Forêt de Saint-Germain-en-Laye

Von Andrea Grill. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XLVIII

Online seit: 14. Januar 2022
Andrea Grill © L.E.L. Rajmann
Andrea Grill. Foto: L.E.L. Rajmann

Vielleicht ist es ja so: Über den allgemein bekannten sieben Hautschichten hat der Mensch als achte Schicht eine Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem, wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt: ‚Das hat doch niemand gewollt!‘
(Christine Nöstlinger)

Irgendwann, als er es endlich unbeobachtet benützen darf, sucht er im SmartLIVE nach dem Fluss, seinem Fluss. In dem, wie er weiß, seine Mutter täglich badet, nein: schwimmt. Er sucht den Fluss Mat, von dem er sicher sein kann, er hat ihn erlebt, er ist in dieser Welt; und findet nichts.

„Nicht gefunden. Nicht gefunden“, wiederholt das Gerät mit einer Stimme, die ihm angenehm ist, die er sich ausgesucht hat, eine Jungenstimme, pfiffig und klar, aber kein bisschen quietschig, so wie Balaban selber gern sprechen würde, kräftig, melodiös, mit feinen Untertönen. Wo ist der Fluss hin? Ein ganzer Wasserlauf kann doch nicht einfach innerhalb weniger Jahre versickern, vom Erdboden verschwinden? Balaban sucht nach der Stadt Mat und die Einträge haben sich geändert, keine Rede mehr von Wasser.

„Verarmt“, sagt die SmartVOICE, „verlassen“, fährt sie fort, „nur mehr wenige alte Menschen verblieben“. Die Vorsilbe -ver echot in Balabans Gedanken, er sucht nach Flüssen überhaupt und findet ein Ergebnis, das ihm den Atem stocken lässt. „Flüsse sind weitgehend von der Erdoberfläche eliminiert worden, erstens weil dort aufgrund steigender Temperaturen die Verdunstung so hoch wurde, dass zahlreiche Ströme auf dem Weg von der Quelle bis ans Meer austrockneten, was zu einem frappanten Absinken der Wasserspiegel führte, trotz schmelzender Polkappen, zweitens, um ein und für allemal auszuschließen, dass jemand hineinfällt und ertrinkt.“ Dieses Vorhaben habe innerhalb kürzester Zeit realisiert werden können, einfach weil die Weltpolitik und die internationalen Konzerne bereit dazu waren und sich einig, das habe zu geschehen und absolute Priorität. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Welt seien nicht sonderlich dazu befragt worden, aber man habe ihnen suggeriert, das wäre, was auch sie absolut wollten. Ein Land sei dabei Vorreiter gewesen und mit gutem Beispiel vorangegangen, nämlich die Gegend um Mat. „Deine Heimat“, unterbricht die angenehme Stimme ihren Vortrag, als spüre sie Balabans Erschrecken und Zweifel. „Ja, die spüre ich“, bestätigt die SmartVOICE, „denn ich messe deine Gedankenströme und berechne, was du denkst, ziehe meine Schlüsse.“
Balaban hätte das Gerät gern an die Betonwand der Baracke gepfeffert, hätte es in zahllose Einzelteile zerspringen sehen wollen, aber er weiß, die Zerstörung des Dings ist streng verboten, er würde derart bestraft, dass er es wahrscheinlich gar nicht überlebte. Zudem will er mehr erfahren, es muss doch möglich sein, dieses Gerät zu überlisten. Es ist schließlich nur ein Ding, soviel ist von Helenas Erziehung in ihm übriggeblieben, Dinge sind besiegbar.

„Du bist nicht so klug, wie du denkst“, kommentiert die SmartVOICE in freundlichem Ton, „du fragst dich, was suggerieren heißt und absolute Priorität, befrage doch meine Wortdefinitionslisten, betrachte die erklärenden Videos.“

„Gleich schalt ich dich ab.“ Balaban hat sich gefasst. Nur noch Nachschauen, was aus den Flüssen geworden ist, wo diese Wassermassen sich jetzt befinden. „Wenn du meine Gedanken liest, suche, was ich mich frage, du Mistding, du lebloses Metallzeug.“

„Jetzt hast du irgendwie vage gedacht, Balaban.“

„Mach dich nicht lustig, ich habe dich noch immer in der Hand und kann dich jeden Moment zerschmettern.“
„Davor wirst du dich hüten, Engelchen“, flötet die sympathische Stimme.

Balaban fühlt Tränen der Wut aufsteigen, unterdrückt sie, er ist schließlich fast elf.

„Flüsse!“, befiehlt er dem Gerät, „Sag schon, wo die Flüsse sind.“

„Flüsse werden großteils direkt an der Quelle in feinen Kapillaren aufgefangen und in absolut dicht isolierten Systemen, aus denen kein Molekül verdunstet, dorthin geleitet, wo sie gebraucht werden: Großstädte, Getränkefabriken, allen voran die Betriebe Coca-Cola und Rauch, Brauereien, Kühlanlagen, Autowaschanlagen, Whiskeyhersteller, Textilfabriken, und in die Badezimmer und -toiletten von allen, die welche besitzen. So geht kein Tropfen verloren, ein Teil jedes Flusses gelangt freilich immer noch in die Ozeane, sie sind da wie gehabt, zumindest an der Oberfläche. Von den bislang üblichen Hobbies, die offene Flussläufe verlangten, Mäander oder Ästuarien, wie Rudern, Kajaking oder Vergnügungsfahrten auf Schiffen, mit dem alleinigen Zweck, die Ufer der nun obsolet gewordenen Flüsse zu bestaunen, von diesen Beschäftigungen ist man abgekommen, die Regierungen haben sie als zu riskant eingestuft und verboten.
Die Kapillaren, die innerhalb von Rekordzeit über ganze Kontinente verlegt wurden, gesponsert von den Konzernen, die davon profitieren, dienen im Nebeneffekt auch der Festigung des Erdbodens dort, wo die Erdkruste ansonsten von der Erosion bereits völlig abgetragen worden wäre.“

„Aber wo schwimmt jetzt meine Mutter?“ Der Bub kauert im Staub an der Wand der Baracke, in der er schläft, er weiß nicht mehr, ob er spricht oder denkt, die ganze Welt ist also trockener als dieses Camp? Nirgends kühlt ein Strom, trägt dich im Aufblasreifen schwebend zur nächsten Biegung? Überall Trockenheit und das einzige Nass spritzt aus Duschen? Eigentlich wäre ihm sehr recht, wenn ihn jetzt jemand schlagen würde.
„Die Menschen haben Strömungsbecken in ihren Häusern. Während sie sich darin bewegen, ziehen in den Raum projizierte theoretisch mögliche Aussichten vorbei, passende Gerüche werden versprüht, nach Kräutern, salzigen Tonerden, zertretenen Muscheln, heißem Kies, sich im sandigen Boden vergrabenden Fadenwürmern. Niemand ginge heutzutage mehr in ein enormes wassergefülltes Becken mit unzähligen Fremden und zahllosen unbekannten Krankheitserregern. Deine Mutter tangiert das nicht mehr, deine Mutter ist zu ebenfalls unzähligen, aber sterilen, Aschenteilchen geworden.“

Von dem Tag an, da sie ins Camp eintreten, bekommen die Kinder täglich sechs bis sieben Stunden Filme zu sehen. Videoschauen ist ihre Hauptaufgabe, es sind Filme aller Art, Romanverfilmungen und Dokumentationen, Interviews, Sitcoms und Serien, meist mit 3-D-Erlebniseffekten, ihre dazugehörigen Brillen haben die Jungen an Bändern um die Hälse hängen, der Name ihres Besitzers ist an der Innenseite des linken Bügels eingraviert, damit sie sie nicht verwechseln.

Tiere kommen in den Filmen zum Leidwesen Vieler kaum vor, Pflanzen schon gar nicht, beziehungsweise höchstens als Dekor oder etwas, das die menschliche Speisekarte bereichert. Die Jungs schauen trotzdem gern, das Core-Team hat hier pfeilgerade ins Schwarze getroffen mit seiner Strategie. Abgesehen von einander gibt es nichts, was die Kinder mehr fesselt als Filme und da sind längst nicht unbedingt die ihre Favoriten, bei denen Mitmachen möglich und erwünscht ist, wo sie selber in die projizierten Kostüme schlüpfen können und einander auf der Leinwand neben professionellen Schauspielern bewundern, oder die, bei denen sie sich bewegen, rennen, springen, kämpfen, nein, viele Buben lieben gerade die Videos, bei denen sie sich zurücklehnen können, einfach nur schauen, was passiert. Ab und zu schläft einer ein, obwohl sie wahrlich genug Zeit zum Schlafen haben; um sieben Uhr abends ist Bettruhe, vor sieben Uhr morgens darf keiner den Schlafsaal verlassen.

Ein Film ist Balabans Liebling, es ist ein sehr alter, aus der Zeit, als noch nicht einmal seine Mutter geboren war. Die Geschichte spielt in einem Land, von dem er zuhause als kleines Kind schon gehört hatte: Italien. Die Protagonist*innen sind unfassbar großartig gekleidet, wie lebendig gewordene Figuren auf historischen Gemälden, über die es ebenfalls ab und zu Filme zu sehen gibt, sie wohnen in einer herrlichen Villa, fast ein Kunstwerk oder eine Kirche, aber dort wird gekocht und Klavier gespielt, es geht um eine Familie mit drei Kindern. Der eine Sohn ist aber mit der Mutter besonders eng; seine Schwester liebt Frauen und seine Mutter verliebt sich in seinen besten Freund, der Koch ist und die wunderbarsten Gerichte aus seinen Töpfen auf die Teller zaubert – Essen, das aussieht wie Spielzeug. Welchen Effekt solche Speisen auf die Menschen haben, wie sie sie bezaubern und verzaubern, zeigt sich im Film ganz deutlich. Keiner in dem Film ähnelt auch nur eine Spur den Leuten, die Balaban im Camp umgeben. Oder doch womöglich ein wenig der Vater des Knaben, der so symbiotisch ist mit der Mutter, er könnte durchaus ein Teil des Core-Teams sein und würde dort nicht sonderlich hervorstechen. Der Liebhaber der Mutter, der Koch, hat ein Haus irgendwo im Gebirge, dort sieht es aus wie in Mat. Zu seinen bevorzugten Szenen, die er sich am liebsten in Wiederholungsschleife hunderte Male anschauen würde, gehören die Sequenzen, wenn da hinaufgefahren wird, durch Felder und Wälder, auf schmalen Straßen, die Mutter in leuchtend orangefarbigen Hosen, der junge Mann in schmutziger Arbeitskleidung wird sie ihr bald abstreifen. Die Mutter in dem Film ist die erste Frau, die Balaban nackt sieht, nicht ganz, aber vom Bauch aufwärts, und er bildet sich ein, sie ähnelt Helena, wie er sich nicht an sie erinnert, im hintersten Winkel seines Gedächtnisses klickt etwas, wenn er diese Frau in ihren farbenprächtigen Kleidern sieht.

Das Ende der Geschichte versteht er nicht. Aber es fasziniert ihn.

In der Villa findet eine große Party statt, der Koch bereitet das Festmahl zu, es gibt die Leibspeise des Jungen, des Sohnes, eine besondere Suppe, die seine Mutter nur für ihn kocht, seit er selbständig essen kann, eine bunte Suppe mit vielen Zutaten, manche müssen im Garten gepflückt werden, auch Fische sind darin und andere Wassertiere. Als die Suppe auf den Tisch kommt, sieht der Junge seine Mutter bitterböse an, die beiden springen vom Tisch auf, ohne einen Löffel zu nehmen, rennen hinaus in den Garten. Dort streiten sie am Rand des Swimmingpools, in dem blaues Wasser glänzt, obwohl es Nacht ist und stockfinster. Plötzlich rutscht der Junge irgendwie ab, weil er sich von der Mutter entfernen, nicht von ihr berühren lassen will, fällt in den Pool. Im Fallen trifft sein Kopf einen Stein der Einfassung. Wie er dann im Wasser driftet, Gesicht nach unten, sei es nur für wenige Sekunden, weißt du sofort, da kann kein Krankenhaus mehr helfen. Danach ist die Mutter nochmals zu sehen, in einem enormen leeren Gebäude, eine Kathedrale muss das sein, hohe verzierte Fenster, Türen, durch die Riesen schreiten könnten ohne sich zu bücken.

Zum Glück werden Filme auch manchmal wiederholt. Er hat danach gefragt. Der Film sei ein Versehen gewesen, er entspräche nicht dem Programm des Core-Teams, nicht den Core-Interessen des Core-Teams und hätte keinen erzieherischen Wert, bekam er zur Antwort. Doch ausgeschlossen sei nichts.

Balaban beschließt, mit dem Aufbruch aus dem Camp zu warten, bis er den Film wieder gesehen hat.

Er wird ein Jahr Geduld haben.

Die Luft ist dick geworden, lässt sich nur schlucken, kaum mehr einsaugen. Zähflüssiger Pudding aus Rauch. Und wirklich ist der Himmel erstmals nicht hell, nicht blau, obwohl die Sonne scheint oder was auch immer da Wärme abstrahlt, sondern grau verdunkelt, und manche halten das im ersten Moment für heißersehnte Wolken. Doch kühler ist es nicht geworden, im Gegenteil. Und da sind halberstickte Schreie. Husten und Rufe der Lehrer, die versuchen Ordnung im Chaos zu halten, die Kinder irgendwohin zu führen, raus. Aber es gibt auch den einen oder anderen von ihnen, der sich aus dem Staub macht. Das Core-Team übrigens ist, ja genau: futsch. Wenn es darum ginge, sind sie weg. Beziehungsweise: Sie wissen eben, jetzt geht es darum weg zu sein. Da haben sie eine schnelle Auffassungsgabe.

Die Jungen, die an den bis an die höchsten Ecken der Baracken hinaufzüngelnden Flammen vorbei zum Tor geführt werden, das sie, seit sie hier sind, nie mehr aus der Nähe gesehen haben, staunen nicht schlecht, wie viele ihrer Lehrer und ihrer Kollegen unbeschadet mitten durchs Feuer gehen, während Pflanzen und Bäume und sogar das rostige Skelett des Krans unwahrscheinlich schnell geschluckt werden, auflodern wie etwas, für das sie keinen Vergleich haben, woanders würde man sagen, wie mit Benzin übergossen, wie trockenes Brennholz, wie Zündschnüre und aufgehen in einem Feuerwerk.

Natürlich hat Emir das gefilmt und bald wird er es fertig geschnitten und bearbeitet haben. Während die anderen zwei abwechselnd in die Pedale treten, sitzt er hinten im Anhänger, gebannt von seinem Gerät. Marco, der kleine durchsichtige Marco radelt unermüdlich, glücklicherweise, sonst hätte Balaban dem Ältesten, der sich die Luxusposition angeeignet hat, schon längst gezeigt, wo das Gras wächst, ihn so unsanft wie möglich ausgeladen.

Das ist ihr Fahrzeug: ein Tandem mit einem doppelrädrigen Sportwägelchen dahinter, im Camp haben die Dinger zu Wettbewerben gedient und zum Vorführen der Gläubigen nach ihrer Bekehrung, bunt geschmückt und im Scheinwerferlicht.

Das haben sie zusätzlich mit: ein vierzig Zentimeter langes Flugzeug, fernsteuerbar, darauf montiert hat Emirs SmartLIVE ihre Flucht gefilmt, ebenso wie alles drumherum.

Als sie weit genug weg sind, zehn Stunden auf den Pedalen, das Konditionstraining im Camp ist immerhin zu etwas gut gewesen, schmeißen Balaban und Marco sich von den Sätteln ins Gras. Das Tandem mit Emir im Schlepptau rollt noch ein paar Meter weiter.

„Ich sterbe vor Hunger.“ Balaban reißt einen Halm ab, steckt ihn sich zwischen die Zähne, bricht einen Zweig mit grünen Blättern von einem Strauch, beißt in die Blätter als wären sie ein Stück Brot.

„Nimm dich zusammen, die könnten giftig sein.“ Marco klingt böse. Dem Kleinen scheint nichts zu fehlen, er hat kein einziges Mal geklagt, weder trinken noch essen verlangt.

Das Flugzeug steigt auf, stößt in den grauen Himmel, der hier eine gänzlich andere Textur hat als im Camp, eine andere Farbe sowieso, nicht schöner, nein, durchlässiger, kälter ist er. Bald frieren die Buben, zumindest die zwei größeren, sie kauern sich unter Gestrüpp, beklagen die schlechte Vorbereitung ihrer Flucht. Marco liegt auf dem Boden, drückt das Gras unter sich flach, als läge da ein schweres Metallteil, er scheint zu schlafen. Da kommt der Flieger zurück. Balaban springt auf, fängt ihn, bevor er eine Bruchlandung machen kann, Emirs Hand will rascher bei dem SmartLIVE sein, Ellbogen in die Rippen. „Das ist meins, kapiert.“ Der leere Magen macht die Freunde aggressiv, nur Marco schläft bewegungslos auf der Wiese; sie fühlt sich anders an als im Camp, feuchter, elastischer, eigentlich essbar.

Sie sehen: Grün, viel Grün vor allem, dann einen helleren Fleck mit unregelmäßigen Rändern, fast wie ein Fußabdruck einer Kreatur mit drei dicken Zehen, feine weiße schnurgerade Striche in dem Grün, teilweise sternförmig angeordnet, auf Zentren zielend, ein breiter Streifen, hellgrün ohne Verbindung mit irgendwas, drumherum ein andersfarbiger breiter Streifen, wie ein Mosaik aus beige, braun, grau, ovale, eckige Flecken und das Ganze in einer Schlinge, klar definiert und schwungvoll gezeichnet, olivgrün, von einigen dickeren Strichen quer durchschnitten. Balaban muss an ein Lasso denken.

„Da hat uns wer eingefangen.“

„Das ist ein Fluss, Dummkopf.“

Das olivgrüne Lasso zieht sich rechts oder östlich in ein engmaschiges Muster aus Linien, Dreiecken und Quadraten, insgesamt hellgrau gefärbt, mit ab und zu einem grünen Rechteck oder Kreis. Kurz bevor das Video abbricht, ist am Horizont ein merkwürdiges Objekt zu sehen, wie ein Riesenspielzeug oder ein Werkzeug um am Himmel herumzuschrauben, Wolken zu reparieren, aus Metall bestehend, scheint es den Buben, eine Art überdimensionaler Schraubenzieher.

„Was könnte das sein?“

„Keine Ahnung.“

So ein Bauwerk war in den Filmen nie vorgekommen, überhaupt wirkt das Leben, seit sie das Camp verlassen haben und auf ihr Tandem gestiegen sind, ganz und gar nicht wie ein Film und bisher haben sie herzlich wenig von dem, was sie gelernt haben, auf dieser Radtour anwenden können. Die Brillen, die GOOGs wie die 3-D-enhancers, sind zu nichts nutz; beim Fahren getragen bewirken sie nur Schwindel, denn das, was ihnen in der Wirklichkeit vor die Räder kommt, zeigt der Fourth View des SmartLIVEs nie an.

„Womöglich haben wir defekte Exemplare erwischt“, mutmaßt Emir, während Balaban überzeugt ist, „Sie haben uns mit Absicht solche zugeteilt, alle Buben haben die, nur sie selbst haben welche, die außerhalb des Camps funktionieren.“ Endlich verstehe er, wie das funktioniert habe, wie sie es geschafft hätten, alle Jungs da drin auf eine Art ruhig zu stellen. Emir versteht nichts oder will nichts verstehen. „Vor allem die Essensbeschaffung haben die völlig vergessen uns beizubringen“, murrt sein Freund weiter, obwohl ihm klar ist, hier hilft Reden nichts, hier hilft keine Brille und kein SmartLIVE. „Wir müssten jagen, hier muss es doch Tiere geben; es gibt überall Tiere.“

Balaban denkt an Mat, als er das Dunkelgrün auf der Aufnahme sieht, die gleichmäßig olivgrün gefärbte Fläche. Diesen Fluss gibt es also noch. Er spürt eine enorme Erleichterung, vergisst minutenlang sogar seinen Hunger. Die Idee, Tiere zu jagen hat er natürlich aus einem Film. Doch da trugen die Jäger Waffen bei sich.

„Wir könnten fischen, in dem vielen Wasser, da, das müsste ein Teich sein, ein See.“ Balaban hat plötzlich verstanden, wie diese Landschaft funktioniert, er hält den Finger auf den fußabdruckähnlichen Fleck, das automatische Zoom zieht den Blick in einen Wirbel aus Grünschattierungen, näher, bis sich Büsche ausnehmen lassen, am Rand einer offenbar algenbedeckten Wasserfläche, ja, das muss Pflanzenmaterial sein, näher und näher bis nurmehr grünes Rieseln übrigbleibt.

„Diese Videoaufnahmeprogramme müssten besser steuerbar werden“, kritisiert Emir, weil er sich weniger gut zurechtfindet als der jüngere Balaban. Um herauszufinden, wo auf diesen Bildern sie sich nun befinden, aktivieren sie beide in ihren Geräten die Suchfunktion nach dem geographischen Standort, im Camp war die von den Störsendern des Technikers im Core-Team, die einzig diesem Zweck dienten, automatisch deaktiviert worden. In der Aufregung der Flucht hatten die Buben komplett auf diese Funktion vergessen. Zum ersten Mal seit ihrer Entführung werden sie erfahren, wo auf diesem Erdball sie sich aufhalten.

Emir tippt auf die Türkei, Balaban auf Aserbaidschan, weil er das Wort mag und das Klima dort so vermutet, wie sie es erleben. Jedenfalls außerhalb Europas muss es sein, alles im Camp hat sich ganz uneuropäisch angefühlt, und die Entführer wären nie und nimmer in Europa geblieben, im gesitteten, kontrollierten Europa, dort wäre so etwas wie das Camp nicht möglich.

Standortbestimmung“, die zwei Geräte sprechen im Chor mit ihren reizenden Knabenstimmen, aber leider widersprechen sie sich. Das eine SmartLIVE spricht vom Garten eines Kaisers, einem Jagdgebiet, folglich Privatgrund, das andere sagt: Banlieu, ehemaliges Erholungsgebiet, seit der letzten großen Seuche im Jahr 2021 Sperrgebiet, Betretungsverbot. Nur den Namen betreffend sind sie sich einig, Forêt de Saint-Germain-en-Laye.

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Andrea Grill lebt als Schriftstellerin in Wien und Amsterdam, sie ist promovierte Evolutionsbiologin und übersetzt aus mehreren europäischen Sprachen. Ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt sie den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis und den Anton-Wildgans Preis. Zuletzt erschienen bei Zsolnay der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman Cherubino und bei Hanser der von ihr aus dem Albanischen übersetzte Lyrikband Die Stadt der Äpfel von Luljeta Lleshanaku.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.