„Kommentar zum Text meines Lebens“ und andere Geschichten

Vorabdruck aus dem Buch der Kommentare von Alexander Kluge

Online seit: 11. Februar 2022

„Kommentar zum Text meines Lebens“

Dass ein Lebenslauf ein Text ist, daran habe ich keinen Zweifel. Es ist aber kein Text, der bereitliegt, in Worten festgehalten werden kann. Man müsste ihn umständlich rekonstruieren, und dann wäre er zu lang für einen Kommentar.

Das Format der Kommentare verlangt kurze, feststehende Texte, Texte von Geltung, die den nachhaltigen Anbau von Ergänzungen, Notizen, Fortsetzungen, Fragmenten und Übersichten gestatten. Im Allgemeinen ist der Kommentar lang, der Text knapp. Ein Leben, gespiegelt von Erinnerungen und von Daten, enthält aber bereits dadurch langwierige Texte, dass beim Nacherzählen die Illusionen, Seitenwege, das, was unbeobachtet blieb, der Kürzung und dem Erzählfluss entgegenwirken. Alle Zuhörer würden davonlaufen, finge einer an, gründlich sein Leben zu erzählen.

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„Grundform des Erzählens“

Die Grundform des Erzählens ist für mich das Blatt des Rezeptblocks, auf dem mein Vater, ein Arzt, vor einem „gemütlichen Bowleabend“ sich in fünf bis sechs schwer leserlichen Worten die Geschichten aufschrieb, die er dann als frisch improvisiert den Gästen unterbreiten wollte. Dass mein Vater sich so viel Mühe gab, sich auf ein Erzählen vorzubereiten, rührt mich bis heute. Es genügte ihm dafür ein Stichwort, quasi eine „Intonation“. Er war sich sicher, dass sich dann beim Erzählen eine Tonlage einstellt, ohne langes Suchen.

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Erforderlichkeit der Auswilderung von Gespenstern in Europa

Im 18. Jahrhundert haben die Jagdbeamten, von Fürsten oder vom Staat angestellt, zu viele Füchse und Wölfe geschossen. Schwerwiegender noch war die Dezimierung der Geister und Gespenster durch eine populistische, laienhaft durchgeführte „Aufklärung“ unter Zitierung missverstandener Philosophen.

Die Seelenteile (die in jedem Alter eines Menschen sich verändern) brauchen Ernährung. Jedes Kind erlebt die animistische Phase. Dieser Phase, mit ihrer eigenen Unheimlichkeit und Heimlichkeit, folgt die Phase der Versuche, jene Gespensterwelt zu beherrschen, in der alle Gebüsche, alle Dinge ihr Eigenleben haben. Das ist die Phase der Magie. Aus beiden Phasen entstehen Geisteskräfte, ein Unterfluss, ein Tiefenwasser, in dem noch lange nach Verstummen der animistischen und magischen Seelenteile, Gespenster und Geister leben. Keine Ratio, keine INTELLIGENZ DER GEFÜHLE, ohne solche elementare Versorgung. Das „Unbewiesene“, selbst das „Unheimliche“, ist lebensnotwendig für das