Predigt

Von Alfred Komarek.
„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil VI

Online seit: 26. März 2021
Alfred Komarek. Foto: Manfred Werner
Alfred Komarek. Foto: Manfred Werner

Liebe Gemeinde, weil sich einige von Ihnen fragen werden, warum ich hier stehe, will ich erst einmal darauf Antwort geben, möglichst ehrlich, denn als Prediger ist sogar ein Schriftsteller zur Wahrhaftigkeit angehalten. Es gibt zwei Motive. Das eine ist moralisch verwerflich, weil selbstsüchtig, das andere leider auch nur auf den ersten Blick gottgefälliger Natur.

Das fortgeschrittene Alter bringt es nun einmal mit sich, dass Premieren seltener werden. So ziemlich alles ist schon vor geraumer Zeit das erste Mal geschehen. Gepredigt habe ich aber noch nie. Das gönne ich mir hiermit.

Zum anderen ist es ratsam, in reiferen Jahren vermehrt gute Werke anzuhäufen, denn stünde ich morgen vor dem Jüngsten Gericht, könnte mich nur ein sehr guter Anwalt retten. Das bringt mich auf meine seltsame Biographie und gleich auch mitten ins Thema. Ich bin ja vom Jusstudenten zum Schreiber geworden, unter anderem auch von Kriminalromanen. Eine Juristenzeitschrift stellte mir neulich die Frage: „Wie kommt man von Recht und Ordnung zu Mord und Totschlag, Herr Komarek?“ Die Antwort: Man kommt nicht hin, man ist schon da. Jeder Gerechte hat seine Leiche im Keller, wie jeder Heilige auch ein Sünder ist, jeder Moralist ein Wüstling, jeder Asket ein Gierschlund.

Bevor ich mich noch weiter in wüsten Unterstellungen ergehe, zitiere ich so gut wie neidlos einen der biblischen Bestsellerautoren, nämlich Lukas. Das Gleichnis von den bösen Winzern. Er erzählte dem Volk dieses Gleichnis: Ein Mann legte einen Weinberg an, verpachtete ihn an Winzer und reiste für längere Zeit in ein anderes Land. Als nun die Zeit dafür gekommen war, schickte er einen Knecht zu den Winzern, damit sie ihm seinen Anteil am Ertrag des Weinbergs ablieferten. Die Winzer aber prügelten ihn und jagten ihn mit leeren Händen fort. Darauf schickte er einen anderen Knecht; auch ihn prügelten und beschimpften sie und jagten ihn mit leeren Händen fort. Er schickte noch einen dritten Knecht; aber auch ihn schlugen sie blutig und warfen ihn hinaus. Da sagte der Besitzer des Weinbergs: Was soll ich tun? Ich will meinen geliebten Sohn zu ihnen schicken. Vielleicht werden sie vor ihm Achtung haben. Als die Winzer den Sohn sahen, überlegten sie und sagten zueinander: „Das ist der Erbe; wir wollen ihn töten, damit das Erbgut uns gehört.“ Und sie warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und brachten ihn um. Was wird nun der Besitzer des Weinbergs mit ihnen tun? Er wird kommen und diese Winzer töten und den Weinberg anderen geben. Als sie das hörten, sagten sie: Das darf nicht geschehen! Da sah Jesus sie an und sagte: Was bedeutet das Schriftwort: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, / er ist zum Eckstein geworden? Jeder, der auf diesen Stein fällt wird zerschellen; auf wen der Stein aber fällt, den wird er zermalmen.“ Die Schriftgelehrten und die Hohenpriester hätten ihn gern noch in derselben Stunde festgenommen; aber sie fürchteten das Volk. Denn sie hatten gemerkt, daß er sie mit diesem Gleichnis meinte. Natürlich habe ich nachgelesen, was fromme oder auch ketzerische Kenner der Bibel zu diesem Gleichnis meinen. Manches leuchtet mir ein, manches weniger, und ich werde mich hüten, in einen theologischen Disput einzutreten. Doch wer meint, in diesem Gleichnis von bösen Winzern als bösen Juden zu lesen, denen der Weinberg weggenommen wird, damit ihn die braven Christen bekommen, verwechselt die Amtskirche mit dem Kirchenvolk, ein Fehler, den man auch heute tunlichst vermeiden sollte. Noch dazu erklärt sich das Gleichnis in diesem Sinne mit dem letzten Satz selbst: Die Schriftgelehrten und Hohenpriester haben den ihnen anvertrauten göttlichen Weinberg veruntreut und beantworten mahnende Botschaften mit Gewalt. Dafür werden sie bitter bezahlen müssen.

Die Geschichte hat aber auch eine andere Seite und die betrifft den biblischen Schöpfer und Eigentümer des Weinberges. Als Landwirt und Unternehmer beweist er fast schon sträfliche Naivität. Als er durch einen Boten einfordern läßt, was ihm zusteht, reagieren die Pächter mit einer Unverschämtheit, auf die es eigentlich nur eine Antwort gibt: die energische Durchsetzung des Rechtes mit allen tauglichen, wenn auch legalen Mitteln. Aber nein. Vielleicht war der erste Bote ja nur ungeschickt, anmaßend oder unhöflich. Also noch ein sanftmütiger Versuch mit einem Ergebnis, das irgendwie vorauszusehen war. Aber vielleicht hatten die Pächter diesmal einen schlechten Tag, üble Laune oder Zahnweh? Also ein dritter Bote. Und der wird, ums deutlich zu machen, sogar blutig geschlagen. Ach weh, es ist schon ein Jammer mit diesen Leuten. Aber es könnte ja sein, daß sich die stolzen Winzer durch Boten beleidigt fühlten, die ihrem Stande nicht ebenbürtig waren? Dieser Makel trifft auf den geliebten Sohn freilich nicht zu. Also werden ihn die Pächter höflich empfangen und unter wortreichen Entschuldigungen ihre Pflicht tun.

Die Winzer sind dann allerdings genau so, wie es ihr bisheriges Verhalten vermuten ließ: Gierig, hinterhältig, berechnend und zu jeder Schandtat bereit, auch zum Mord. Also so geht das nun wirklich nicht. Der Vater übt dreimal blutige Rache und sucht sich freundlichere Pächter. Aug um Auge, Zahn um Zahn … war das nicht schon längst einmal überwunden gewesen?

Nun ja. Da gibt es die Bibelübersetzung von Walter Jens, in der nicht mehr vom Töten oder Umbringen der Winzer die Rede ist. „Er wird sie hinrichten lassen“ steht da zu lesen. Damit ist die Sache legalisiert und die Blutrache vom Tisch. Aber warum dann nicht gleich der Rechtsweg?

Seltsamer Gedanke: Ein Herr des Weingartens, der ohne Güte und Geduld zu investieren, gleich einmal zur Tat geschritten wäre, hätte damit seinen Knechten viel Unbill erspart, seinen Sohn am Leben erhalten und müsste möglicherweise auch keine neuen Pächter suchen, weil die alten angesichts drohender Sanktionen zwar noch immer murrend ihre Pflicht tun, aber zumindest pünktlich. Anders gesagt: Hätte ein weniger guter Mensch, ein hart gesottener Geschäftsmann nämlich, angemessener und damit klüger reagiert? Ja, ich weiß schon: Die Bibel ist kein Gesetzbuch und schon gar keine Gebrauchsanweisung.

Andererseits glaube ich schon, dass nicht ein einziger Satz darin nur einfach dahin geschrieben wurde. So gesehen müsste der Rang eines Gleichnisses auch für die seltsame Verhaltensweise des Pachtgebers gelten. Und weil die Bibel auch Kraft genug hat, deutliche Worte auszuhalten, sage ich jetzt nicht „seltsam“ oder „naiv“, sondern „schockierend“, „unfassbar“, „unbegreiflich.“ Und siehe da: Aus der rauschebärtigen Filzpantoffel Obrigkeit auf dem Wolkenthron wird eine Wesenheit, die sich unserer Logik und unseren Wertmaßstäben entzieht.

Eine Wesenheit, zum Beispiel, die es zulässt, dass die Staatsmänner aller Zeiten und aller Nationen zur höheren Ehre Gottes blutige Kriege führen, die es Kirchenlehrern gestattet, Sinn in Irrsinn zu verkehren, die Schinder und Schänder unseres Lebensraumes reich und mächtig werden lässt und die es den Lügnern und Betrügern erlaubt, Recht zu behalten. Ja, und den Sendboten dieser Wesenheit geht´s natürlich schlecht: den unbequemen Wahrheitsliebenden, den lästigen Warnern, den warmduschenden Gutmenschen.

Die göttliche Nicht-Einmischung hat ganz offensichtlich nichts mit Güte, Geduld und Sanftmut zu tun. Es könnte aber um jene Freiheit gehen, in der alles Gute, alles Böse und alles Indifferente Platz hat. Bis sich eines Tages eine höhere Macht die Freiheit nimmt, jenen die Freiheit wegzunehmen, die sie so schändlich missbrauchen – und das mit erschreckender Radikalität, auslöschender Wucht und scheinbarer Willkür. Grausam darf man einen solchen Akt dann natürlich nicht nennen, denn das würde ja schon wieder bedeuten, menschliche Maßstäbe anzulegen.

Die Schöpfung als Manifestation des Schöpfers. Eine mißbrauchte Welt und eine Macht, die mit einem fürchterlichen Schlag neue Verhältnisse schafft. Das führt uns aus orientalischen Fernen in unseren Alltag. Und es macht aus Winzern eigensüchtige Parasiten wie Du und ich. Damit kommt uns aber auch das biblische Gleichnis unbehaglich nahe, unserer spaßhungrigen Ellenbogengesellschaft mit den vielen tüchtigen Ich-Aktionären und -Aktionärinnen. Schlecht gehts den armen Alpen, wirklich. Aber den Gletscherschilauf haben wir uns weiß Gott sauer verdient. Beunruhigend groß ist das Ozonloch, doch beruhigend klein und doch wirklich vernachlässigbar ist so ein Auspuffloch. Bitte, man spendet ja da und dort, da wird man sich dann auch seiner Wohlstandshaut wehren dürfen. Asylmissbrauch gibt es, also dürfen sich auch jene, die nicht missbrauchen nicht wundern, dass sie keiner haben will. Sozialschmarotzer gibt es, also müssen sich auch Nichtschmarotzer Misstrauen gefallen lassen, und Arbeitslose haben eben Pech gehabt oder zu wenig Power. Dass elende Hungerlöhne exotische Früchte billiger in die Geschäfte bringen als heimische Gemüse ist ja schließlich nicht unsere persönliche Schuld und das schicke Textil-Label riecht so gar nicht nach Umweltgiften und Kinderarbeit. Entsolidarisierung heißt mit anderen Worten: wir schicken jene, die unangenehm verpflichtende Forderungen an uns stellen weg und geben ihnen noch ein paar hinter die Ohren, damit sie nur ja nicht wiederkommen. Im Prinzip sind wir alle nächstenlieb, friedfertig und tolerant. Doch wenn es um die eigene Haut geht, hört sich der Spaß auf. Und wenn diese eigene Haut dann noch dazu idealistisch imprägniert ist, darf man sogar noch ein Schäuferl zulegen: dann gibt es gewaltbereite Grüne, menschenverachtende Frömmler oder selbstgerechte Richter. Neinnein. Böse Winzer sind wir nicht, höchstens ein bisschen und manchmal, mehr aus Versehen. Und den geliebten Sohn vom Chef würden wir schon gar nicht erschlagen. Allenfalls ein bisserl mobben oder rufmorden. Und dass Auschwitz vorgestern war und die straßenwaschenden Juden Wiener waren, von Wienern gedemütigt und verspottet … mein Gott, nicht schon wieder diese Geschichte.

Noch einmal wird´s literarisch, in diesem Sinne. Pater Brown, Chestertons sehr eindrucksvoller katholischer Pfarrer, leider auch in guten Verfilmungen sträflich verharmlost, hat einen sehr schönen Satz gesagt: Ich bin ein Mensch, in mir sind alle Himmel und Höllen.

Amen.

Predigt in der Evangelischen Pauluskirche in Wien-Landstraße 2005

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Im Salzkammergut, wo Alfred Komarek herkommt, machen die Dichter Urlaub. In Wien, wo er schreibt, machen sie sich wichtig. Im Weinviertel, wo er zuhause ist, muss man sie suchen. Alfred Komarek schreibt seit 50 Jahren: da kommt schon was zusammen.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.