Wenn ich doch nur schon eine Totenmaske von mir hätte, die ich hergeben könnte für diese Vitrinen des Grauens, die sie in Leipzig aufzustellen gedenken aus Anlass des sogenannten Buchmessenschwerpunkts dort, wie sie vor Jahren in Frankfurt aus dem gleichen Anlass ähnliche Vitrinen aufgestellt haben, und für die ich auf Einladung des Wiener Literaturmuseums etwas beisteuern soll, einen Gegenstand, der was auch immer über mich aussagt oder notdürftig verschleiert, dass er gar nichts über mich aussagen kann, pathetisch, witzig und peinlich zugleich wie diese Zeilen
……wenn ich Duellpistolen vorweisen könnte, bereits verwendete oder noch zu verwendende in den kommenden Fehden
……oder meinetwegen einen Säbel
……oder wenn ich wenigstens wüsste, wo die Blizzard Firebird geblieben sind, allein schon ihres Namens wegen, auf denen ich vor einem halben Leben bei einem sagenumwobenen Nebelrennen, bei dem angeblich nur ich klare Sicht gehabt habe, Skiclub-Meister in meinem Heimatdorf geworden bin
……oder der Tischtennisschläger, mit dem ich als Schüler in der Feuerwehrhalle, in der wir trainiert haben, die Gegner reihenweise an die Wand gespielt habe
……die Fünf-Mark-Münze mit dem Bildnis von Gauß, die ich als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger ein paar Wochen lang offen über der Brust getragen habe
……princeps mathematicorum
……Suzanas jugoslawischer Pass
……die Erstausgabe von Hemingways A Farewell to Arms
……Geschenk einer kalifornischen Unfallchirurgin
……das Edelweißabzeichen des staatlich geprüften Skilehrers mit dem Namen meines Vaters, der auch mein Name ist
……Eispickel und Seil meines Großvaters
……die Brunellen, die ich meiner Großmutter gepflückt habe
……die Ziehorgel meines Onkels Jakob
……wenn ich nur wüsste, wo all das geblieben ist, auf welchen Abfallhalden, in welchen Lagerhallen, Bananenschachteln und Kartons, in welchen Parallelwelten meiner Umzüge
……The Solace of Open Spaces
……Melitta Breznik
……I once was married to her
……but we didn’t tell
……we went down to City Hall
……in San Francisco
……where it was done in half an hour
……and the year was 1991
……und ach, auch Paul Nizon samt seinem „Verrat“
……mit und ohne Anführungszeichen
……Verrat am Leben
……Verrat an der Welt
……très français et un peu …
……comment dites-vous ?
……un peu …
……das signierte Exemplar von Claude Simons Die Akazie
……au contraire
……die signierten Exemplare von António Lobo Antunes’ Mein Name ist Legion und Was werd ich tun, wenn alles brennt?
……die leere Whiskeyflasche, die ich eines Abends von Faulkners Grab in Oxford, Mississippi, habe mitgehen lassen und am Morgen darauf reumütig wieder zu den anderen leeren Flaschen gestellt habe
……ein verheerendes Symbol
……mein erstes Bücherregal, keinen Meter lang, direkt über meinem Bett
……als das Kind noch Kind war und nicht wusste, dass es Kind war
……wie der Dichter sagt
……die Fotos, die ich von Suzana in der Abendsonne auf den Felsen am Strand von Mali Lošinj gemacht habe
……ihre Augen
……der Schnappschuss von mir als Fünfjährigem mit Schnittlauchfrisur, abstehenden Ohren und einem Lachen, das trotz des einen schwarzen Schneidezahns ein Lachen wie nur je eines war
……ja, wenn ich nur wüsste, wo
……die Schreibmaschine, die ein amerikanischer Gast im Hotel meiner Eltern vergessen hat und die ich nach Amerika zurückgebracht habe, um dort auf ihr mein erstes Buch zu schreiben
……alles verschollen, alles verloren
……genauso wie der weiße Teddybär, den ich auf dem Foto im Arm halte, auf dem meine Mutter mich im Arm hält
……die Cowboystiefel aus Schlangenleder von Jil Sander, spitz wie Stilette, die Suzana mir von einem Resteverkauf mitgebracht hat und die ich nach einmaligem Tragen zu einem Spottpreis auf dem Flohmarkt an den letzten deutschen Westernhelden oder Karl-May-Leser verkauft habe, obwohl ich später in Texas oder New Mexico mit ihnen sicher große Auftritte hätte haben können
……die Wollsocken, auf denen ich als Vermessungsgehilfe über das nackte Gletschereis gegangen oder eher wohl gewandelt bin, wenn es mir für meine Turnschuhe zu glatt wurde
……die adidas, eines der vielen Paare, immer die gleichen, weiß mit blauen Streifen, mit denen ich sonst mit meinen Brüdern und Cousins viele Nachmittage lang Fußball gespielt habe und bei denen sich immer der erste Streifen auf der rechten Seite bald schon abzulösen begann
……alles nicht mehr zu haben
……und ja
……jetzt müsste der Kirschbaum blühen
……und der Schnee sich verziehen
……auch die Kirschen nicht, die mein Vater jedes Jahr in der Kirschenzeit gekauft hat, als wäre das allen anderen verwehrt und es brauchte einen wie ihn, es brauchte seine ganze Raffinesse, um etwas so Unglaubliches zustande zu bringen wie Kirschen zu kaufen und sich darüber auch noch zu freuen
……meine ersten Schulhefte mit den Zeichnungen meiner Mutter
……der Schutzengel, den sie mir bei der Taufe umgehängt haben
……vierzehnkarätiges Gold
……das Tagebuch, das ich vor meinem ersten Flug nach Amerika verbrannt habe, aus Angst, ich könnte abstürzen und jemand es finden und lesen
……mein Kapuzenpullover mit der Aufschrift STANFORD, den mir meine indische Freundin zum Abschied von dort geschenkt hat
……der Škoda Octavia, mit dem ich zu so vielen Lesungen gefahren bin und immer und grundsätzlich zu noch nachtschlafener Zeit von den Lesungen wie von einem Tatort wieder weg, mein Dienstwagen, der mehr ein Fluchtfahrzeug war und bei dem beim Kilometerstand von 370.000 zuerst die Kupplung und dann die Zylinderkopfdichtung „gegangen“ ist
……zwischen einem Literaturhaus und dem anderen
……vor manchmal fünf Besuchern
……neunmal um die Erde
……er würde sich als Schaustück sicher prächtig machen
……oder als Mahnmal
……für die plötzlichen Panikattacken
……oder das Klima
……Schweißausbrüche auf der Autobahn
……der Škoda mit der im Kindergarten gebastelten, bunten und in der Sonne grau verwelkten Blume meiner Tochter auf dem Armaturenbrett
……aber es ist nichts mehr davon da
……nichts, gar nichts
……und weil mit gebrauchten Kondomen, gekauten Kaugummis oder vielleicht gar mit etwas nur halb Verdautem niemand eine Freude hätte
……es sei denn, es könnte einer beweisen, es handle sich um das geplatzte Kondom seiner Eltern, dessen existentielle Folge und Lebenswitz und Unglück für die Welt er selbst ist
……bleibt mir nur eine Haarlocke aus der Zeit, als ich noch Locken hatte oder zumindest Haar
……bleiben vier oder fünf schnell hingeworfene Zeilen, die ich Gedicht nenne oder eben gerade nicht Gedicht, wenn sich das mehr schickt
……meine Schnapsgläser mit dem Tiroler Adler
……ein paar Zigarettenkippen mit falsch applizierten Lippenstiftspuren, die mich zum Verdächtigen machen
……(im Jagdschloss des Prinzen, der ein Dreizehnter unter den Heinrichen war und den Staat zerschlagen wollte, wurde neben dessen russischer Freundin ein gewisser Norbert G. festgenommen, lese ich in der Zeitung, und dass es nicht ich war, ist eine Behauptung)
……bleibt ein Marmeladenglas mit abgekiefelten Bleistiftstummeln als Beweis meines unbedingten Glaubens an die Nachwelt
……oder Ewigkeit
……an das Verschwinden von allem
……bleibt der militärgraue Kaweco Sport, leicht in der Hand, mit dem ich dies schreibe
……bleibt der gewichtige Graf von Faber-Castell aus Pernambukholz und Silber mit der Gravur „Dr. Siegfried Unseld, 1. Juli 2000“ auf seiner Kappe, den mir Ulla Berkéwicz geschenkt hat, als wir noch on speaking terms waren, und mit dem ich jetzt großmächtig und halb oder eher wohl drei Viertel ironisch, ein Viertel ernst, wie es sich für eine solche Tätigkeit gehört, meine Bücher signiere, ohne je zu wissen, ob das ein Segen ist oder ob ich damit einen Fluch auf mich ziehe, der für alle Zukunft mein Verderben bringt oder womöglich, Tod und Teufel, längst schon gebracht hat
……bleibt die Möglichkeit, dass ich mich mit einer Verbeugung vor Marina Abramowić selbst in eine dieser Vitrinen setze und gegen Bezahlung eines kleinen Obolus für die ohne Zweifel zahlreichen, ja, massenhaft erwarteten Besucher der Ausstellung wahlweise ein Kellner- oder Hausmeisterlächeln oder das eines Kunstkommissionspräsidenten mit seinen kleinkarierten Winkelzügen in mein Gesicht zaubere, was am Ende auf ein und dasselbe hinausläuft, und die Nationalhymne singe, die österreichische oder auf Wunsch auch jede andere, oder allen zu erklären versuche, warum diese Vitrinen eine solche Angst in mir auslösen und dass diese Vitrinenangst nichts anderes als Todesangst ist, Vernichtungs- und Selbstvernichtungsangst, und sich nur ein wirklich Unsterblicher davon freimachen kann, ein musengeküsstes Originalgenie, wie es sie in unserem Land, ob selbsternannt oder amtlich verfügt, zu Tausenden und Abertausenden gibt.
* * *