Mit Walter Muschg, dem Basler Literaturprofessor, hatte ich mich im Café Sacher verabredet. Muschg bestellte sich einen Kaffee Hag und fragte mich nach diskreter Musterung der Gäste: „Sagen Sie mir als gelernter Wiener – sind die hier allein bei ihren Sachertorten sitzenden Damen alles Gräfinnen oder Huren?“
„Teils beides in Personalunion“, wusste ich zu melden. Muschgs charmantes Lachen.
Wir promenierten durch die Kärntner Strasse, am Schweizer Reisebüro vorbei, wo er sich eine Platzkarte für die Rückreise besorgte, zum Stephansdom. Es herrschte sonniges, für Wiener Verhältnisse eher mildes Spätjanuarwetter. In den Stephansdom liess ich ihn allein einkehren (weil ich so sehr oft drinnen gewesen war), lenkte ihn drauf zur Schulerstrasse, in die Pfaffstetter Weinstuben, deren Stammgast der Lyriker Weinheber gewesen, der sein Werk und seinen Namen von den Nazis hatte missbrauchen, sich als „Blu-Bo“-Koryphäe hatte feiern lassen und seinen „Irrtum“ nach dem Einmarsch der Alliierten in Austria besiegelt hatte durch Freitod (s. Walter Muschgs Die Zerstörung der deutschen Literatur). In dem engen holzgetäfelten Beisl, über langer, jahraus-ein vollbesetzter Gästebank ein vergrössertes Fotoporträt von Josef Weinhebers Profil. Muschg blickte es bei einem Achtel Pfaffstettener, an einen der wenigen brusthohen Stehtische gelehnt, versonnen an. Dann sagte er (hier übertragen sein kultiviertes „Zollikon-Züridütsch“): „Kurios, die Enge von Weinhebers Stammlokal. Aber gut, dass Sie mir’s gezeigt haben.“
Wir fuhren zum Praterstern. Lenkte ihn, der gewiss kein RummelplatzDurchbummler war wie ich, am Wurst- oder Volksprater, der im Vergleich zur Vorkriegsrummelei etwas Amerikanisiertes, Hypertechnisiertes abbekommen hatte, etwas von New Yorks Coney Island, rechterhand vorbei zur Böcklinstrasse Nr. 1. Gritzgraues langgestrecktes 3-Stock-Gebäude. Längsfront Rechtecke von Atelierfenstern, herausglotzend in die seltsam stahlblau irisierende, typisch wienerische, ja endjanuar-dekorative Dämmerung, die schon etwas frühmärzliches an sich hatte. Vorgarten der Seitenfront geschützt von einer etwa 3 m hohen Mauer, bewachsen mit winterschlafendem Efeu (im Sommer schläft es eigentlich auch). Herbst 48, als ich diese Mauer erstmals passiert hatte, war ihr Dach bestückt gewesen mit draufzementierten Weinflaschenscherben, um auf Kunstwerk-Diebstahl erpichte Einbrecher abzuschrecken. FW (Fritz Wotruba) hatte sie abtragen lassen, die Scherben, auf dass kein Tier sich an ihnen verletze. Eine grüngestrichene Holztür, bescheiden wie die eines Schrebergartenhauses, daneben ein Aluminium-Klingelknopf. Herr Franz Hilkesberger öffnete uns. Ein sehr stattlicher blonder Endvierziger in verwittert-blauem Drillichmantel, unter dem ein Stück Lederschürze hervor sah. Er hatte etwas an sich von einem Tankwart, in dem selber ein bildender Künstler steckte.
„Kurios, die Enge von Weinhebers Stammlokal. Aber gut, dass Sie mir’s gezeigt haben.“
„Ah, der Herr Becher, wie geht’s Ihnen denn? Ihr Freund arbeitet herinnen. Mein Kompliment, Herr Professor“, begrüsste er Muschg mit leichter Verbeugung; also hatte Fritz seinem Herrn-Franz-für-alles unser beider Besuch avisiert. Hinter dem Riesenfenster des Ateliers Jupiterlampenlicht wie aus einem Filmstudio, in dem eine 2-Personen-Szene gedreht wird, Hier war’s wieder: Das eine der Stein, der andere der, der aus Stein Leben schlägt. Der Meister – weshalb ihn nicht so benennen, da er doch einer ist – legte Hammer und Meissel aus den Händen, empfing uns sachlich, leicht abwesend. Er trug einen betont „alten Hut“, der wie leicht beschneit von rötlichem Staub burgenländischen Sandsteins, jenes Materials, aus dem mehrere der im wahrhaft grossmächtigen zweigeteilten Atelier (das Kabinett mit Sofa ein drittes Teilchen) umher postiert waren. Da standen Figuren, ihr Schatten verlängert vom Flutlicht, die wirkten als „sähen Jahrtausende auf uns herab“, nein nicht herab, vielmehr uns an, nicht einmal uns an. Wie Theodor Adorno nach einem Blick auf die 2. Wiener Schule der Bildkunst vermerkte (in der 1. Egon Schiele, Gustav Klimt und Adolf Loos, der bereits Kokoschka angeraten, sich in der Schweiz weiterzubilden und den jungen Wotruba vor 33 persönlich beeinflusst hatte), existiert in Fritz Wotrubas Kunst keine Spur von archaisierendem Manierismus. Darum fiel – und das hab ich nicht von Adorno – FWs Bühnenbild zum KÖNIG ÖDIPUS des hellenischen Admirals Sophokles, im Nebenberuf Dramatiker, so kongenial modern aus. Denn ein moderneres Werk, kurz-und-bündigeres Trauerspiel wie den Oedipus des Attischen Admirals (wieviel heutige Theaterbesucher vergegenwärtigen sich schon, dass er Flottenchef war?) ist in der Spielmacherei des 20. Jahrhunderts selten zu finden. Adorno meinte, FWs „Architektur“ ziele in eine unbekannte Zukunft hinein. Und da ich eine zu einer Abart Mensch, der entmenschlicht worden ist, zusammengebaute Figur hier in diesem Augenblick wiedersah, erinnerte ich mich daran, sie zuvor insgeheim ernannt zu haben zum Fabrikschornstein-Menschen. Würde, so fragte ich mich an der Seite Walter Muschgs unvermittelt, der NichtSymbolist Wotruba am Ende auch noch das Kernkraftwerkmonster aufs Podest schaffen? Den Atom-Meiler als personifizierte Unperson? Damals trug Fritz bei der Arbeit noch nicht die einem Fechterhelm ähnliche Maske, die ihm später seiner „Staublunge“ wegen ärztlich verordnet wurde. „Wenn die Herren einen Slibowitz wünschen, bedient’s euch – Uli, weisst ja, wo die Flaschen stehn.“ Muschg bestaunte ein fast 5 m breites, über 2 m hohes Relief, Gruppenbild aus schwärzlichem Marmor. „In der Tat grossartig. Ganz neu monumental“, lobte er.
Fritz brummte Dank für die spontane Anerkennung. „Schon verkauft. Kommt alles drauf an, dass man in dieser Welt aus seiner Kunst ein Göld macht.“ Meinte er mit dieser Welt die sogenannte derzeit westliche?, er, der 3 Jahrzehnte zuvor Helfershelfer der austromarxistischen Februarkämpfer gewesen war? Jedenfalls eine der Parolen des Sohns eines tschechischen Zuschneiders, die er auch an seine Schüler weiterzugeben pflegte. „Hier, unser Freund Uli, obwohl er Halbschweizer ist, hat den Dreh leider nicht heraus.“ Fritzens bübisches Grinsen.
Hinter dem Riesenrelief ein spitzes Krächzen. Plötzlich kam Koko drüber hinweggeschwirrt, liess sich im Wortsinn flüchtig auf des Meisters Schulter nieder. „Na, Koko? Meine Hausdohle“, stellte er vor.
„Die Hausdohle“ kannte ich schon seit mindestens zwei Jahren; sie war mit gebrochenem rechtem Flügel im Vorgarten des Böcklinstrassen-Ateliers notgelandet. Der Herr Franz hatte den Bruch
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