Beschreibung
Als der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, schenkte er ihr zur Verlobung ein Buch. Er entschied sich für Dichtergrüße. Neuere deutsche Lyrik, ausgewählt von Elise Polko, erschienen in zwölfter Auflage in C. F. Amelangs Verlag, Leipzig. Auf das Vorsatzblatt seines Exemplars schrieb er in akkurater Kurrentschrift die Widmung: „Meiner Milly zur freundlichen Erinnerung an den Pfingstfeiertag 1885.“ Was an diesem Tage geschehen sein mag, verrät der Schreiber nicht in eigenen Worten, sondern lässt den Dichter sprechen. Heinrich Heines „Im wunderschönen Monat Mai“, das auf Seite 207 des Buches gedruckt steht, hat er noch einmal eigenhändig abgeschrieben und seiner Widmung einverleibt. Das zweistrophige Gedicht endet mit den Zeilen: „da hab ich ihr gestanden / mein Sehnen und Verlangen.“ So sprach man damals durch die poetische Blume über Liebesdinge.
Heute hält der Urenkel dieses Erbstück in Händen. So viele Namen, die nichts mehr bedeuten, so viele Verse, die niemand mehr kennt. Warum der Bräutigam Carl seiner künftigen Gattin Emilie, genannt Milly, gerade diese Anthologie verehrt hat? Wahrscheinlich steht die Antwort in Elise Polkos „Vorwort zur zweiten Auflage“: „Kaum ein Jahr ist verflossen, seit die ‚Dichtergrüße‘ an die Frauen- und Mädchenherzen zu klopfen wagten, und so viele zarte Hände haben sich nach dem kleinen Buche ausgestreckt, daß ich so glücklich bin, jetzt schon die zweite Auflage darbringen zu können.“ Der Urgroßvater hat die zwölfte Auflage verschenkt, also war das „kleine Buch“, immerhin 616 Seiten stark und reich illustriert, ein Bestseller seiner Zeit. Das war den Leserinnen zu verdanken, denen die Anthologie ausdrücklich zugedacht war. Wer aber jetzt ein frühes Dokument des Emanzipationswillens erwartet, wird enttäuscht sein. Hier findet sich anderer Denk- und Gefühlsstoff für schwärmerische Mädchen und Ehefrauen in spe. Natürlich werden Liebesfreud und Liebesleid von vielen Dichtern und nicht wenigen Dichterinnen immer wieder neu besungen, aber es gibt auch historisierende Balladen, gewichtige Gedankenlyrik, Schlichtes im Volkston, schließlich patriotische und religiöse Erbauung. Aber alles im bürgerlich-biederen Rahmen. Wäre es anders, hätte der Urgroßvater, angehender Pharmazeut, das Buch bestimmt nicht verschenkt …
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War Geibel vielleicht gar kein Ideologe, sondern nur ein versierter Stilpluralist?
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Emanuel Geibel: „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen.“
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Arbeitet das kulturelle Langzeitgedächtnis unserer Gesellschaft so viel langsamer, als die Theoretiker des Fortschritts und des Wandels vermuten?
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Sicher ist jedenfalls, dass vieles, was aus dem wissenschaftlichen Diskurs längst ausgeschieden wurde, anderswo in unterschiedlichen Formen weiterlebt.
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Jedenfalls repräsentiert Geibels Lyrik den Mainstream seiner Zeit.
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In zahllosen Interpretationen, von Heino bis zum Tölzer Knabenchor, können diese beiden Lieder im Internet angehört werden.