Gegen den Strich

Für eine poetologische Lesart der Bratzlawer Kabbala. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 3. März 2015

Reb Tal: „Alle Buchstaben bilden die Abwesenheit.“
(Edmond Jabès)

I.

Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810) – auch „der Bratzlawer“, „der Breslover“ genannt – ist durch die wortmächtige Vermittlung Martin Bubers als Verfasser ebenso erbaulicher wie abgründiger „Geschichten“ weithin bekannt, sogar populär geworden. Seit deren deutschsprachiger Erstausgabe von 1906 sind die Texte vielfach nachgedruckt und aus dem Deutschen auch in andere Sprachen übersetzt worden. Mit einer erweiterten, philologisch aufgebesserten, stilistisch aber glanzlosen Neufassung der Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw  hat Michael Brocke in den 1980er-Jahren das Interesse an dem großen chassidischen Gottesmann noch einmal nachhaltig reaktiviert.(1)

Weder bei Brocke noch bei Buber ist allerdings zu erfahren, dass Nachman nicht nur ein einfallsreicher und wirkungsstarker Geschichtenerzähler war, sondern auch – in viel größerem Umfang und viel höherer Qualität – ein Lehrmeister des Chassidismus und der neuzeitlichen Kabbala. Selbst Gershom Scholem, der dem chassidischen Judentum und der kabbalistischen Mystik mehrere Buchpublikationen gewidmet hat, geht an keiner Stelle auf Rabbi Nachmans Glaubens- und Lebenslehre ein, sondern begnügt sich damit, ihn, der als Chassid wie als Kabbalist eine herausragende (wiewohl umstrittene) Autorität war, in seinem umfangreichen Werk nur gerade zwei-, dreimal beiläufig zu erwähnen.(2)

Solche Missachtung (oder Verkennung) ist durchaus bemerkenswert, wenn auch kaum begreiflich, steht doch den rund 200 Druckseiten narrativer Prosa, die man von Nachman gemeinhin kennt, ein Konvolut von didaktischen, homiletischen, hermeneutischen, polemischen und aphoristischen Schriften gegenüber, das Tausende von Manuskript- beziehungsweise Druckseiten umfasst. Unter anderm wurde aus diesem Fundus das Opus magnum des Bratzlawers kompiliert, das 1808 und – postum – 1811 in zwei Teilen unter dem Titel Likkutei Moharan (Gesammelte Lehrmeinungen des Rabbi Nachman) erschien und das neuerdings als kommentierte hebräisch-englische Parallelausgabe in fünfzehn Textbänden greifbar ist.3 Eine deutsche Übersetzung der „Lehrmeinungen“ wie auch der übrigen diskursiven Schriften Nachmans liegt bisher nicht vor.

Die Rezeption von Rabbi Nachmans religiösen, moralischen und lebenspraktischen Lehren war von Beginn an ebenso kontrovers wie die Einschätzung seiner Persönlichkeit. Noch heute, mehr als 200 Jahre nach seinem allzu frühen Tod im ukrainischen Uman, sind sich Erforscher und Exegeten seiner Texte uneins darüber, ob man deren delirierende Rhetorik als Ausdruck von Genie oder Wahnsinn aufzufassen habe. Der Rabbi selbst hätte darin vermutlich keinen Unterschied, schon gar keinen Gegensatz erkennen wollen – er plädierte für den „gesunden Menschenverstand“ im Gegenzug zu wissenschaftlichem oder philosophischem Denken, subsumierte aber unter den Begriffen „gesund“ und „Verstand“ ganz einfach alles, was einem Menschen durch den Kopf gehen kann: spontane Einfälle, visionäre Erleuchtungen, absurde Träume, kindische Macken, hermetischer Tiefsinn.

Als Verächter aller Buchweisheit war Rabbi Nachman gleichwohl weitläufig und gründlich belesen; als Fundamentalkritiker der Naturwissenschaften und besonders der Medizin war er selbst ein kenntnisreicher Gelehrter; als dezidierter Asket war er ein Mann voller Lebensfreude und scharte eine vielköpfige Familie um sich; als Präzeptor der einfachen, volkstümlichen, gemeinverständlichen Rede bediente er sich gleichwohl häufig einer weitschweifigen und unnötig komplizierten Ausdrucksweise, die alles Gesagte zum Rätsel werden ließ; als antiautoritärer Eiferer war er seinerseits ein autoritärer Rechthaber und Polemiker, der seine eigene Wahrheit für die Wahrheit schlechthin und sich selbst für einen auserwählten Gerechten hielt; als unversöhnlicher Kritiker des Zaddikismus hatte er keine Scheu, sich selber als den erhabensten, gottgefälligsten und weisesten aller Zaddikim zu empfehlen. Auch dass er den Rückzug in die Natur und die weltabgewandte Selbsterkundung propagierte, derweil er unablässig im In- und Ausland auf Reisen war, um seine Geschichten zu erzählen, seine Lehren zu verbreiten und Anhänger zu gewinnen, konnte man ihm zum Vorwurf machen – worauf er jeweils zurückgab, er sei eben nur dann mit sich allein, wenn er nicht allein sei …

Die provokante Widersprüchlichkeit seines Auftretens wie auch seine paradoxale Rhetorik brachten dem Bratzlawer weit mehr Feinde als Gefolgsleute ein. Manche Zeitgenossen zweifelten an seinem Verstand und an seiner Aufrichtigkeit, und noch heute, da er als „Klassiker“ des chassidischen Kabbalismus kanonisiert ist, bleibt sein Status umstritten. „Weder haben wir da einen klaren religiösen Gedanken noch den schönen Schein einer dichterischen Schöpfung vor uns“, stellte einst Simon Dubnow im Hinblick auf Nachmans lehrhafte Geschichten fest, die er im Übrigen für „Fieberphantasien eines an Körper und Geist kranken, von religiösem Wahn besessenen Menschen“ hielt und denen er jeden Erkenntniswert absprach.(4) Auch Elie Wiesel hat schon einmal die Inkohärenz von Nachmans Denken und Verhalten moniert, verwies aber gleichzeitig mit ingeniöser Einfühlung darauf, dass der nur scheinbar verrückte Rabbiner tatsächlich als Verrückter wahrgenommen werden wollte; dass er sich bewusst die Rolle eines Witzbolds und Idioten aneignete, um nicht als abgehobener Lehrmeister mit verbindlicher Lehrmeinung wahrgenommen zu werden.

Der Bratzlawer wollte nicht angesehen sein, auch wenn er eben darauf mit peinlicher Insistenz beharrte; er wollte vielmehr durchschaut werden in seiner Verwundbarkeit, seiner Gebrochenheit, seinem vielfältigen und wandelbaren Charakter. „Aber ja“, schreibt dazu Elie Wiesel in seinem erhellenden Essay über Nachman: „Ihm lag daran, dass die Leute ihn durchschauten. Das ist der Grund, weshalb er täglich seine Identität und auch seine Verkleidung wechselte – er wollte anders sein. Lieber ein Komödiant, ein Hochstapler, ein Narr denn ein Rabbiner. Alles – nur kein Gerechter. Von daher sein befremdliches Verhalten, seine Unbedarftheit, sein frei schwebender Schwachsinn; er wollte als ein armer, vom Himmel gefallener und von den Menschen vergessener Vagabund wahrgenommen werden, als ein schwimmendes Wrack ohne Herkunft und ohne Ziel.“(5)

Nachmans Wunsch war es, das Denken von vorgegebener Begrifflichkeit, von logischer Schlüssigkeit, von objektiver Verbindlichkeit auf Subjektivität hin zu befreien, statt es – wie unter orthodoxen Juden oder aufgeklärten Christen üblich – methodologisch und institutionell zu domestizieren. Zum freien, intuitiven, nomadisch sich auslebenden Denken gehörten für ihn naturgemäß eben auch Widersprüche, Wiederholungen, Leerläufe, absurde Verschlaufungen, spontane Einfälle, und wenn man ihm Trivialität vorwarf, konnte er dies leicht mit dem Hinweis parieren, triviale Gedanken seien allemal freier und wahrhaftiger als fixe Ideen. Für noch freier und noch wahrhaftiger als irgendwelche in Worte gefasste Gedanken hielt er allerdings das Lachen und das Tanzen. Dass ein hochkarätiger Schriftgelehrter wie Gershom Scholem damit nicht eben viel anfangen konnte, ist leicht nachvollziehbar: Der Bratzlawer selbst hat die Gelehrsamkeit – auch seine eigene – bei der Wahrheitssuche als hinderlich empfunden und eben deshalb dafür plädiert, allem Vorwissen und Erkennenwollen zu entsagen.

II

Auch wenn sich Rabbi Nachman zu Fragen der Ästhetik und Poetik nur indirekt – etwa in seinen Bemerkungen über das Erzählen oder zum bildhaften Sprachgebrauch – geäußert hat, bietet sein Werk diverse Anhaltspunkte, mit denen sich die Frage nach den Spezifika künstlerischer, vorab literarischer Autorschaft verknüpfen ließe. Wo es um Autorschaft geht, ist bei Nachman durchweg von Schöpfertum die Rede, und jede Art von menschlichem Schöpfertum steht bei ihm (nicht anders als bei vielen seiner „romantischen“ Zeitgenossen) in ständigem Vergleich zum göttlichen Schöpfungsakt – zu dessen geheimnisvollen Prämissen, zu dessen dunklem Sinn und dessen katastrophalen Konsequenzen.

Nachman selbst hat seine Autorschaft als problematisch, sein Werk als unzureichend, mitunter auch als frevelhaft und schädlich empfunden. Wichtige Teile daraus (angeblich die wichtigsten) hat er, geplagt von Selbstzweifeln und Wirkungsangst, dem Feuer übergeben – ein Vernichtungsakt, der den Text aufwerten, ihn in den Bereich des Hermetischen, wenn nicht gar des Heiligen einführen sollte: Niemand durfte ihn zu lesen bekommen, nur als ungelesener, als unlesbarer konnte er, meinte Rabbi Nachman, seinen vollen Sinn entfalten – indem er als Geheimnis bestehen blieb.

Als Autor hat sich Nachman, erst 31 Jahre alt, eingestandenermaßen dadurch entmächtigt, dass er seine gesamte Textproduktion einem Skribenten überantwortete, dem Rabbiner Nathan Sternhartz von Nemirov, der in der Folge all seine Geschichten, Reden, Briefe, Vorträge und Abhandlungen aus dem Jiddischen ins Hebräische übertrug, sie schriftlich fixierte, zum Teil auch ausarbeitete und ergänzte, sie zu „Sammlungen“ kompilierte und schließlich zum Druck beförderte. Nathan, der sich als Nachmans treuester Jünger und erster Biograf vorbehaltslos in dessen Dienst stellte, übernahm damit die Autorschaft am Zeichensatz des Schrifttexts, zu dem Rabbi Nachman die mündliche Originalfassung lieferte. Reden, Hören, Schreiben (dazu auch Übersetzen) wurden also einer doppelten oder zweistufigen Autorschaft überantwortet. Auf die Textproduktion wirkte sich dies insofern aus, als nun die Verantwortung für das Konzept und die (mündliche) Originalfassung getrennt war von der Niederschrift des Textes, der ebenfalls als Original gelten sollte, obzwar es sich dabei lediglich um eine Nachschrift und darüber hinaus um eine Übersetzung handelte. So ergibt sich ein prekär anmutender Werkstatus, der freilich in der jüdischen Tradition des Lesens und Schreibens verschiedene Entsprechungen kennt und deshalb auch nicht als etwas Besonderes oder gar Singuläres wahrgenommen wird.
Was bei der talmudistischen Exegese schon lange praktiziert worden war, nämlich das fortschreitende, nicht so sehr auf den Text eingehende als vielmehr von ihm ausgehende Denken (ein Weiterdenken „über den Vers hinaus“)(6), das hat Rabbi Nachman mit rücksichtslosem Eigensinn ins Extrem getrieben, bis zu einem Punkt, an dem Wahn und Sinn tatsächlich kaum noch auseinander zu halten sind. Indem er den Akt des Schreibens – des Nachschreibens, Umschreibens, Überschreibens – an einen Mitautor delegierte, wertete er für sich selbst den Akt des Lesens zu einem produktiven Vorgang auf, der nicht mehr primär dem Verstehen und Bewahren des Gelesenen verpflichtet sein sollte, sondern der innovativen Sinnproduktion – ein Lektüreverständnis, das Fehldeutungen geradezu provoziert, um daraus neue Lesarten zu gewinnen.

Die so verstandene und so angewandte Lektüre ist dementsprechend eher als ein Gegenlesen denn ein Mit- oder Nachlesen aufzufassen, und „schöpferisch“ kann sie gerade dann werden, wenn sie auch als „Verlesung“, als Falschlesung ihre Berechtigung bekommt.(7) Der französische Talmudist Marc-Alain Ouaknin schlägt dafür die treffende wortspielerische Formulierung lire aux éclats vor, also „schallend lesen“ (mit impliziter Bezugnahme auf rire aux éclats, d. h. „schallend lachen“).(8) Da mit „éclats“ aber auch Funken oder Scherben gemeint sein können (denen in der Kabbala große symbolische Bedeutung zukommt), bedeutet der Ausdruck, als Homophon begriffen, auch so viel wie „in Trümmer lesen“. Beides – das laute Lesen wie das dekonstruktive Lesen – gehört zu Rabbi Nachmans Lektürekonzept, das den Schrifttext – ob als Feuerwerk oder als Trümmerwerk – überhaupt erst ermöglicht, ihn produktiv und innovativ werden lässt. Darin verbirgt sich die ungewöhnliche, deshalb auch unbequeme Idee – oder Vision –, wonach Autorschaft nicht Ordnung, sondern Chaos schafft, dass sie Funken und Scherben statt eines kohärenten Ganzen erzeugt, um auf diese (einzig mögliche) Weise den späteren Leser in die Pflicht zu nehmen, ihm aber auch die Möglichkeit zu geben, aus all den unverbundenen Fragmenten eine eigene, subjektiv bedingte Ordnung herzustellen und damit selbst zum Autor zu werden – zum Urheber eines Werks, das kraft kreativer Lektüre entsteht und in jedem Fall, ungeachtet seiner Qualität, als originell und singulär gelten darf. Eben diese Extremposition vertritt, zweihundert Jahre danach, der einflussreiche Großkritiker Harold Bloom, wenn er kurz und bündig festhält, literarisches Schreiben bestehe darin, Vorläufertexte – ob von Goethe oder Pound, von Homer oder Wallace Stevens – zu lesen, genauer: sie fehlzulesen (misreading), um sie als Überschreibung und Fortschreibung erneut produktiv zu machen.(9)

Originell können demzufolge bloß der Akt und die Art der Lektüre von Fremdtexten sein, nicht aber die angebliche „Schöpfung“ eines angeblichen „Originaltextes“. Was der solcherart entmächtigte Autor beim Lesen und durch das Lesen von Fremdtexten zu unverbundenen (oder unsinnig verbundenen) „Funken“ und „Scherben“ fragmentiert, das bietet sich dem nachkommenden Leser zu eigenmächtiger Rekonstruktion an, so dass dieser Leser zum Komplizen jenes Autors und zum Vollender eines Werks von eigener Ordnung und eigenem Anspruch wird. Ein Gleiches ließe sich in generellem Hinblick auf die Sprache sagen, die als solche auch bloß einen chaotischen Worthaufen bildet, der erst durch seine regelhafte Ausrichtung und praktische Erprobung zu sinnvollem Einsatz kommen kann. Was gemeinhin als „Originaltext“ gilt, ist demnach lediglich eine wie immer geartete, stets aber veränderte und ergänzte „Kopie“ eines bereits gelesenen Vor-Textes.

III

Wenn Rabbi Nachman, talmudistischer Tradition folgend, die in weitestem Verständnis „literarische“ Autorschaft an der kreativen Lektüre festmacht und das „Schöpfertum“ mit produktiv verfremdender Nachbereitung gleichsetzt, nimmt er damit um gut hundert Jahre vorweg, was die Poetik der klassischen Moderne, besonders aber die europäische Avantgarde der 1910er-, 1920er- Jahre zum Programm machen wird: Traditionsbruch als innovatives Verfahren, Schmähung anerkannter Autoritäten, Ablehnung oder Parodierung des bestehenden Kanons, Schwächung originaler Autorschaft bei gleichzeitiger Aufwertung des Sprachmaterials und seiner Eigendynamik, seiner „Selbstorganisation“ – all dies hatte sich auch Rabbi Nachman mit staunenswerter Radikalität und Konsequenz zur Aufgabe gemacht. Doch ihm ging es, wohlverstanden, nicht um Literatur als Kunst, sein Interesse galt allein der religiösen Rede, deren vielfältige Ausdrucksformen – von der Legende über den Lehrsatz bis zum Gebet – er gleichermaßen beherrschte und die er zusätzlich ergänzte durch bald kryptische, bald komische oder auch absurde Aussagen, deren Sinn darin bestehen sollte, neuen Sinn beziehungsweise Widersinn hervorzurufen. Nachmans bald schwärmerische, bald nörglerische Rhetorik war durchweg von einer fundamentalen Sprachskepsis konditioniert, von der schlichten Einsicht, dass die Sprache der realen Welt stets nachgeordnet ist, sie lediglich benennen, nicht aber hervorbringen kann.

Das ursprüngliche „es werde“ als Prämisse und Anlass dafür, dass „es ward“ (und dazu auch noch „gut“ war), bleibt allein Gott vorbehalten. Die göttliche Wahrheit ist letztlich in dem beschlossen und auf das beschränkt, was Gott kraft des Urheberworts als Wirklichkeit geschaffen hat. Demgegenüber muss sich das Menschenwort mit der sekundären Funktion des Bedeutens begnügen, dies bei hohem Risiko der Missverständlichkeit, der Mehrdeutigkeit, der unstatthaften Verallgemeinerung, der Unklarheit und darüber hinaus der Verführung zur Lüge.

Rabbi Nachman, der mehrere Sprachen beherrscht haben soll, ist mit diesem Defizit nie wirklich zurecht gekommen und hat eben deshalb eine Vielfalt von Sprechstilen entwickelt und auf verwirrliche Weise eingesetzt. Seine rhetorischen Register reichen vom Grummeln und Stottern über den narrativen Diskurs bis zur delirierenden Rede und – darüber hinaus – zum Schweigen, das vielsagend und nichtssagend zugleich sein kann und das er in bewusst gesetzten Pausen gern zur Geltung bringt, um das Unsägliche und Unaussprechliche wenigstens als Geheimnis zu evozieren: Leere statt Lehre.

Wo es um die Leere geht, ist in der Kabbala die Lehre vom Zimzum angesagt.(10) Es handelt sich dabei um eine hochkomplexe, ebenso schlüssige wie paradoxale Schöpfungslehre, die darauf hinausläuft, Gott auf die Nichtigkeit eines Punkts zurückzudenken, ihn also mit dem Nichts zu identifizieren und die Erschaffung wie auch den Erhalt der Welt ganz dem Menschen zu überantworten. Urheber dieser vielleicht kühnsten Kosmogonie überhaupt ist der aus Galiläa stammende Kabbalist Isaak Luria (1534–1572) – als Rabbiner auch „der Löwe von Safed“ genannt – , der sie aus Meditationen und Visionen erarbeitet, jedoch nur seinen engsten Vertrauten mündlich zur Kenntnis gebracht hat. Wie später im Fall von Rabbi Nachman waren es Schreiber und Kommentatoren, die Lurias Werk als Text festgehalten und verbreitet haben; er selbst hinterließ bloß beiläufige Notate, seine Lehren können also im originalen Wortlaut nicht verifiziert werden. Die Überlieferung lässt aber, der Eigenwilligkeit seiner Skribenten und Exegeten zum Trotz, keinen Zweifel an ihrer Authentizität aufkommen.(11)

Der Zimzum ist nur eine von mehreren ingeniös aufeinander abgestimmten kosmogonischen Ideen, mit denen Luria den jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos und allgemein das religiöse Denken in der beginnenden Neuzeit erweitert, aber auch nachhaltig relativiert, wenn nicht überhaupt in Frage gestellt hat. Der hebräische Begriff des Zimzum bedeutet so viel wie Kontraktion, Rückzug, Rücknahme und wird bei Luria als ein selbsttätiger Prozess gedacht – sich selbst zusammenziehen, sich selbst zurücknehmen, sich selbst aufheben. Gott vernichtigt sich damit zur Nullität und ist bloß noch als ein ausdehnungsloser Punkt vorstellbar. Durch seine Selbstentmächtigung und Selbstverwindung als Schöpfer eröffnet er überhaupt erst den Raum für die Entstehung der Welt, deren Erschaffung und Bewahrung nun zur Gänze dem Menschen anheimgestellt ist: Gott überlässt die Schöpfung seinem Geschöpf, nimmt keinerlei Einfluss darauf, fordert nichts, verhindert nichts, greift an keiner Stelle und in keinem Moment in die von ihm fortan geschiedene Welt ein. Man könnte das auch für einen Gottesbeweis ex negativo halten. Tatsächlich wurde die lurianische Lehre des Zimzum, deren Faszination bis heute ungebrochen ist, weithin als atheistische Häresie verworfen.

Dass sich Rabbi Nachman explizit in die Nachfolge Isaak Lurias gestellt und dessen Schöpfungskonzept – gegen den Widerstand konservativer Chassiden wie auch orthodoxer Talmudisten – öffentlich propagiert, dabei aber auch freidenkerisch abgewandelt hat, ist weniger erstaunlich als sein Beharren auf dessen nihilistischem Gottesbegriff. Die von Luria vorbedachte Weltkatastrophe („Bruch der Gefäße“) und der von ihm aufgezeigte Weg zu deren Reparatur und Überwindung („Tikkun Olam“) findet bei Nachman weit weniger Beachtung als die finstere Negativität des leeren Kosmos und des fernen, auf sich und in sich zurückgezogenen Gottes. Der Kosmos ist da, wo Gott nicht ist, und Gott ist das, was im Kosmos keinen Platz hat, weil es – also er, der sich selbst zu nichts gemacht hat – einen solchen Platz weder beansprucht noch benötigt und auch gar nicht einnehmen kann. Da Gott ein Nichts beziehungsweise das Nichts ist, kann er nur in seiner Abwesenheit gegenwärtig sein, mithin niemals dort, wo die Welt ist, deren Entstehung er ja eben durch seinen Rückzug auf die eigene Inexistenz ermöglicht hat.(12)

Von diesem leeren Gottesbegriff (der eher eine Vorstellung denn ein Begriff ist) leitet der Bratzlawer die durchaus weltliche Forderung her, der Mensch müsse sich von sich und aus sich selbst zurückziehen, um sich seiner zu versichern. Um sich seiner als Individuum zu versichern, muss er, unter anderm, eine unverwechselbar persönliche Sprache herausbilden, die sich von den durch Traditionen und Institutionen verfestigten Diskursen freimacht. Auch in diesem Zusammenhang versteht Nachman den Spracheinsatz zunächst als eine besondere Art des Lesens, als eine Lektüre „gegen den Strich“ dessen, was traditionell und institutionell bereits geschrieben steht. Was da steht, soll durch eigensinniges Lesen in Bewegung, wenn nicht gar in Unordnung gebracht werden, damit es neuen Sinn erzeugen und „verstrahlen“ kann.

Jeder starke Text, meint Rabbi Nachman, reiche über sich selbst hinaus – sein Bedeutenkönnen übertrifft sein Bedeutenwollen. Sich bei dem aufzuhalten, was ein Text bedeuten will, mag heißen, dass man ihn verstanden hat, nicht aber, dass man daraus einen weiterreichenden Sinn gewinnt. „Treue“ Lektüre kann keine produktive Lektüre sein und kann auch kein innovatives Schreiben aktivieren, so wie umgekehrt „starke“ Lektüre keine treue Lektüre sein kann. Um es abschließend zu wiederholen: Einzig aus unbotmäßigem – ob kritischem oder naivem – „Zerlesen“ vorgegebener Texte können neue starke Texte erwachsen. Was nach Rabbi Nachman für das jüdische Schrifttum zu gelten hat, trifft auf Literatur allgemein zu, auch wenn dies noch keineswegs allgemein so akzeptiert ist. „Schöpferisches Schreiben kann nicht ohne das Aufreißen und Auseinanderbrechen dessen vor sich gehen, was schon [als Text] da ist – nicht ohne den Bruch und die Neuschaffung des Horizonts des Gegebenen [d. h. der vorgegebenen Texte]“, heißt es in seinen diesbezüglichen Lehrmeinungen: „Unser wirklicher Beitrag zu einem derartigen Text und zu dem Denken, das in ihm ausgesprochen ist, kann nur darauf ausgerichtet sein, den Moment schöpferischer Zerreißung zu erreichen, diese ganz andere, erneuerte Dämmerung, in der sich alle Dinge in unbekannter Landschaft unversehens anders darbieten.“(13)

Nachmans lurianische Vorstellung eines hinter seine und für seine Schöpfung sich zurückziehenden Gottes wie auch seine Funktionsbestimmung des Schreibens als kreative Lektüre weisen voraus auf den modernen Topos vom „Verschwinden“ oder vom „Tod“ des Autors, der in den antiautoritären 1968er-Jahren die internationale Literaturdebatte dominierte und schließlich in der Toterklärung der künstlerischen Literatur schlechthin ihren Höhepunkt fand. Heute, da jene Forderungen weitgehend vergessen sind und literarische Autorschaft erneut – bei Buchpremieren, Preisverleihungen, Lese- und Messeauftritten – vehement personalisiert wird, sollte man sich vielleicht einmal wieder daran erinnern, dass jeder Schreibende, ob er will oder nicht, an bereits Geschriebenem mit- und weiterschreibt, und dies in einem Ausmaß, dass man mit Edmond Jabès prosaisch konstatieren darf: Schreiben heißt geschrieben werden.

Anmerkungen
1    Die Geschichten des Rabbi Nachman, ihm nacherzählt von Martin Buber, Leipzig 1906; Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, aus dem Jiddischen und Hebräischen übersetzt und kommentiert von Michael Brocke, München 1985. Beide Ausgaben enthalten biografische Aufsätze zu Rabbi Nachman sowie Erläuterungen zu seinen Texten; Buber ergänzt die Geschichten durch ausgewählte „Worte des Rabbi Nachman“ aus andern Schriften und durch allgemeine Hinweise auf die jüdische Mystik.

2    Siehe u. a. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, wo Rabbi Nachman zwar als „tiefer Kopf“ (S. 380) genannt, aber nicht weiter gewürdigt wird. Man darf vermuten, dass der Bratzlawer wegen seiner inkohärenten Lehrmeinungen, seiner radikalen Sprach- und Wissenschaftsskepsis und generell wegen seines chassidischen Extremismus bei Scholem kein adäquates Verständnis finden konnte.

3    Likutey Moharan („Collected Teachings of Our Teacher, Rabbi Nachman“), translated to English and annotated by Rabbis Chaim Kramer and Moshe Mykoff, I-XV, Jerusalem/New York 1984-2014.

4      Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus, II, Berlin 1931, S. 216.

5    Elie Wiesel, Célébration hassidique, Paris 1972, S. 202; deutsch von Felix Philipp Ingold

6    Vgl. dazu u. a. Emmanuel Lévinas, L’Au-delà du verset, Paris 1982.

7    In talmudistischem Verständnis ist Tradition, als das zu Lesende, eng an Innovation und Offenbarung gebunden: Lektüre als kreativer Prozess. Vom Exegeten wird „Kühnheit vor dem Text“ gefordert, er soll verfestigte Traditionen (Lesarten) unterlaufen und sprengen, darf sich nicht zufrieden geben mit dem, was er liest. Der vorgegebene Text kann und soll nicht eindeutig sein – nur in seiner Mehrstimmigkeit und Rätselhaftigkeit wird er sich als Lehre behaupten. Siehe dazu den aufschlussreichen Versuch über die „unendliche“ Bibellektüre jüdischer Kommentatoren von David Banon, La lecture infinie, Paris 1987.

8    Marc-Alain Ouaknin, Lire aux éclats, Paris 1989.

9    Harold Bloom, Kabbalah and Criticism, New York 1975, S. 102.

10    Zur Entstehung, Überlieferung und Bedeutung der Lehre vom Zimzum siehe u. a. Marc-Alain Ouaknin, Tsimtsoum, Paris 1992; Christoph Schulte, Zimzum, Berlin 2014.

11    Zur Einführung in die lurianische Kabbalistik siehe Gershom Scholem, Die jüdische Mystik, Zürich 1957, Kap. VII; dazu diverse Nachdrucke. Vgl. Gerold Necker, Einführung in die lurianische Kabbala, Frankfurt a.M. 2008.

12    Siehe dazu die Hinweise und Zitate bei Christoph Schulte, a.a.O., S. 274-288.

13    So Rabbi Nachman in Likkutei Moharan (II, § 24), hier zitiert und übersetzt nach Marc-Alain Ouaknin, a.a.O. (Anm. 10), S. 83.

Felix Philipp Ingold lebt als Schriftsteller, Publizist und Übersetzer im Waadtländer Jura. Jüngste Buchpublikationen: Leben & Werk (Tagesberichte zur Jetztzeit, 2014), Nee die Ideen (Gedichte, 2014); als Herausgeber: Lew Schestow, Apotheose der Grundlosigkeit (2015). Alle Titel bei Matthes & Seitz, Berlin.

Dieser Artikel erschien zuerst in VOLLTEXT 1/2015.