Warum ausgerechnet Tulln, frage ich mich, als ich vor den Tullner Bahnhof hinaustrete. Was mag Emmanuel Bove vor gut hundert Jahren hierher verschlagen haben? Wen mag er getroffen haben, welche Wege führten ihn durch die Stadt, während er an seinem Roman Meine Freunde schrieb – ein Meisterwerk, das heute als Klassiker der französischen Literatur gilt. Trat er bei seiner Ankunft – wie ich gerade – unschlüssig von einem Bein aufs andere? Drehte er sich um zum Bahnhofsgebäude, in dem Egon Schiele seine Kindheit verbrachte und erste Zeichnungen anfertigte?
Wahrscheinlich zündete er sich eine Zigarette an, Bove war Kettenraucher, mitunter soll er bis zu hundert Zigaretten am Tag konsumiert haben. Wem auch immer Bove in Tulln begegnet ist, mit Sicherheit einem Trafikanten. Ich versuche mir vorzustellen, wie er den Bahnhofsvorplatz überquert, er hatte einen schlendernden Gang, habe ich einmal gelesen, „eine Schulter höher als die andere“. Aus seinem Wehrpass geht hervor, dass er „1.71 Meter“ groß sei, „braunes“ Haar habe und seine Augen „orangefarben“ seien.
Am Tag seines zwanzigsten Geburtstags, dem 20. April 1918, folgte Bove der Einberufung seines Jahrgangs zum Militär. Seine Einheit wurde in die Bretagne geschickt, wo er bis November 1918 seinen Grundwehrdienst ableistete. An die Front musste er nicht, dank des Waffenstillstands entging er dem Krieg. Den Rest seiner Dienstzeit, damals drei Jahre, verbrachte er in verschiedenen Garnisonen in Ostfrankreich. Kaum aus dem Dienst entlassen, wurde er erneut eingezogen. Im März 1921 besetzten französische und belgische Truppen in der gemäß Friedensvertrag entmilitarisierten Zone des Rheinlands die Städte Duisburg und Düsseldorf. Lange musste Bove aber nicht bleiben, sein Wehrpass gibt in militärischer Knappheit Auskunft: „Im Mai 1921 im Korps angekommen als Schütze. Besetzung des Rheinufers vom 11. Mai bis zum 15. Juni 1921. Nach Hause entlassen am 17. Juni 1921.“
Ich folge Bove über den Bahnhofsvorplatz, er kommt nicht allein nach Tulln, an seiner Seite befindet sich Suzanne, sie ist fünf Jahre älter als er, das Paar hat erst vor zwei Wochen geheiratet, Suzanne, mit Mädchennamen Vallois, lernte Bove während seiner Zeit beim Militär kennen, sie arbeitete als Volksschullehrerin, sie sei groß gewesen, braunhaarig, habe spanische Gesichtszüge gehabt. Als die beiden in Tulln ihre Zelte aufschlagen, zählt die Stadt etwas mehr als 6000 Einwohner. Der Zerfall der Monarchie und die ersten Nachkriegsjahre haben auch hier ihre Spuren hinterlassen. Vorbei der Glanz der Jahrhundertwende, als man sich in der ehemaligen Bamberger-Residenz weltmännisch gab, die neueste Mode aus Wien zur Schau trug und über die Wiener Straße zum Hauptplatz flanierte. Zahlreiche gutbürgerliche Geschäfte gab es, kleine Konditoreien, Wirtshäuser. Nun mangelt es an allem, die Hyperinflation setzt den Menschen zu, bekam man 1914 für zwei Kronen noch ein Kilo Schweineschmalz, waren jetzt bis 15.000 Kronen dafür zu bezahlen. Ein Laib Brot kostete 1922 zuweilen mehr als 5.500 Kronen, ein Jahr zuvor war er noch um 160 Kronen zu haben. Über das Tullner Feld zogen Scharen von „Hamsterern“ und Quellen besagen, dass an Samstagabenden die Züge, die von Wien kamen, derart überfüllt waren, dass die Menschen wie Bienenschwärme an den Trittbrettern der Waggons hingen und sogar auf den Dächern gesessen seien. Österreichweit kam es zu Hungerdemonstrationen, Plünderungen und Toten, die Salzburger Festspiele mussten abgesagt werden, da die Gäste nicht mehr verpflegt werden konnten, auch in anderen Tourismusregionen, Tirol und Oberösterreich, wurden alle Gäste ausgewiesen, die Lebensmittel reichten nicht.
Boves Werk hat nichts an Aktualität verloren, er beschreibt die Vereinzelung des Individuums in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Warum also ausgerechnet Tulln, warum Österreich? Emmanuel Boves jüngerem Bruder Léon zufolge habe der günstige Wechselkurs das junge Paar zum Verlassen Frankreichs bewogen: „Das Geld war nichts mehr wert. Mit dem wenigen, das Suzanne noch hatte, kaufte er Schillinge, und dann zogen sie dorthin, damit er Zeit habe, sein Buch zu schreiben.“ Und er fügt noch hinzu: „Nur kamen sie vor Hunger fast um.“ Damit übertreibt er zweifelsohne nicht, die Situation in Österreich war verheerend, aber in Frankreich war sie eben nicht besser. Fest steht jedoch auch, dass Bove Paris unbedingt verlassen wollte, um schreiben zu können, er sollte dieses Vorhaben in den darauffolgenden Jahren immer wieder umsetzen, mal ging er in die Schweiz, mal an die Côte d’Azur, um einen Roman zu beginnen. Was nicht heißen soll, dass er in Paris nicht arbeiten konnte, aber um sich wirklich in Ruhe konzentrieren zu können, war Paris wohl nicht die richtige Stadt für ihn. Immer wieder brach er alle Brücken nach Paris ab, kehrte seiner Geburtsstadt den Rücken – und wohl auch seiner Familie, Bove schämte sich seiner Herkunft, diese Scham durchzieht sein ganzes Leben.
Während ich meinen Gedanken nachhänge, sehe ich die beiden mächtigen Türme der Tullner Stadtpfarrkirche, fast fünfzig Meter sind sie hoch, sie prägen das Bild der Stadt, als Bove und seine Frau hier ankommen und ein Zimmer in Untermiete beziehen. Wenig ist über ihren Aufenthalt bekannt, nicht einmal das Haus, in dem das Paar lebte, ist ausfindig zu machen. Als wäre Bove nie in dieser Stadt gewesen, in der im Mai 1922 seine Tochter zur Welt kommt. Suchte die schwangere Suzanne nicht einen Arzt auf, ging Bove nicht in eine Apotheke? Warum scheint Nora nicht in einem Geburtenregister auf? Ihr Vater vergaß, sie anzumelden, las ich in der umfangreichen Biografie von Raymond Cousse und Jean-Luc Bitton. Bove war keinesfalls einer, der wollte, dass man von ihm spricht. Während andere versuchen, von sich reden zu machen, scheint er sich selbst vergessen machen zu wollen. Und schon gar nicht will er von sich selbst sprechen. Als er – bereits ein gefeierter Autor – von einem Verleger gedrängt wird, etwas über sich selbst zu schreiben, lehnt er durchaus humorvoll ab: „Wenn ich um des Redens willen rede, wird man meinen, dass ich einen kleinen virtuosen Akt vollführe, und mir erneut sagen, was ich schon so oft gehört habe: ,Sie haben das Talent, aus nichts etwas zu machen.‘ Sollte ich dieses Talent wirklich haben, dann schwillt mir aber deshalb nicht gleich der Kamm, denn ich halte es nicht für verdienstvoll, aus nichts etwas zu machen, sondern eher, etwas aus dem zu machen, was man vorfindet. Und das ist in diesem Fall meine Unfähigkeit, Angaben zu meiner Person zu liefern. Dafür gibt es tausend Gründe. Der hauptsächliche Grund ist eine Scham, welche mich daran hindert, von mir selbst zu sprechen. Alles, was ich sagen könnte, wäre darüber hinaus verkehrt.“
Sein um ein Jahr älterer Kollege, der Dichter und Schriftsteller Philippe Soupault, hält über Boves Verschwiegenheit fest: „Bove war ein eigenartiger Mensch. Er war sympathisch, entgegenkommend, freundschaftlich – aber immer ein wenig reserviert. Man spürte, dass er etwas phlegmatisch und zugleich weit weg war. Er öffnete sich nicht leicht und legte eine gewisse Kühle an den Tag, die in Wirklichkeit eine Art Scham war. […] Ob er schweigsam war? Nein, das war er nicht: Er dachte an etwas anderes.“
Wie reagieren die Menschen in Tulln auf das Paar? Erkennen sie in Boves Geistesabwesenheit die Attitüden eines Städters? Interpretieren sie sein Gebaren als Arroganz? Immerhin ist er Franzose, Klischees sind damals wie heute rasch zur Hand. Gewiss haben die Tullnerinnen und Tullner andere Probleme. Doch mag die Zeit auch noch so trüb sein, Bove legt eine Unbekümmertheit an den Tag, die verblüfft. Er scheint sich keine Sorgen zu machen, ist von einer ungeheuren Realitätsferne und Arglosigkeit, vor all den Katastrophen – und die ereilen ihn ja schon seit seiner Kindheit – scheint er in eine Traumwelt zu fliehen. Er ist „woanders“, im Universum des Traums, wie seine Biografen treffend feststellen, „ja fast des Schlafwandelns, an der Grenze des Weggetretenseins“. Diese Ansicht bestätigt auch der Schriftsteller und Kunsthistoriker Jean Cassou, der während der deutschen Okkupation Frankreichs in der Résistance kämpfte und nach Kriegsende das Pariser Musée National d’Art Moderne aufbaute, Cassou kannte Bove in seinen Anfängen: „Bove war dem praktischen Leben gegenüber völlig gleichgültig, mit einer Art entzückender Unbekümmertheit. […] Voller Ironie, wenn er bei uns war, und ganz unernsthaft in Bezug auf sich selbst.“
Bei all der Leichtfertigkeit darf nicht unerwähnt bleiben, dass Bove schlicht unfähig war, Verantwortung zu übernehmen, mehr noch, er ging ihr aus dem Weg. Dies wiederum sorgte bei seinen Verwandten für Missstimmung, die mitunter in offenen Hass umschlug. Er funktionierte nicht, um es salopp zu formulieren, und nicht etwa, weil er nicht funktionieren wollte, er war nicht in der Lage dazu. Seine Unangepasstheit führte unweigerlich zu familiären Brüchen und verweist zugleich auf seine Kindheit.
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Geboren wurde Emmanuel Bove als Emmanuel Bobovnikoff am 20. April 1898 in Paris. Sein Vater, ein Bonvivant und Hasardeur, wuchs im jüdischen Viertel von Kiew auf und kommt vermutlich ein Jahr vor Emmanuels Geburt in Paris an. Angeblich floh er als wichtiges Mitglied der anarchistischen Bewegung vor der zaristischen Polizei, das ist nur Legende. Eher zwang ihn die Angst vor Pogromen zur Flucht: Als Zar Alexander II. 1881 einem Attentat zum Opfer fällt, werden umgehend Juden der Tat bezichtigt, obwohl der Mörder ein Russe ist. Massive Übergriffe sind nun an der Tagesordnung, vor allem in Kiew und Odessa. Mag sein, es gab noch andere Gründe, die Boves Vater zum Aufbruch veranlassten, alles reine Spekulation. Jedenfalls durchquerte er zu Fuß Deutschland, hielt sich einige Zeit in Berlin und Straßburg auf und eignete sich auf seinem Gewaltmarsch, wie es anders nennen, die deutsche Sprache an, was ihm bald nützlich sein sollte. Denn in Paris lernte er Henriette Michels, Boves Mutter, kennen, eine deutschsprachige Luxemburgerin, die sich zwar schon seit einigen Jahren als Hausmädchen in der Seine-Metropole verdingte. Lange verständigten sich die beiden untereinander auf Deutsch, wobei sie einander nicht viel zu sagen hatten, wie es scheint. Während Boves Mutter weiterhin als Mädchen für alles arbeitete, hing sein Vater seinen Träumen nach, nannte sich mal Student, mal Professor, dann wieder Schriftsteller, Buchdrucker oder Verleger, und schlug sich die Nächte um die Ohren. „Obwohl immer knapp bei Kasse, war er ein unverbesserlicher Schürzenjäger“, kommentiert Léon und: „Er war ein mit einer lebhaften Intelligenz ausgestatteter Träumer, der von dem Wunsch beseelt war, es zu etwas zu bringen.“
Sie waren nach Tulln gezogen, damit Bove Zeit hatte, sein Buch zu schreiben. Nun kamen sie dort vor Hunger fast um.
Seine ganze Kindheit hindurch werden Emmanuel Bove, sein Bruder und seine Eltern regelmäßig aus Wohnungen hinausgeworfen, da sie die Miete nicht aufbringen können. Der Schriftsteller hat sich nie öffentlich zu seinen Eltern und seiner Kindheit geäußert, sein Bruder aber gewährt Einblick in die düsteren Verhältnisse: „Emmanuel schlief in einem schmuddeligen Bett. Selbst im Januar gab es Wanzen. Die Kinder
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