Ulysses – er heißt so, weil ihn das Unterwegssein ausmacht und Ankommen nicht seine Sache ist – kauft sich eine Zeitung und erfährt von einem Anschlag auf ein Institut für Meeresbiologie in Mexiko. Eine junge Wissenschaftlerin gilt als Hauptverdächtige. Solch eine Meldung findet sich gewöhnlich unter den vermischten Nachrichten, die Sensationen aus aller Welt für Leser aufbereiten, die sich etwas gruseln dürfen im Bewusstsein, dass sie damit nichts zu schaffen haben. So ergeht es Ulysses, der von der Notiz aufgewühlt nostalgisch wird und meint, dass früher „alles überschaubarer und besser gewesen war.“
Das ist nicht nur eine Fehleinschätzung, wie sich leicht nachvollziehen lässt, wenn man etwas aus dem Leben von Ulysses mitbekommt, der immerhin nach Pula aufgebrochen ist, um dort zu sterben. Ein unausgefülltes Leben hängt ihm nach, das mit dem Unfalltod seiner Frau die Leichtigkeit eingebüßt hat. „War eigentlich todtraurig, mein Leben lang, seit Angiolina gestorben ist.“ Wer aber Ulysses heißt, hat ein Recht auf das Weitermachen, wie holprig sich dieses auch immer gestalten mag. Deswegen verschiebt er das Sterben auf später und macht sich auf den Weg nach Wien.
Das Attentat auf die Forschungseinrichtung in Mexiko, wo Experimente mit Delphinen durchgeführt werden, berührt Ulysses, weil er den Eindruck gewinnen muss, in harten Zeiten zu leben. Natürlich hat er recht, aber was er nicht weiß ist, dass er selbst indirekt in dieses Gewaltkapitel der Geschichte involviert ist. In dem Institut arbeitet James, der Lebensgefährte seiner Tochter Marla. Zu der hat er aber jeden Kontakt verloren. Nach dem Tod seiner Frau gibt er sie in einem katholischen Heim ab, seither ist sie für ihn ein Phantom. Marla und Ulysses, Tochter und Vater, eine Familie, die nicht sein konnte, deshalb die Leerstellen in beider Leben.
Geschichte als schlüssiges System
Familiengeschichten stehen gegenwärtig hoch im Kurs als Seitenzweig des historischen Romans. Über Generationen hinweg lässt sich die Wirkung politischer Macht und wirtschaftlicher Umstände auf eine überschaubare Gruppe von Menschen nachweisen. Geschichte wird als schlüssiges System definiert, in dem Gesetzmäßigkeiten walten, die das Voranschreiten der Zeit unter das Dogma der Zwangsläufigkeit stellen. Generationen bilden Seilschaften, eng miteinander verbunden, auf Gedeih und Verderb. Mit Gedeih hat es Yara Lee nicht so sehr, deshalb hält sie sich nicht an die Spielregeln des handelsüblichen Familienromans. Dabei erstreckt sich die erzählte Zeit ihres Romandebüts Als ob man sich auf hoher See befände über drei Generationen. Nur wissen die kaum etwas voneinander. Jeder Einzelne ein Singulär, den kein Familiengefüge trägt und der keinen Rückhalt in der Geschichte findet. Wenn keiner weiß, wo er zu verorten ist, bedarf es einer Erzählinstanz, die jene Verbindungen herstellt, die den Figuren selbst verborgen bleiben.
Parallelgeschichten
Nach dem Geschichtsbild von Yara Lee verbietet es sich, sich chronologisch voranzuarbeiten. Drei Generationen, drei Kapselgeschichten, so sieht das Modell aus, nach dem sie vorgeht. Lelius, geboren in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, flüchtet als Jugendlicher vor seinen Eltern, die vorwiegend mit sich selbst beschäftigt sind, aus Amerika nach Frankreich, wo er Estrela kennenlernt. Sie bilden die erste Generation, aus der Ulysses hervorgeht. Ulysses lernt Angiolina kennen, sie haben Marla als Kind. Marla begegnet James, vielleicht darf man von der großen Liebe sprechen, bis zur Trennung jedenfalls. So viel Chronologie muss sein. Die löst Yara Lee auf, indem sie von Kapitel zu Kapitel die Perspektive ändert. So entstehen Parallelgeschichten, die sich über Zeiträume hinweg vergleichen lassen. Es geht nicht um das Nacheinander, sondern um den inneren Kern von Menschen, was sie antreibt, hemmt und am Leben hält. Das macht Lelius, Ulysses und Marla, die so gar nichts voneinander wissen, zu Persönlichkeiten mit individueller Ausstrahlung und ähnlicher seelischer Verfassung. „Die Vergangenheit sei unübersichtlich, Vergangenheit habe sie noch nie so recht verstanden“, heißt es von Estrela, was als Motto über diesem Buch stehen könnte. Geschichte als ein Prozess, der Menschen in die Gewalt nimmt, bleibt ausgespart.
Glückssuche
Nicht die große Geschichte, wie in Familienromanen üblich, bricht über die drei herein und verändert sie nachhaltig, sie alle sind über das Motiv der Glückssuche miteinander verbunden. Und dieses Glück hängt vom Wasser ab. Marla steht in einem Moment, da sich ihr Leben verkompliziert hat, „am Geländer einer Brücke und schaut hinunter ins Wasser, denn das gibt ihr, wie wir bereits wissen, das meiste Glück.“ Das erfährt der Leser am Ende, ist aber nicht überrascht, weil er sie schon zu Beginn als eine kennenlernt, die oft am Wasser steht, „das gibt ihr das meiste Glück.“ Glück und Wasser gehören zusammen. Wenn Lelius sein Glück sucht, ist er angewiesen auf ein Schiff, das ihn aus den USA nach Europa bringt. „Das Meer kann hypnotisieren“, heißt es einmal. Für die Figuren des Romans trifft das gewiss zu, die alle unter dem Eindruck des Meeres stehen.
Neigung zur Reflexion
In diesem Roman ist nichts farbig ausgemalt, es findet sich kaum schmückendes Beiwerk, von einem prallen Leben, das Leser so gern loben, wenn sie auf Figuren stoßen, die sie intensiv an ihrem Leben teilhaben lassen, finden wir bei Yara Lee gar nichts. Nie hat sie vor, ein Panorama vorzuführen, das Fülle suggeriert. Aus einem Lebensganzen schneidet sie kleine Segmente heraus, die für sich stehen, etwas über die jeweilige Person aussagen und fremd wirken. Das liegt am sprachlichen Zugriff der Autorin, die zu Reflexion neigt und dem Sprachdenken einiges abzugewinnen vermag. Knappheit ist das Prinzip, Einfühlsamkeit bleibt vorsätzlich auf der Strecke. Von Alexander Kluge kennen wir denkwürdige Episoden, herausgeschnitten aus dem Geschichtsganzen, die Mitteilung leisten über das Potenzial des Menschen in trüben Zeiten. Yara Lees Roman besteht aus kleinen Erzähleinheiten, die für sich stehen können und zusammen noch kein abgeschlossenes Ganzes, aber eine Meditation über das Glücksstreben der Menschen ergeben.
An Yara Lee haben wir eine Einzelgängerin. Sie macht ihr Ding, das reicht ihr. Sie schwimmt nicht mit dem Strom, sie bildet, um beim Motiv Wasser zu bleiben, ihre eigene kleine Quelle aus. Das will etwas heißen!