbstmarkt der geistig-moralischen Wende, und es war Wahlkampf, und der Vorsitzende der CDU, Helmut Kohl, wollte dort reden in Schallers Festzelt auf dem Herbstmarkt in Friedberg in der Wetterau. Das führte zur Versammlung zweier Gruppen, den Anhängern des neuen Kanzlers und den Gegnern desselben. Und wir waren jung und ohne jeden Begriff. Wir gingen dort hin, rein aus Amüsiergründen. Es war die Zeit der Blockaden und der Demonstrationen, und man hatte eine gewisse Übung in den Dingen des selbstgefälligen Widerstands gegen dies und das. Mir saßen die Argumente damals locker im Mund, alles schien mir klar, die Welt war sauber in zwei Hälften geteilt, die vernünftige und die verrückte, die kriegstreiberische und die friedliche, und auf der Seite der Guten stand vor allem immer ich (ich war fünfzehn).

Vor Schallers Festzelt entstand ein erster Auflauf. Die Anhänger Kohls in ihren Mänteln betrachteten uns wie etwas sehr Eigenartiges, wir unsererseits hielten sie natürlich für vollkommen wahnsinnig. Jemand hatte eine Stiege mit Birnen dabei, an jedem Birnenstiel war ein Fähnchen angebracht, darauf stand: Birne – gut zum Essen, schlecht für Hessen. Alle lachten wir. Es war ja überall Birnenkult in der Bundesrepublik damals. Später entstanden hitzige Debatten am Eingang, es ging um den Amerikaner und den Russen etcetera, man kann das heute gar nicht mehr aufschreiben, so eigendynamisch waren diese sinnlosen, völlig sinnlosen Gespräche, in denen es uns jeweils so vorkam, als ginge es um die ganze Welt.

Ein immer größeres Gedränge entstand vor Schallers Festzelt, auf dem Boden stand die halb entleerte Birnenstiege, und plötzlich fuhr in ziemlich hohem Tempo ein Mercedes durch die Menge. Das kam uns unglaublich vor. Der Mercedes hatte ein genaues Ziel: die Stiege. Er walzte sie platt und war schon wieder vom Platz vor dem Festzelt verschwunden. Wir waren dankbar schockiert und wussten umso genauer, wie es um den Feind und seine bürgerliche Fassade tatsächlich bestellt war. (Das Wort bürgerlich ging uns damals besonders gut über die Lippen.)

Die Stimmung stieg. Wir waren entschlossen, grimmig. Mit der Birne in der Hand wollten wir nun in das Zelt. Allerdings musste nun jeder seine Birne an der Garderobe abgeben, es handelte sich bei den Birnen, sagte man, um potenzielle Wurfgeschosse. Nun gut, also erhielten wir alle Garderobenmärkchen.
Das Geschehen während der Rede, im Nachhinein erinnert: ein Rausch aus Dumpfheit, Rauch und schalen Farben. Kohl sprach wie immer damals von Frieden und Freiheit, ich rief etwas dazwischen, es entwickelte sich ein kurzer Wortwechsel mit dem Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Partei Deutschlands, dann kamen die Saalordner, zogen uns von den Tischen herunter, auf denen wir standen, drohten uns mit der Zeltstange etcetera, andere von uns verbrannten in diesem Mief kleine Deutschlandfahnen, die irgendwelche Funktionäre vorher verteilt hatten. Zwei Punks begannen sich auf wilde Weise zu küssen. Empörung allerorten und am Ende: Deutschlandlied. Johlend zogen wir aus dem Saal, ja, ich muss sagen: wie auf ein verabredetes Zeichen hin sprangen wir sofort alle auf, hielten uns die Ohren zu und rannten aus Schallers Festzelt hinaus. Das heißt, zuerst holten wir noch unsere Birnen von der Garderobe ab.

Ich kann mich erinnern, dass irgendwer von uns einen großen Stoß Deutschlandfahnen aus dem Zelt mitgenommen hatte und damit irgendwo in der Stadt ein fünf Meter großes Hakenkreuz ausgelegt hatte, mitten in der Nacht. Ich kann mich erinnern, dass eine Schulkameradin von uns, die während Kohls Rede abseits von uns saß, nicht zum Deutschlandlied aufstand und es auch nicht sang, sodass man sie vom Stuhl herunterzog und ihr Ohrfeigen ins Gesicht schlug. Ich kann mich erinnern, dass wir uns damals über alles völlig klar waren. Worin diese Klarheit bestand, daran kann ich mich allerdings überhaupt nicht mehr erinnern.

Ich weiß auch nicht, wann ich zum letzten Mal das Wort ‚wir‘ gesagt habe. Irgendwann habe ich aufgehört, es zu verwenden.

Diesen Text habe ich vor Urzeiten geschrieben, da gab es noch gar keine Zeitschrift Volltext. Deshalb beginnt die Kolumne diesmal nicht mit „Neulich“. Da aber neulich Helmut Kohl gestorben ist und besondere Anlässe besondere Wirkungen hervorrufen, weichen wir diesmal von unserer Regel ab.
Übrigens habe ich diese Szene bereits in meinem vorvorigen Roman Der Ort wiederverwertet. Dort musste sie aus gegebenen Gründen aber im Frühjahr angesiedelt werden, denn mein Protagonist war verliebt, und wenn meine Protagonisten verliebt sind, ist immer Frühjahr. Im Frühjahr gibt es allerdings keine Birnen, deshalb musste ich im Roman auf Salatköpfe ausweichen. Literatur hat mit Wahrheit nichts zu tun.

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Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Er veröffentlichte im Suhrkamp Verlag die Romane Das Haus (2012), Die Straße (2013), Der Ort (2015), Der Kreis (2016) sowie die Kolumnensammlung Mein Jahr ohne Udo Jürgens (2015). Zuletzt erschien sein Roman Die Universität (Suhrkamp).