„Wir hatten eine Vorstellung von Öffentlichkeit und versuchten, diese in die Gewohnheiten des Bundestages zu importieren“

Zum Tod von Norbert Kückelmann – Materialien & Texte aus Alexander Kluges sieben Körben

Online seit: 13. Februar 2022

Am 31. August 2017 starb der Rechtsanwalt, Filmemacher und Buchautor Norbert Kückelmann, geboren 1930, nach langer Krankheit. Mit ihm und anderen zusammen haben wir das Kuratorium Junger Deutscher Film gegründet. Ohne diesen Mann hätte es nicht zwanzig Jahre lang den Neuen Deutschen Film gegeben. Auf dem Foto vom 1. September 2015 (Seite 37) ist er mit Edgar Reitz und mir in seiner Wohnung in der Friedrichstraße in München zu sehen. Er fehlt uns.

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Ein Lernprozeß zum Thema Filmöffentlichkeit

H. D. Müller, Norbert Kückelmann und ich reisen nach Bonn. Die Arbeitsgemeinschaft Neuer Deutscher Spielfilmproduzenten schickt uns. Es geht um das Filmförderungsgesetz, das wir bekämpfen. Wir besuchen deshalb Bundestagsabgeordnete, die im „Langen Eugen“, dem Bürohochhaus neben dem Parlament, ihr Domizil haben.

Als wir eintreffen, stellen wir fest, daß die Volksvertreter ganz andere Fragen beschäftigen als die Filmförderung. In dieser Woche geht es um das Amnestiegesetz, das den gesellschaftlichen Waffenstillstand der Republik mit der studentischen Protestbewegung besiegeln soll. Gehen wir auf dieses aktuelle Interesse des Hohen Hauses nicht ein, werden wir die Abgeordneten auch nicht dazu bringen, uns zuzuhören, wenn wir von der Unabhängigkeit im neuen deutschen Film sprechen. Es entsteht ein Naturalientausch: unsere Interessen gegen die ihren. Wir bringen das ein, was wir mitgebracht haben, unsere Arbeitskraft, d. h. zusätzliche Zeit. Wir dienen als Assistenten. Wir übernachten in Bonn.1

Am anderen Morgen treten wir zum Dienst an. Die Pförtner kennen uns schon. In einem Filmvorführraum im fünften Stock werden den Bundestagsabgeordneten Filme vorgeführt. Die Materialien sind vom Bundeskriminalamt und von verschiedenen Polizeibehörden, vor allem der Frankfurter und der Berliner Polizei, zur Verfügung gestellt worden. Sie zeigen, wie „Störer“, vermummt, Polizeieinheiten angreifen, ihre Reihen durchbrechen, sie mit Wurfgeschossen bewerfen und wie einzelne Beamte, deren die Störer habhaft werden konnten, geschlagen wurden. Das Filmmaterial ist tendenziös. Schon hängen wir an den Telefonen. Gegen Mittag sind mit Kraftfahrzeugen aus dem Archiv einer öffentlich-rechtlichen Anstalt im Rhein-Main-Gebiet alternative Filmmaterialien herangeschafft. Sie stehen zur Vorführung bereit. Auf diesen Filmen ist zu sehen, wie Polizeieinheiten studentische Störer in die Flucht schlagen, den Fliehenden nachsetzen und mit Körperverletzungen nicht sparen. So wird mit verschiedenen Filmen aus verschiedenen Quellen eine „politische Öffentlichkeit“ im Bundestag hergestellt. Bis zum frühen Nachmittag entsteht ein Gleichgewicht der Information, aus höchst kontrastierendem Material, eine Art „Augenmaß“.

Im parlamentarischen Kampf um die Einzelheiten des Amnestiegesetzes geht es um Zeit. Derjenige, der mehr Arbeitskraft und -zeit besitzt, kann an diesem „Bild der Wirklichkeit“ länger zimmern als sein atemloser Gegner. Der Parlamentarier, der einen Sachverhalt aus leicht verfügbarem Material zur Verfügung stellt, der sich den Vorteil der Einfachheit für seine Darlegung verschafft, dem Gegner aber die komplexen, zeitraubenden und bilderlosen Antworten zuschiebt (die „Beweislast“), wird seine Position durchsetzen. Die parlamentarischen Angriffs- und Belagerungsmaschinen sind seit acht Uhr früh gegeneinander in Bewegung gesetzt. Wir haben zu dritt vier Stunden gebraucht, um den Mechanismus zu verstehen. Es kommt nicht nur darauf an, zusätzliches visuelles Material zu beschaffen, sondern darauf, es zeitsparend einzusetzen.

Die Konservativen in der