Im Jahr 2022 las der Mann, der alles liest, die 71.524 im deutschen Sprachraum verlegten Bücher. Darunter waren 64.278 Neuerscheinungen. Diejenigen E-Books und Print-on-Demand-Bücher, die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels nicht erfasst wurden, hat der Mann, der alles liest, nicht gezählt, auch nicht die Self-Publishing-Bücher.
Der Mann, der alles liest, liest auch alle Besprechungen. Anders als früher wird er damit in einer Zeitspanne fertig, die im Nanosekundenbereich liegt. Die regulative Idee der klassischen Literaturkritik war ein God’s eye-point of view: Alle literarischen Bücher sollten besprochen werden, die wichtigen sollten herausgehoben, die unwichtigen ausgesondert werden. Wer wollte, sollte vergleichen können. Die vielen Kritiker fusionierten zu einem Gott. Zwischen den Teilgöttern gab es soziale Unterschiede. Manch einer hielt sich für Jupiter oder wurde dafür gehalten. Die Veranstaltung hieß – Understatement – Literaturbetrieb. Dafür wurde sie – Hyperbole – von Pierre Bourdieu als literarisches Feld (in dem es darum ging, literarisches symbolisches Kapital zu akkumulieren, literarischen Ruhm zu erringen) und von Niklas Luhmann als ein eigenständiger gesellschaftlicher Teilbereich beschrieben.
Weil er mit den Kritiken so schnell durch ist, listet der Mann, der alles listet, auch home stories über und Interviews mit bookish people, Amazon-Besprechungen, book club clips etc. Natürlich auch Posts von Buch-Influencern, die negative Kommentare zu ihrer bezahlten Reklame sofort eliminieren und deren Urheber blockieren. Der Mann, der alles listet, bringt Ordnung in die Erscheinungen. Die Produktion von Büchern generiert zwei separate ökonomische Kreise: das Verkaufen von Büchern und das Bereitstellen von Informationen zu den Büchern. Die beiden Kreise sind intertwined, aber sie folgen jeweils eigenständigen Gesetzmäßigkeiten. Die Information über Bücher, darunter die Evaluierung von Büchern, ist ein eigenständiges Business geworden, das entweder unmittelbar oder mittelbar Profit generieren muss.
Der Mann, der alles liest, hat ständig die Begriffe „Literatur“ und „literarisch“ verwendet. Das kommt ihm jetzt seltsam vor.
In den klassischen, längst ins Internet abgewanderten Medien Zeitung, Radio und TV ist das Ziel der Verkauf von Content. Am besten in Form von Abonnements. Weil man nie ganz genau weiß, wer warum welches Abonnement kauft oder nicht kauft, werden Clicks zum Maßstab: Ziel sind Content-Elemente, die möglichst viele Clicks hervorrufen. Professionelle Kritiken weisen regelmäßig zu wenige Clicks auf. Deshalb werden weniger professionelle Kritiken publiziert, diese werden schlechter bezahlt. Literaturredaktionen werden ausgedünnt oder verschwinden. Sendungen werden abgesetzt oder auf schlechtere Sendezeiten verschoben. In den klassischen Medien können sich Buchinformationen generell immer weniger gegen anderen Content behaupten.
Der Mann, der alles liest, formuliert nostalgisch: Die Kritik ist nicht mehr die Dienerin der Literatur. Natürlich weiß er, dass Kritiker auch zugleich immer wieder Diener ihrer eigenen narzisstischen Bestrebungen waren. Teilgötter. Natürlich weiß er, dass auch in der Vergangenheit die Kritik aus praktischen und ideologischen Gründen niemals wirklich flächendeckend war.
Der eine Literaturbetrieb – Tod und Verklärung: der klassische Literaturbetrieb war so übersichtlich … – ist von zahlreichen Literaturbetrieben abgelöst, die alle die Zweikreis-Struktur des Verkaufens von Büchern und des Verkaufens von Informationen zu den Büchern vervielfältigen. Das Genre Science Fiction war immer schon unabhängig vom Rest der Welt. Neue Verlage für Fantasy poppen hoch, die klassischen Verlage bieten zunehmend Fantasy und Young Adult books an, die Erfolgsstorys werden in der Regel von Autoren und Autorinnen geschrieben, die im Selfpublishing begonnen haben. Der Literaturwissenschaftler Mark McGurl phantasiert A.B.D.L-books, Bücher für den Adult Baby Diaper Lover, als das ultimate Amazon-Literatur-Genre. Die Diskussionen über Bücher spielen sich auf Foren ab, die nichts mit den Literaturredaktionen klassischer Medien zu tun haben.
„We do not allow content that’s typically disappointing to customers, …“
Wie dem alten Monsieur Teste eignet auch dem neuen Monsieur Teste dosierte Empathie als Charakterzug. Er fühlt mit den klassischen Literaturredakteuren, mit den klassischen Literaturredakteurinnen. Die unter dem entsetzlichen Druck der Controller und Controllerinnen stehen, die ihnen ständig mit Zahlen und Fakten kommen, sprich mit Content-Verkäufen und Clicks. Der gut ausgebildete Literaturredakteur, die gut ausgebildete Literaturredakteurin verbinden – cunning! – das Nützliche mit dem Guten: Sie wählen Bücher für Artikel aus, welche die von den ebenso gut ausgebildeten Controllern und Controllerinnen erwünschten Clicks generieren und die zugleich die Welt besser machen. Die medial wahrgenommenen Probleme der Welt kann man an den Fingern einer Hand aufzählen: Erderwärmung, Armut und Migration, die Unterdrückung von Frauen und von Transpersonen, politisch unkorrektes Denken beziehungsweise Sprechen, Kriege. In den japanischen Mangas und Animes retten pubertierende Mädchen die Welt, in der deutschen Medienöffentlichkeit versehen junge verbal versierte Frauen diese Aufgabe.
Der Mann, der alles liest, hat ständig die Begriffe Literatur und literarisch verwendet. Das kommt ihm jetzt seltsam vor. A case of self-estrangement. Die Literatur, die Literatur, die Literatur gibt es doch gar nicht mehr. Die Leute sind an Büchern interessiert. Manche Bücher sind in höherem Grad, manche in geringerem Grad fiktiv. Ob etwas Literatur ist oder nicht – die Frage ist akut irrelevant.
Man kann dem Literaturredakteur, der Literaturredakteurin nichts vorwerfen, wenn sie fiktionale Werke gemäß den vorherrschenden Problembewusstseinen auswählen und andere Perspektiven beiseitelassen. Aber das sind genau die Themen, die 24 Stunden am Tag von allen Medien, egal ob Print oder social, behandelt werden. Wo bleibt der Mehrwert solcher „Literatur“? Das Ganze ein weiteres Zwangskorsett, nicht unähnlich dem, auf das der klassische Literaturliebhaber, die klassische Literaturliebhaberin mit Verachtung blicken: „We do not allow content that’s typically disappointing to customers, … We reserve the right to change the categories of a book anytime to ensure a positive customer experience.“ Die Content Guidelines von Kindle Direct Publishing.
Tatsächlich scheint KDP ubiquitär zu greifen. Anders ist die Menge von Mamis, Papis, Omas und Opas in den deutschsprachigen fiktionalen Neuerscheinungen kaum zu erklären. Was könnte weniger offensive sein als Familienerfahrungen? Wenn etwas Böses vorkommt, dann ist das tatsächlich geschehen und muss verarbeitet werden. Vom Autor, von der Autorin. Von der Öffentlichkeit? Hier ist den Kritikern und Kritikerinnen ein Vorwurf nicht zu ersparen. Die Volte, das Personal sei zwar uninteressant, aber gerade deswegen typisch, und gerade deswegen sei das ein interessantes Buch, ist keine tolle. Der neue Begriff für die Produktion dieser Bücher heißt autofiktionales Schreiben. Das gab es schon immer, aber es hatte einen gewissen Grad von Raffinesse, siehe etwa Kafka, Proust (bei Proust kommen alle vor, nur nicht der Bruder) etc.
Dass das Leben der Literatur abgetötet wird, ist auch dem deutschsprachigen Literaturredakteur, der deutschsprachigen Literaturredakteurin klar. Naturgemäß ist die Gegenbewegung ebenfalls controllingkonform: Wozu ist das Zweikreissystem da. Um Aufträge zu personal stories über Autoren und Autorinnen zu vergeben. Die wegen der Unbedarftheit der Fragen und der Harmlosigkeit der Antworten nur mit Sammlerinterviews in der bildenden Kunst zu vergleichen sind, dem Maximum an Langeweile im Universum. Wer auf YouTube sieht, mit welchem Anspruch sich Dua Lipa mit Emma Cline über deren Roman The Guest unterhält, wird die Controller enttäuschen und kaum mehr personal stories über deutschsprachige Autorinnen und Autoren anklicken.
Dua Lipa sagt nicht nur: „Lest!“ Sie macht sich, im Dialog mit Emma Cline, etwa auch massive Gedanken über alternative Endings für den Roman. In Parenthese, der Charme von The Guest besteht unter anderem darin, dass die Protagonistin keine Geschichte hat. Die Familienverhältnisse bleiben dem Leser erspart. Gleichfalls weiterführend, aber etwas leichtere Kost bevorzugend, ist der Book Club von Kaia Gerber, der Tochter von Cindy Crawford und Rande Gerber, die Mutter Supermodel, der Vater Model – hier ist die Familie tatsächlich interessant –, letztes Jahr das Gesicht von Céline.
Die Empathie des Mannes, der alles liest, muss auch denjenigen gelten, die – doch! – Literatur produzieren. Die themenzentrierten moralgesättigten Handrails sind nicht besser als diejenigen von KDP. Mit den Handrails hätte es Céline-Romane, Beckett-Prosa, den Nouveau Roman von Claude Simon und die Romane von Konrad Bayer und Oswald Wiener nicht gegeben. Bestimmt nicht The Sound and the Fury von William Faulkner und The Waves von Virginia Woolf. Mit Blick auf den Informationskreis Literatur ist das Ziel, nach sich aus der Literaturgeschichte ergebenden Maßstäben – gleich wie die aussehen – gute Literatur zu produzieren, dysfunktional. Die Optimierung im Informationskreis steht massiv dagegen. Es existiert keinerlei Anreiz für erzählende Schriftsteller und Schriftstellerinnen, sich an der Literaturgeschichte zu orientieren.
Die Literatur ist keine zentrale gesellschaftliche Instanz mehr. Die Literatur war ein Instrument, das der Gesellschaft half, sich selbst zu erkennen und sich selbst zu perpetuieren. Für diese Aufgabe gibt es mittlerweile keine mit Autorität ausgestatteten Instanzen mehr, sondern Lawinen von sozialen Praktiken, deren Situationsgebundenheit ins Auge sticht. Die gesellschaftliche Aufgabe hält die Literatur nicht mehr am Leben.
Literatur etabliert immer wieder neue Beziehungen zwischen Wahrnehmungen und Empfindungen auf der einen Seite und sprachlichen Artefakten auf der anderen.
Der Mann, der alles liest, wird wissenschaftlich. Wie vor ihm Monsieur Teste. Kann Literatur unabhängig von einem gesellschaftlichen Task leben? Das menschliche Gehirn produziert einen ständigen, nie abreißenden, sich unablässig fortsetzenden internen Flow von Bildern. Die Bilder sind nicht Bilder von etwas Äußerem. Sie bilden den internen Status des Organismus ab: wie der auf äußere Reize und auf die von ihm selbst erzeugten Bilder reagiert. Der Organismus macht sich kein Modell der Außenwelt. Der Organismus macht sich ein Modell davon, wie er auf Reize aus der Außenwelt und auf intern produzierte Reize reagiert. Der Champion des wissenschaftlichen Bewusstseinsstromes ist der Psychiater António Damásio. Der Bewusstseinsstrom ist nichts Neues für den literarischen Erzähler. Leutnant Gustl aus der gleichnamigen Novelle von Arthur Schnitzler macht sich kein objektives Bild der Außenwelt, er sieht alles unter dem Aspekt der erlittenen ehrenrührigen Beleidigung. Literatur etabliert immer wieder neue Beziehungen zwischen Wahrnehmungen und Empfindungen auf der einen Seite und sprachlichen Artefakten auf der anderen.
Literatur kann leben, wenn sie sich jeweils immer wieder neu gegenüber Ereignissen, Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken verhält. Der Literaturredakteur und die Literaturredakteurin – wenn sie noch da sind – sollten genau dieses Leben durch ihre Auswahl aus der Menge der Neuerscheinungen fördern. So der Mann, der alles liest.
In dem klassischen Anime Neon Genesis Evangelion Death & Rebirth sagt Asuka Langley Soryu, das Second Child und Operatorin des Kampfroboters EVA-02 zum kampfesmüden Shinji Ikari, dem Third Child und Operator der Einheit EVA-01: „Noch bist du am Leben, oder? – Dann lebe auch richtig! – Sterben kannst du danach!“
PS 1: Es gibt den Mann, der alles liest, nicht. Es wird ihn geben. Mechanically enhanced, physiologically enhanced, genetically enhanced.
PS 2: Der Mann, der alles liest, hat die Lustigen Taschenbücher Nr. 585, Nr. 586 und Nr. 587 noch nicht gelesen.