Andreas Maier: Neulich

Neulich wurde mir bewusst, dass ich alt geworden bin.

Online seit: 23. Januar 2018

Neulich wurde mir bewusst, dass ich alt geworden bin. Dinge, die ich früher gern gemacht hätte, aber möglicherweise peinlich fand, sodass ich sie nicht machte, tue ich jetzt einfach. Zum Beispiel endlich hemmungslos über die Nachgeborenen, die neuen Generationen ablästern. Nein, ablästern ist schon zu jugendhaft, zu modern gesagt. Ich sollte lieber sagen: Endlich über sie den Kopf schütteln. Den Unglauben über die heutigen jungen Menschen zeigen. Greise, so wie ich sie noch erlebt habe, lästern nicht ab. Greise, so wie ich sie noch erlebt habe, kennen das Wort ablästern gar nicht. Greise, so wie ich sie noch erlebt habe, schütteln über Worte wie „ablästern“ nur ungläubig den Kopf.

Neulich habe ich sogar gesagt, Autoren wie ich sterben nun einfach aus, und sehr bald gibt es sie gar nicht mehr. Autoren wie ich, die noch ganz für sich allein geschrieben haben wie Autisten, und zu denen dann das Publikum kam wie die Fee, die sie mit dem Zauberstab berührte, und plötzlich war man öffentlich.

Das ist natürlich völliger Unsinn, aber es lässt sich wirklich prima so reden: Früher hat man sich noch um ein Werk gekümmert. Also ich meine damit: jemand wie ich hat sich früher noch um ein Werk gekümmert. Menschen wie wir schrieben nicht einfach nur Bücher, damit man sie liest und verkauft, nein, wir hatten immer ganz anderes im Sinn. Wir schrieben diese Bücher in erster Linie für uns selbst, wir dachten noch an den Kleist’schen Satz, durch eine schöne Anstrengung, eben das Schreiben, mit uns selbst vertraut zu werden. Früher hießen die Verleger noch Siegfried Unseld oder Gottfried Bermann Fischer oder Peter Suhrkamp, und früher sagten noch die Verleger namens Siegfried Unseld oder Gottfried Bermann Fischer oder Peter Suhrkamp, dass sie keine Bücher verlegten, sondern Autoren, und damit also Werke. Wie wollten wir denn früher auch vor dem lieben Gott oder der Ewigkeit dastehen außer eben mit unseren Werken?Andreas Maier – ZitatNein, wir wollten früher nicht die Welt verändern. Wir wollten keine Klassiker werden. Aber wir hatten ja gar keine anderen Muster. Wir hatten gar keine andere Wahl. Uns hatten noch ganze Autoren ganze Werke vorgelebt, von Platon über Vergil bis hin zu Dante, Grimmelshausen, Hölderlin und Wilhelm Busch. Heldisch hatte Thomas Mann die Rolle angenommen, die seit Goethe vakant war, nämlich die Rolle Goethes, also des Praeceptors unserer Nation in literarisch, philosophisch, ethisch, kulturell und anderweitig bedingten Dingen.

Wir gingen auch nicht in Schreibschulen. I wo! Hildesheim, Leipzig, diese Städte waren damals noch gar nicht entdeckt! Wir wohnten gleichsam noch in Lehmhütten, in einer Heidegger-mäßigen Eigentlichkeit, und wenn wir schrieben, war das noch wie eine Andacht vor dem kleinen, einfachen Altar in der Ecke unserer Lehmhütte.

Heute wohnen sie in Hochhäusern, metropolisartig, überall Verkehr, metaphorisch gesprochen.

Früher war auch alles langsamer. Ich bin heute noch immer langsam. Neulich bin ich von Schreyahn nach Lüchow gefahren, sieben Kilometer, mit dem Auto, meine erste Autofahrt seit unzähligen Jahren, ich habe den Sitz nach vorn gemacht, so weit es ging, und hing mit dem Gesicht direkt hinter der Windschutzscheibe. Ich fuhr ganz langsam …

Der liebe Gott hat mich nun 46 gemacht. Früher rauchte ich. Was war das Leben wild! Mein erstes Mädchen war 15. (Ich meine Sex.) Heute gibt es zum ersten Mal Negativzinsen in meinem Leben. Das habe ich der EZB zu verdanken, die es früher auch nicht gab. Heute mittag habe ich versucht, von einem iPhone aus, das einem Freund gehört, irgendwen anzurufen. Ich kann darauf nicht einmal wählen. Kaum komme ich mit dem Finger falsch auf den Bildschirm, passiert etwas, und ich weiß nicht, wie zurück. Mir fehlt es inzwischen an den gängigen Kulturtechniken.

Neulich, als ich nach Lüchow fuhr, parkte ich mikrobisch langsam dieses Auto, es war geliehen, vor einem Supermarkt, Edeka, dann ging ich da hinein, kam mit einem vollbepackten Einkaufswagen heraus, schob ihn über den Parkplatz zum Auto, öffnete den Kofferraum und dachte, noch weißt du immerhin um diese Kulturtechnik. Alle anderen um dich herum führen sie jeden Tag aus, diese Kulturtechnik des Auto-Supermarkt-Einkaufswagen-Einkaufs. Schon dieses Wort: „Super“-Markt!

Früher sind wir nie in Supermärkte gegangen! Früher war auch nichts „super“. Früher haben wir auch nicht für Magazine wie VOLLTEXT geschrieben. Früher war jedes Wort ein Heiligtum.

Als ich zu schreiben anfing, schrieb ich zunächst nur von denen, die zu schreiben anfingen, aber bald einfach wieder aufgaben. Die, die aufgaben, waren immer die Guten. Die, die weiterschrieben, waren die Schlechten. Die eigentlich Unphilosophischen. Die, die auch einfach nicht genug litten. Ich gab bei diesen Texten immer sehr schnell auf und hatte zunächst eigentlich auch gar kein anderes Thema. Ja, damals war ich noch Idealist. Später war ich dann nur noch Schriftsteller. Das Schweigen war das Heiligste, das Scheitern. Das Zweitgrößte immerhin war: das Werk. Früher schwiegen die ganz Großen, und wenn nicht, verfassten sie wenigstens ein Werk, ein richtiges, eine Lebenssumme, ein System, eine Welt, wie Proust, wie Thomas Mann, wie Gottfried Benn. Heute bin ich alt und schaue auf mein Werk zurück. Das sieht dann so aus:

Ich nehme meinen Gehstock, stöckele zum Zweitausendeins hinein und sehe mein Werk, teilverramscht. Da liegt es, je zwei Bücher im Doppelpack für nur 5 Euro achtzig. Früher hätte man dafür noch zusammen 37 Euro gezahlt. Einmal kam ich zu Arnold Stadler, dem hatten sie damals die Sehnsucht verramscht. Ich kam zu ihm nach Sallahn ins hannoversche Wendland und sah die verramschte Sehnsucht. Was hatte Arnold Stadler bloß getan? Er hatte die gesamte verramschte Sehnsucht gekauft, damit es keiner sehe, wie sie verramscht war, und da lag sie nun herum im ersten Stock, seine verramschte Sehnsucht. Es brauchte ein ganzes Zimmer für die verramschte Sehnsucht.

„Früher war es Sehnsucht, heute ist es Heimweh.“ (Arnold Stadler, Sehnsucht).

Neulich ist mir bewusst geworden, dass ich alt geworden bin. Ich habe jetzt weniger vor mir und den Hauptteil eher hinter mir. Ich sehe mir selbst beim Aussterben zu. Oder, wie Nick Cave mal sagte: Es mache ja in gewisser Weise sogar Spaß, durch Ruinen zu laufen. Mit den Ruinen meinte er sich selbst.

Als ich in das Auto stieg, um zu dem Edeka-Markt zu fahren (noch wenige Tage zuvor hätte ich sicherlich ausgeschlossen, für den Rest meines Lebens jemals noch zu einem Edeka-Markt zu gehen, ich suche solche Märkte seit mindestens zehn, fünfzehn Jahren nicht mehr auf, und schon davor nur sehr unfreiwillig), dachte ich, das verjüngt mich bestimmt, wie eine Frischzellenkur. Ich dachte: Mal wieder wie früher so mit dem Auto über die Landstraße und dann in den Edeka hinein, schwungvoll den Einkaufswagen durch die Tür geschoben und einfach mal so wie alle anderen sein.

Der Ausgang war ernüchternd. Ich war, zu Hause angekommen, völlig erschöpft und musste mich erst einmal hinlegen. Seitdem steht das geliehene Auto vor der Tür wie eine Bedrohung. Es ruft: „Komm! Lebe! Fahr mich! Die Welt wartet!“

Man hat in meinem Alter auch nicht einfach noch mal so Sex mit Fünfzehnjährigen. Es ist auch nicht anzuraten. Nicht nur weil es verboten ist. Sondern weil es einem anschließend noch zehnmal schlimmer gehen dürfte als mir nach jenem Edeka-Einkauf. Man lernt: Früher war das Leben ein Hochleistungssport. Nur dass man es nie gewusst hat. Früher konnte man ja alles, ich kann mich an Zeiten erinnern, da gab es manchmal zwei, drei Mädchen und Supermärkte am gleichen Tag. Ich konnte das!

Seit Monaten sage ich zu meiner Frau, das Leben ist ein Hauch. Gestern schenkte ihr Arnold Stadler ein Arnold-Stadler-Buch, ich schlug es auf, Tohuwabohu, und las: Das Leben ist ein Hauch. (Kohelet).

Früher konnte ich noch sagen: In der Mitte des Lebens. Das geht nun auch nicht mehr. „Früher wollte ich alt sein, jetzt habe ich nur noch ein Werk.“ (Arnold Stadler, übersetzt). Ein Werk, teilverramscht bei Zweitausendeins. Einstmals waren wir.

Heute sind wir nur noch.

 

Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main. Zuletzt
veröffentlichte er im Suhrkamp Verlag die Romane Das Haus (2012) und Die Straße (2013).

Quelle: VOLLTEXT 2/2014 (20. Juni 2014)