Was Literatur ist / Was Literatur nicht ist

Eine Poetikvorlesung von Ernst-Wilhelm Händler.

Online seit: 22. April 2020
Ernst-Wilhelm Händler © Thomas Dashuber / Agentur Focus
Ernst-Wilhelm Händler: In der Summe ist die Literatur stur, sie produziert weiter Individuen.
Foto: Thomas Dashuber / Agentur Focus

Die zahlreichen Möglichkeiten, sich der Frage: Was Literatur ist / Was Literatur nicht ist, zu nähern, lassen sich in fünf Hauptdenklinien einteilen. Erstens: Die Definition durch notwendige und hinreichende Bedingungen; zweitens: die Angabe von notwendigen oder von hinreichenden Bedingungen; drittens: paradigmatische Bestimmung; viertens: Kontextdefinition; fünftens: metaphorische Bestimmung.

Denklinie 1: Die russischen Formalisten haben eine Comme-il-faut-Definition des Literaturbegriffs durch einen Kanon von literarischen Verfahren versucht, bei deren Vorliegen garantiert ist, dass ein Text Literatur ist. Ein richtungsweisender Essay von Viktor Schklovskij, 1893–1984, trägt den Titel Kunst als Verfahren. Ein prominentes und vielfach untersuchtes literarisches Verfahren ist dasjenige der Verfremdung. Daneben widmet sich Schklovskij vor allem dem, was er das Verfahren der erschwerten Form nennt. Er zeigt, auf welche Weise Literatur gezielt die Schwierigkeit und die Länge der Wahrnehmung steigert. Somit ist der beschriebenen Realität in der Literatur etwas hinzugefügt. Literatur hat eine eigene Qualität, die sie von anderen Texten unterscheidet. Die starke Konzentration auf den Einfluss der Form beim Schaffen von Literatur führt dazu, dass Schklovskij letztlich dekretiert: „Die Form schafft sich den Inhalt.“ Notwendige und hinreichende Bedingung für das Vorliegen von Literatur ist, dass der in Frage stehende Text mindestens ein Verfahren aus dem von den Formalisten bereitgestellten Kanon verwendet.

Das Hauptproblem einer Definition des Literaturbegriffes durch notwendige und hinreichende Bedingungen ist, dass die Zeit immer wieder neue literarische Verfahren oder besser: Strategien gebiert. Man hat dann zwei Möglichkeiten: Man passt den Literaturbegriff nicht an, die neuen Hervorbringungen sind keine Literatur, oder man verändert den Literaturbegriff. Im Fall des in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auftauchenden, Furore machenden Nouveau Roman bestand der intuitive, nichttheoretische Konsens, dass die entsprechenden Texte auch tatsächlich Literatur sind. Über Helmut Heißenbüttels D’Alemberts Ende aus dem Jahr 1970 und Walter Kempowskis Echolot aus den Jahren 1993 bis 2005 musste und muss man sich Gedanken machen.

Oft wird „Das ist keine Literatur“ als Synonym für „Gefällt mir nicht“ verwendet.

Sollen die Arbeiten der bildenden Künstler und Künstlerinnen On Kawara, 1932–2014, Hanne Darboven, 1941–2009, („[…] ich schreibe mathematische Literatur und mathematische Musik.“), Lawrence Weiner, geboren 1942, Joseph Kosuth, geboren 1945, und Jenny Holzer, geboren 1950, – auch – Literatur sein, oder nicht? Hier stellt sich eine Grundfrage: Soll man die Kunstgattungen voneinander trennen, oder sind vielleicht gerade die Grenzbereiche interessant? Anders gefragt: Entgeht einem vielleicht besonders gute Literatur, weil sie nach bestimmten Kriterien zu weit am Rande der Kategorie steht?

Denklinie 2: Die Einsicht, dass man Literatur nicht definieren kann, führt häufig zum Aufstellen entweder von notwendigen oder von hinreichenden Bedingungen für deren Vorliegen. Notwendige Bedingungen sollen als Killerkriterien dienen: Wenn sie nicht erfüllt sind, liegt keine Literatur vor. Es wird keine genaue Grenze zwischen Literatur und Nicht-Literatur gezogen, aber alles, was mit diesen Bedingungen nicht konform geht, ist garantiert keine Literatur.

Ein hübsches Beispiel für eine notwendige Bedingung ist der Martin Heidegger der Holzwege: „Dichtung aber ist kein schweifendes Ersinnen des Beliebigen und kein Verschweben des bloßen Vorstellens und Einbildens in das Unwirkliche. Was die Dichtung als lichtender Entwurf an Unverborgenheit auseinanderfaltet und in den Riß der Gestalt vorauswirft, ist das Offene, das sie geschehen läßt, und zwar dergestalt, daß jetzt das Offene erst inmitten des Seienden dieses zum Leuchten und Klingen bringt.“ Wenn eine sprachliche Hervorbringung nicht das Offene geschehen lässt und durch ebendiese Offenheit das Seiende nicht zum Leuchten und Klingen bringt, ist es keine Literatur.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde das amerikanische Schreiben – eher schlicht, eher gefühlsnah, eher unterhaltsam – als die „wirklich“ gute Literatur propagiert.

Die Ideologie des französischen Strukturalismus, mit der Blütezeit in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, ist durch drei zentrale Begriffe markiert: Zeichen, Sprache, Struktur. Alles ist Zeichen. Die verschiedensten Wissens- und Lebensgebiete werden in Analogie zur Sprache konstruiert. Das einzelne Zeichen verdankt seine Bedeutung der Position in einer bestimmten Struktur. Der Strukturalismus hat das Erkenntniskorpus der russischen Formalisten fast zur Gänze übernommen, dabei aber auf deren definitorischen Anspruch verzichtet. Die vom Strukturalismus betrachteten literarischen Strategien sollen hinreichende, aber nicht notwendige Bedingungen für die Literarizität eines Textes bilden.

Denklinie 3: Die paradigmatische Bestimmung eines Begriffsinhalts geht philosophisch auf Ludwig Wittgensteins Familienähnlichkeiten zurück. Es gibt kein Ähnlichkeitskriterium, das auf alle Familienmitglieder zutrifft, es gibt nur Ähnlichkeitsrelationen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, genauer gesagt: den Elementen von Untermengen jeweils betrachteter Familienmitglieder. In der Literatur ist die paradigmatische Menge natürlich der Kanon. Literatur ist, was Ähnlichkeitsbeziehungen mit den kanonischen Werken aufweist. Das sieht auf den ersten Blick nach einem anschaulichen und zweckmäßigen Ansatz aus. Aber Achtung: Die Literatur ist keine Familie, Zwillinge werden verstoßen. Textliche Eins-zu eins-Imitationen machen in der Literatur keinen Sinn. Literarische Imitationen können jedoch höchst erfolgreich sein, aber ist eine Imitation Literatur? Manche Imitationen werden in der Familie der Literatur geduldet. Eine Parodie kann gut und gerne Literatur sein. Literatur als Familie, mit Kindern und Kindeskindern, Bastarden und Klonen?

Denklinie 4: Die Kontextdefinition ist keine Definition, sie heißt nur so. Ein Begriff wird einfach verwendet, und der Kontext der Verwendung soll dann Hinweise auf einen möglichen Begriffsinhalt geben. Wie der Begriff Literatur verwendet wird, soll zeigen, was er bedeutet. Die Kontextdefinition ist in hohem Maße interpretationsabhängig. Je nachdem, wie man den Kontext interpretiert, kann das zu sehr verschiedenen Inhalten für den von ihm „definierten“ Begriff führen.

Denklinie 5: Die im deutschen Sprachraum erfolgreichste metaphorische Bestimmung des Literaturbegriffs ist eine – die Briefstelle von Kafka: „[…] ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Es ist sinnvoll, die explizit mit dem Literaturbegriff befassten Akteure in solche der Objekt- und solche der Metaebene einzuteilen. Dichter und Dichterinnen, Schriftsteller und Schriftstellerinnen gehören zur Objektebene, professionelle und nicht ganz so professionelle Leser und Leserinnen, Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen sowie Philosophen und Philosophinnen sind der Metaebene zuzurechnen. Tendenziell bemühen sich die Akteure der Metaebene eher um kognitive und emotionale Distanz zu den jeweils betrachteten Literaturbeispielen, während die Akteure der Objektebene jede Menge Emotionen in die Literaturbetrachtung einbringen. Die metaphorische Bestimmung des Begriffsinhalts von Literatur eignet sich besonders für den Transport von Emotionen.

Marcel Proust © Otto Wegener
Marcel Proust: Literatur = meine Literatur.
Foto: Otto Wegener, 1895

Proust ist nicht weniger emotional als Kafka. Die Guermantes sind die Klimax der Gesellschaft zu allen Zeiten, die gotischen Kathedralen uneinholbare architektonische Wunderwerke. Aber der Glamour der Recherche ist nicht nur den Guermantes und ihrer Welt geschuldet, er verdankt sich auch dem Auftreten des Erzählers: Marcel lässt keinen Zweifel daran, dass es seine Gefühle und seine Erzählweise sind, die die erzählten Gegenstände zu dem machen, was sie sind. Wären Weißdornhecken ohne ihn, den Erzähler, überhaupt einer Erwähnung wert? Er, der Erzähler, ist Literatur, muss man noch weiter bestimmen, was Literatur ist und was nicht? Die Recherche, theoretisch gelesen, bietet