Ungenierte Tertiärbiografie

Manfred Mittermayers neue Bernhard-Biografie bietet viel Altbekanntes. Von Raimund Fellinger

Online seit: 7. Januar 2016

Ab Seite 145 wollte ich diese Biografie von Manfred Mittermayer, der sich bisher schon an zwei Gesamtdarstellungen versucht hat, über Thomas Bernhard nicht mehr weiterlesen: Überhaupt nichts Neues war bis zu Seite 144 zu erfahren über Vorfahren (Judex in seiner Arbeit über den Großvater Johannes Freumbichler und andere haben das alles viel detaillierter ausgebreitet, Huguets fehlerträchtiger Chronologie wird leider zu häufig vertraut), Geburt und Heranwachsen des Thomas Bernhard (bekanntlich weisen die autobiografischen Bücher Bernhards einen beträchtlichen Fiktionsanteil auf, was den Biografen nicht hindert, für das Referat dieser ersten 19 Jahre im Leben Bernhards die dort praktizierte Selbststilisierung nicht prinzipiell infrage zu stellen), über die schriftstellerischen Anfänge (deren Rekonstruktion auf sich zu „Zeitzeugen“ aufspielenden Menschen und in dieser Eigenschaft als vom Autor akzeptierten, als verlässlich angesehenen Quellen beruht – und die selbst dann noch kommentarlos, meist mit dem Epitheton „bemerkenswert“ versehen, referiert werden, wenn sie einander diametral widersprechen), das Scheitern als Lyriker Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre (es wird unter Hinzuziehung unzulänglicher, weil überholter Sekundärliteratur unterkomplex abgehandelt), und diese inhaltliche Dürftigkeit kommt einem auch noch in einem buchhalterdiplomatischen Zurückhaltungsmodus entgegen, in dem alles gleich gültig und damit gleichgültig ist und in dem die in ihrer Banalität nicht zu überbietende These gewagt wird, „das Werk dieses Autors“ gehöre „zum öffentlichen Erscheinungsbild seiner Persönlichkeit“, und in dem Widersprüche in der eigenen Biografiekonzeption ignoriert werden (da ist von „biographischem Erzählen“ die Rede, das auf „Wirkungszusammenhänge“ abstellt, gleichwohl wird auf Bourdieus diese Sicht widerlegenden, selbstredend „viel beachteten“ Essay über die „biographische Illusion“ verwiesen – der Autor hätte seine adjektivische Bewertungssucht den Schriften seiner Studenten vorbehalten sollen), weshalb der Verfasser schließlich gezwungen ist, da er, statt zu erzählen, zählt, also Faktizität mit Penibilität verwechselt, kritisches Quellenstudium und eigene Haltungen zum Referierten (eine Rezensentin meinte, Bernhard werde in dieser Biografie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt – von den Tatsachen hat sie sich allerdings nicht wirklich beindrucken lassen, bezeichnet sie doch Johannes Freumbichler, nicht, wie korrekt, Hedwig Stavianicek, als Bernhards „Lebensmensch“ –, und der Biograf verschwinde „hinter seiner Figur“ ((das ist als Lob gemeint, ist jedoch tatsächlich ein vernichtendes Urteil)), ein anderer Rezensent bescheinigte dem Biografen ein „dezentes“ Vorgehen), hintanstellt, zum Zauderer ohne Meinung zu werden.

Nachgedoppelt
Auf Seite 145 wollte ich mich anderem zuwenden, setzt doch, mit dem ersten Satz, anhand von Frost das Nacherzählen der Bücher Bernhards ein, ausgehend vom Kommentarteil der Werke. Denn im Kommentar (erschienen 2003, verfasst von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler) kann man nachlesen: „Am 15. Januar 1962 schreibt Thomas Bernhard Hedwig Stavianicek aus Salzburg, daß er ,noch heute abend‘ eine neue Prosaarbeit anfangen wolle, und berichtet ihr einige Tage später, daß die ,wunderbare Stimmung‘ seiner Arbeit über ihm liege und diese schon ziemlich weit gediehen sei. Anfang Februar übersiedelt Thomas Bernhard nach St. Veit, dem Ort, in dessen Kirche es 1950 während eines Aufenthalts in der Lungenheilstätte Grafenhof zur ersten Begegnung mit Hedwig Stavianicek gekommen ist und den beide immer wieder besuchten. Dort setzt er die Arbeit fort und trifft sich mit seinem im Schwarzacher Krankenhaus famulierenden Bruder Peter Fabjan, der ihm bei diesen Gelegenheiten unter anderem ,medizinische Schauergeschichten‘ erzählt.“ Bei Mittermayer wird daraus unter korrekter Quellenangabe: „Mit der Arbeit an seinem Debutroman Frost dürfte Thomas Bernhard etwa Anfang 1962 in Salzburg begonnen haben. Anfang Februar begibt er sich nach St. Veit, wo sein Halbbruder Peter Fabjan am Krankenhaus Schwarzach einen Teil seiner medizinischen Ausbildung absolviert; dieser erzählt ihm dort regelmäßig ,medizinische Schauergeschichten‘, wie Bernhard es nennt.“ Also auch hier Altbekanntes.

Häufige Selbstzitate
Und dann las ich doch ab Seite 145 weiter, neugierig, wie lang ich dieses sich ungeniert als Tertiärbiografie gerierende Buch ertragen konnte. Dabei geriet ich ins Staunen über so viel Nachbeten des Bekannten und notierte mir die einschlägigen, aus anderen Publikationen stammenden Stellen – der Autor verweist in seinem Vorwort darauf, er habe „einige Passagen aus einer Reihe von [eigenen] Einzelstudien“ übernommen und sich auch auf die Ausgabe der Bernhard’schen „Werke“ gestützt. Das Ausmaß und die Art dieser Übernahmen ist sehr ansehnlich und anschaulich. Einige wenige Beispiele der ununterbrochen sich fortsetzenden Reproduktion von Sekundärliteratur: Aus einer eigenen Abhandlung über „Tamsweg“, eine unpublizierte frühe Erzählung Bernhards, zitiert sich Mittermayer selbst (Seite 140f.), auf sein Buch Thomas Bernhard (Suhrkamp Verlag,  2006) greift er, wie beim Kommentarteil der „Werke“ ungezählte Male zurück: z. B. Seite 204 in Bezug auf den Roman Das Kalkwerk: „Im Grunde ist der dritte längere Erzähltext des ehemaligen Gerichtsreporters eine Kriminalgeschichte. In der Weihnachtsnacht erschießt der Privatgelehrte Konrad seine Frau, die seit vielen Jahren an den Rollstuhl gefesselt (und eigentlich seine Halbschwester) ist. Er hat sich mit ihr in ein stillgelegtes Kalkwerk zurückgezogen, das er zu einem kerkerartigen Gemäuer umgebaut hat, damit es ihn gegen eine als bedrohlich empfundene Umwelt schützt.“ Im Suhrkamp-Buch steht: „Eigentlich ist der dritte Roman des ehemaligen Gerichtsreporters Bernhard eine Kriminalgeschichte. In der Weihnachtsnacht erschießt der Privatgelehrte Konrad seine verkrüppelte, seit vielen Jahren an den Rollstuhl gefesselte Frau (die zugleich seine Halbschwester ist). Er hat sich mit ihr in ein stillgelegtes Kalkwerk zurückgezogen, das er zu einem kerkerartigen Gemäuer umgebaut hat, damit es ihn gegen eine als bedrohlich empfundene Umwelt schützt.“

Und so geht das weiter mit den Übernahmen bis ans Ende. Rechnet man noch das Zurückgreifen des Biografen auf die bisher erschienen diversen Briefwechsel von und mit Thomas Bernhard ein, die ungewollt komisch einzustufenden Aufschreibungen des Realitätenvermittlers Hennetmair sowie andere Erinnerungsbücher der verschiedensten Couleur dazu, ist es unvermeidbar, unter Verwendung des von Mittermayer häufig benutzten Wortes „bemerkenswert“, diese Biografie als „bemerkenswert unbemerkenswert“ zu charakterisieren.

Raimund Fellinger ist Cheflektor des Suhrkamp Verlages. Er hat die Bernhard-Ausgabe als Herausgeber eines Bandes und als Lektor mitkonzipiert.

Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard.
Eine Biografie. Residenz Verlag, Salzburg 2015.
456 Seiten, € 28 (D) / € 28 (A).