Schirmbecks Vermächtnis

Alban Nikolai Herbst erinnert an den Schriftsteller Heinrich Schirmbeck, dessen Werk in der Nachkriegszeit der Kahlschlag-Doktrin zum Opfer fiel.

Online seit: 13. August 2020
Heinrich Schirmbeck © Helga Schirmbeck
Heinrich Schirmbeck blieb ein Außenseiter im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit. Foto: Helga Schirmbeck

Sprache im technischen Zeitalter heißt eine berühmte, von Walter Höllerer 1961 gegründete und nach wie vor vom Literarischen Colloquium Berlin herausgegebene Literaturzeitschrift. Sie wäre zumindest für Heinrich Schirmbecks Aufsätze ein idealer Ort gewesen. Doch nicht eine einzige Ausgabe erwähnt auch nur seinen Namen. Da sich um Höllerer seinerzeit zusammenzog, was literarisch irgend Bedeutung hatte, lässt sich bereits jetzt erahnen, welch ungehörte Stimme Schirmbeck war. Dabei hatte er in den Endfünfzigerjahren einen sogar in Übersee enormen Romanerfolg, für den man ihn in den USA an die Seite Thomas Manns stellen wollte. Dass ihn die Gruppe 47 gleichfalls ignorierte, sie nun erst recht, weist ihn für die deutschsprachige Literatur nach 1945 vollends als Außenseiter aus.

Es muss ihn sehr gequält haben.

Bereits als ich in den Achtzigern über Schirmbeck veröffentlichen wollte, bekundeten nicht nur die Redaktionen des Hessischen Rundfunks, für den er hunderte Beiträge verfasst hatte, Desinteresse. Also überschrieb ich meinen Text mit „Vergessen auf der Rosenhöhe“, nämlich der in Darmstadt, wo er gelebt hat. Das ärgerte ihn so sehr, dass nun auch ich seine Störrigkeit zu spüren bekam, vor der die Redakteure und Redakteurinnen sich präventiv in Deckung gebracht zu haben schienen. Seine durchaus narzisstische Querköpfigkeit hatte aber eben in der ihm entgegengebrachten Ignoranz ihren Grund.

Die 1960 erschienene US-amerikanische Übersetzung von Schirmbecks Roman Und ärgert dich dein rechtes Auge wurde mit Doktor Faustus verglichen.

Die Fatalität dieser unguten, sich wechselseitig aufgeschaukelten Dynamik habe ich gänzlich erst später begriffen. Der beinah schon greise Romancier konnte seine literarische Gewissheit nur noch mit einer Eitelkeit aufrecht erhalten, die sich gegen den Verlust der Bedeutung seines in jedem Fall thematisch hochbedeutenden Werkes gleichsam selbstbeschwörend anstemmte. Man kann von einer traumatischen Kränkung sprechen. Dabei hatte gerade er genau gesehen, um was es gesellschaftlich ging und, mehr noch, was auf dem anthropologischen Spiel stand.

Mein Titel war freilich als Attacke auf ihn gar nicht gemeint gewesen, sondern ich hatte ihn auf einen Literaturbetrieb gemünzt, der wissentlich wissen nicht wollte. Es ging damals ganz wie heute: Die eine Hand der ideologisch-politischen Überzeugtheit wäscht die andere ihrer selbstischen Interessen. Und ist jemand aufs Abstellgleis erst einmal rangiert, ziehen ihn allenfalls spätere Generationen wieder herunter, bei einigem Glück oder wenn man bis ins Alter gesund genug bleibt, um den Kampf um die Aufmerksamkeit noch durchzuhalten.

Schirmbeck war es schon seinerzeit nicht mehr gegeben. Man hatte damals auch gar nicht die Mittel, sich weitgehend unabhängig vom, sagen wir, „Mainstream“ Gehör zu verschaffen. Ich überdies war ein solcher No-Name, dass von Schirmbeck, immerhin einem alten Freund Peter Suhrkamps, weder nachdenkendes Entgegenkommen noch Verständnis für meinen gewissermaßen formulierparadoxen Schulterschluss überhaupt hätte erwartet werden können. Dass ich die ihm entgegengebrachte Ignoranz mit der identifizierte, die ich selber auszuhalten hatte, wird er zu Recht als jugendliche Anmaßung empfunden haben.

Aus den Lexika verschwunden

Als man die 1960 erschienene US-amerikanische Übersetzung The Blinding Light seines großen Romanes Und ärgert dich dein rechtes Auge neben den Doktor Faustus stellte, war Schirmbeck erst knapp über vierzig. Heute wissen davon selbst literaturhistorische Lexika nichts mehr. Nur der von Wilhelm Kühlmann neu herausgegebene Killy widmet Schirmbeck anderthalb Spalten. In Reclams neuer Geschichte des deutschsprachigen Romans hingegen, 2013 erschienen, sucht man seinen Namen vergeblich. — Woran liegt das?