An der Grasnarbe ist der erste Roman der 26-jährigen Schriftstellerin Mirjam Wittig, die Philosophie und Kulturreflexion sowie Literarisches Schreiben studiert hat. 2019 hat sie für Auszüge aus ihrem Romanmanuskript den Förderpreis Literatur der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit erhalten – durchaus zu Recht, wie der nun fertiggestellte Roman zeigt.
Der Roman wird aus der Sicht der Ich-Erzählerin Noa erzählt, die als Studentin und Restauratorin in einer deutschen Stadt lebt. Immer wieder hat sie Panikattacken, wenn sie auf der Straße oder in der U-Bahn beim Anblick von fremdländisch aussehenden Männern Angst vor Terroranschlägen bekommt. Da sie sozial und umweltpolitisch engagiert ist – sie gibt Sprachkurse für Flüchtlinge und sammelt bei Naturschutzeinsätzen von Motten befallene Kastanienblätter usw. – leidet sie unter diesen Panikattacken doppelt, weil sie sich im gleichen Moment Vorwürfe wegen dieser „rassistischen Gedanken“ macht:
„Ich sehe niemanden lang genug an für einen echten Verdacht, einen unerträglichen Verdacht, den ich nie wiedergutmachen kann. Wie ich keine dieser Situationen wieder einholen kann, zurückdrehen, ich kann nicht einfach zu einem hingehen und sagen: Es tut mir leid. Tut mir leid, wirklich, dass ich einen wie dich, nein, konkret dich für einen Mörder halte – das ist mein Fehler.“
Noa entscheidet sich für einen „Kontextwechsel“, eine Auszeit auf einem Bergbauernhof in Südfrankreich. Der Bauernhof wird von dem deutschen Aussteigerpaar Gregor und Ella geführt, die mit ihrer halbwüchsige Tochter Jade ein Leben in Einklang mit der Natur versuchen und dabei auch Aussteiger auf Zeit wie Noa als Helfer oder Urlauber aufnehmen.
Anfangs unsicher wird Noa bald heimisch, dabei hilft ihr die Freundschaft mit Jade, um deren Gunst sie sich vielleicht auch deshalb bemüht. Noa genießt die Natur, die Idylle aber auch das einfache Leben und die körperliche Arbeit auf dem Bauernhof. In ausführlichen und genauen Beschreibungen vermittelt die Ich-Erzählerin dem Leser einen lebhaften und eindringlichen Eindruck vom Leben und der Arbeit auf dem Bauernhof, in und mit der Natur:
„Wir mussten dringend die Tomaten entgeizen. Zucchini pflanzen. Paprikazöglinge umtopfen. Zwischen den Bohnen das Unkraut ausreißen, damit es den Kampf um Sonnenlicht nicht gegen die jungen Triebe gewann. Kartoffelkäfer sammeln – und knacken! Jade hatte eine ganze Menge von ihnen entdeckt. Noch immer dreimal täglich die Flaschenlämmer füttern. Den letzten freien Acker vorbereiten. Die Zwiebeln dort einpflanzen. Ihr Kraut wuchs auf dem alten, zu kleinen Acker so hoch, dass man ahnte, wie die Knollen unter der Erde bereits aneinanderstießen und sich gegenseitig am Wachsen hinderten.“
Getrübt wird die Idylle durch die Sorge des Klimawandels, der für Gregor und Ella nicht mehr droht, sondern schon gegenwärtig ist und sich in extremen Dürrephasen sowie Unwetterperioden mit Sturzfluten zeigt. Die Sorge vor dem Klimawandel, was dieser für die Natur und das Leben der Menschen nicht nur auf dem Bauernhof in Zukunft bedeutet, schwebt beständig über der Geschichte und dem Leben dieser kleinen Gemeinschaft auf dem Bauernhof.
Das Gegengewicht zu den ruhigen und eindrücklichen Naturbeschreibungen, die eine faszinierende Stimmung erzeugen, sind persönliche Begegnungen und Gespräche der Ich-Erzählerin mit Menschen aus der Stadt und den Landbewohnern, in denen persönliche Themen sowie „große“ Fragen diskutiert oder auch nur angerissen werden. Dabei trifft eine (meist) idealistische Sicht der Stadtvertreter auf eine eher nüchterne, manchmal fast resignative Sicht der Landbewohner: „»Wir schaffen das alles einfach nicht, wie soll das gehen? Und wie bleibst du so ruhig?« Ich sah zu Gregor, der die Schultern hob, etwas murmelte, das vielleicht »Erfahrung« hieß, vielleicht »Enttäuschung«.“
In den Gesprächen und überhaupt im Roman dreht es sich häufig um aktuelle Fragen die unsere Gesellschaft, vor allem die jüngere Generation, bewegen und in einem schwer aufzulösenden Konflikt miteinander stehen. Weltoffenheit, Aufgeschlossenheit und Sehnsucht nach friedlichem Zusammenleben auf der einen Seite, Angst vor Terror- und Kriegsbedrohungen auf der anderen Seite. Die Verantwortung der Gesellschaft gegenüber Natur, Umwelt und kommenden Generationen auf der einen Seite, die Bedürfnisse des Einzelnen nach wirtschaftlicher Absicherung, Ausbildung, Beruf und Karriere auf der anderen Seite. Der Roman reißt diese Fragen an und spürt dem Für und Wider nach, legt sich aber nicht fest und verweigert abschließenden Antworten. Das regt zum Nach- und Weiterdenken an. Trotzdem zieht sich durch den Roman eine positive Grundeinstellung, beginnend mit dem an den Anfang gestellten Zitat aus der 4. Ekloge Vergils über ein kommendes goldenes Zeitalter bis zu dem hoffnungsvollen Aufbruch, der den Roman abschließt.
Der Roman kann und will mit keiner dramatischen spannungsgeladenen Geschichte aufwarten. Trotzdem nimmt die Handlung ihren ruhigen, zwingenden Verlauf und zieht den Leser, der sich darauf einlässt, in ihren Bann, versetzt ihn in die Landschaft Südfrankreichs und lässt ihn eintauchen in das Leben von Noa, Gregor, Ella und Jade. Schicht um Schicht erfährt der Leser so im Laufe der Geschichte mehr über die Protagonistin sowie die Aussteigerfamilie, er lernt deren Beziehungen und Sorgen kennen und diese verstehen.
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