„Ich weiß schon: Einer schreibt über die ganze Welt, und heraus kommt eine Nudelsuppe, der andere schreibt über Nudelsuppe, und heraus kommt eine ganze Welt“, sagt Kalterer in weinerlichem Tonfall. „Trotzdem … Ich schaff’s einfach nicht, die wirklich großen Themen fallen zu lassen.“ Kalterer ringt die Hände, dann besinnt er sich auf deren eigentlichen Zweck und greift zu seinem Krügel.
Kalterer war vor langer Zeit mein Studienkollege, Freund und Mitbewohner. Jetzt begegne ich ihm nur noch selten, vielleicht alle zwei, drei Wochen, nämlich immer dann, wenn ich im Wirtshaus Schnitzel für das Abendessen hole. Unverrückbar wie das Amen im Gebet, ja wie der Herrgott selbst sitzt er, der Kalterer, dort im Herrgottswinkel, trinkt sein Bier und brütet vor sich hin.
Seit alle österreichischen Kaffee- und Wirtshäuser zu Besserungsanstalten erklärt wurden und man für jede Zigarette auf die Straße gehen muss, bin ich zum Biedermeiermann und Stubenhocker transmutiert. Zu Hause bin ich frei, hier gelten meine Regeln. Die gelegentlichen Ausflüge, die ich noch unternehme, bleiben auf den Supermarkt beschränkt, nur manchmal, an Schnitzeltagen, lege ich ein zehn Minuten kurzes Zwischenspiel beim Wirten ein. Mein schaumgebremstes Jagdverhalten korreliert inzwischen auch mit meinem fortgeschrittenen Alter: Take-away für die Familie statt Rausch und Aufriss und endlose politische Diskussionen. Hin und wieder, zugegeben, noch ein Rausch daheim, als fernes Echo der Adoleszenz. Die Lust auf einen Aufriss aber hat die Zeit geschluckt, und Wirtshausdiskussionen waren auch schon in meiner Jugend fruchtlos. Psychologisch aufschlussreich, das ja, aber so gut wie nie erhellend. Man war ohnehin fast immer einer Meinung.
Kalterer sitzt tagein, tagaus beim Wirten und starrt grübelnd auf sein Krügel. Er hat schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, es ist nur noch sein Kopf, der raucht. Er wälzt und knetet die Gedanken wie ein Bäcker seinen Brotteig. Kalterer denkt über sein nächstes Buch nach.
Eines hat er schon geschrieben. Er hat es gewissermaßen ausgestreut, es ist ihm aus der Hand gefallen wie die Saat dem Bauern. Kalterer hat nicht hingesehen, nicht überlegt, er hat nur einfach zu Papier gebracht, was es durch ihn geschrieben hat. „Die Brunft der Engel“ war der Titel des Romans, der von einer im Nachkriegswien verlorenen Kindheit handelte. Er wurde nicht nur in den Zeitungen hymnisch gefeiert, sondern auch verkauft wie warme Semmeln. Und das war ein Unglück für den Kalterer. Denn an diesem Punkt hat er begonnen, hinzusehen, zu überlegen. Er hat seine Saat nicht mehr verstreut, er hat sie angestarrt. Sie ist in seiner Hand vertrocknet.
Dreißig Jahre ist das her.
Ich selbst habe fast zeitgleich mit dem Kalterer zu schreiben angefangen. Damals wohnten wir ja noch zusammen, und so saßen wir in unseren Zimmern, er über der „Brunft der Engel“, ich über einem noch titellosen Manuskript, das mir unwillentlich zum Kriminalroman geriet. Es war gar nicht mein Ziel gewesen, mich als Kriminalautor zu profilieren. Es ist mir einfach so passiert, der Text ist eben so gewachsen, wie es ihn durch mich geschrieben hat. „Die Falle der Lemuren“, wie das Buch schlussendlich hieß, sollte ein kleiner Kassenschlager werden, und in mancher Hinsicht war auch das ein Unglück. Denn im deutschen Sprachraum ist das so genannte Krimigenre als Trivialliteratur gebrandmarkt, und so galt auch ich fortan als künstlerisch bedeutungsloser Schreiberling. Das Stigma wurde ich nie wieder los, da konnte ich schreiben, was ich wollte. Zugegeben: Um meine Familie mit Schnitzeln durchfüttern zu können, ließ ich meinem ersten Kriminalroman noch weitere folgen, brannte mir das Kainsmal also selbst noch tiefer in die Stirn. Die anderen Bücher aber, die ich schrieb, die „echten, literarischen“, blieben medial weitgehend unbeachtet, und so habe ich das mittlerweile chronische Gefühl, von den Kulturkritikern ignoriert oder im besten Falle unterschätzt zu werden.
Kalterers Problem sind nicht die Rezensenten, die seit dreißig Jahren auf ein neues Werk aus seiner Feder warten. Kalterer macht sich seine Schwierigkeiten selbst.
„Ein dreiviertel Jahrhundert ohne Krieg und Katastrophen“, sagt er jetzt. „Worüber soll man da noch schreiben?“
Heute Abend hat er mich am Weg zur Budel abgefangen, hat mich zu sich an den Tisch gezerrt, und nun lässt er mich nicht mehr gehen. Er sitzt vor seinem Bier, ich habe mir wohl oder übel ein Glas Wein bestellt.
„Wie meinst du das?“, frage ich ihn.
„Na, so, wie ich es sag! Die ganze Welt strotzt vor Geschichten, wo man hinsieht, herrschen Chaos, Folter, Mord und Aufruhr. Wirbelstürme und Tsunamis löschen ganze Länder, Terroristen und Tyrannen löschen ganze Völker aus. Die Menschen sehen tagein, tagaus ihr Dasein und ihr Dableiben bedroht, sie kämpfen einen pausenlosen existenziellen Kampf. Geschichten ohne Ende! Etwas Besseres kannst du dir als Schriftsteller ja gar nicht wünschen: Wo du hinschaust, spielen sich die fundamentalsten Dramen ab. Und was geschieht bei uns in Österreich? Wir lümmeln fett und saturiert auf unserer Friedensinsel wie die alten Römer auf den sicheren Tribünen der Gladiatorenarena. Wir sitzen weit oben auf den Rängen, um nur ja nicht mit dem Blut der Sterbenden bespritzt zu werden, und denken darüber nach, ob wir zum Abendessen lieber einen Weißen oder einen Roten trinken wollen. Ist das ein Biotop, in dem bedeutende Literatur entstehen kann?“
„Hättest du es lieber anders? Wenigstens müssen wir nicht bei Kerzenlicht im Bunker schreiben.“
Kalterer wirft die Arme hoch. „Genau das ist es, was uns unterscheidet!“, ruft er. „Ich hab mein gesamtes Leben lang nach nackten Wahrheiten gesucht – nach einem literarischen Substrat unseres Daseins auf der Welt, wenn du so willst. Und du hast für ein Achtel und ein Wiener Schnitzel deine lächerlichen Kriminalfälle erfunden.“
Jetzt fällt er mir wieder ein, der Grund dafür, dass meine Freundschaft mit dem Kalterer damals so verkümmert und zu einer erst noch unterkühlten, bald schon antipathischen Bekanntschaft erodiert ist. Seine Schreib-, nein, seine Denkblockade ist mit einer wachsenden Herablassung einhergegangen, einer Nichtachtung all jener, die noch phantasierten und erzählten, statt sich tot zu grübeln, die noch etwas – sei es auch nur etwas Kleines – schufen, statt am Großen zu verzweifeln. Kalterer ist zum muffigen Apologeten unseres dünkelhaften kulturellen Wertsystems geworden.
„Leck mich“, sage ich und mache Anstalten, den Herrgottswinkel zu verlassen.
„Warte!“ Kalterer hebt den Kopf und schenkt mir einen Dackelblick. „Entschuldige, das war nicht so gemeint. Du weißt wenigstens, was die Leute lesen wollen.“
„Nein. Ich weiß vor allem, was ich selber lesen will.“
„Ach? Und das wäre? Mord im Villenviertel?“
„Wenn es der Geschichte dient, auch das“, sage ich frostig. „Aber ich will eine Handlung, die mich fesselt, und ich will sie so erzählt bekommen, dass ich nicht über die Sprache stolpere. Je leichtfüßiger, bildreicher, sensibler, überraschender, humorvoller und eleganter, desto höher springt mein Herz. Beim Lesen und beim Schreiben.“
„Eine Handlung, die dich fesselt? Und wo, bitte, findest du so was? Ich meine, bis vor dreißig, vierzig Jahren hat man wenigstens noch über alte Nazis schreiben können, und wie unser ach so entnazifiziertes Land mit ihnen umgeht. Oder über ihre Opfer, und wie unser Land mit denen umgeht. Aber was bewegt dich heute noch? Persönliche Befindlichkeiten? Schwindende Potenz und Hämorrhoiden? Zahnpasta und Katzenfutter in der düsteren Zeit der Inflation? Das ewige politische Hickhack in unserem Zwergerlparlament? Oder womöglich doch die wirklich großen Themen, über die wir weißen alten Mitteleuropäer aber gar nicht schreiben können, schreiben dürfen, weil es ja, verdammt nochmal, nicht unsere Themen sind? Es interessiert mich wirklich, was dich heute noch bewegt!“
„Drei Schnitzel“, sage ich. Ich sage es zum Wirten, der gerade an den Tisch gekommen ist. „Mit Bratkartoffeln.“
„Noch ein Krügel“, fügt der Kalterer hinzu. „Und eine Nudelsuppe.“
* * *