Ich ertappe mich dabei, dass ich wieder nur über den Krieg schreiben will. Dieser Krieg beherrscht mein Leben. Ich stehe damit auf, ich schlafe damit ein. Das Erste an jedem einzelnen Tag seit über hundertdreißig Tagen ist der Blick auf die Online-Live-Karte der Geschehnisse, das Letzte jeden Tag ebenso.
Inzwischen sagt man mir online, dass ich mich freuen würde, dass ich mich damit in den Mittelpunkt drängen könne, dass ich Kriegstreiberin sei, dass man mir wünscht, dass meine Familie an vorderster Front stünde, käme der Krieg hierher und ähnliches mehr. Doch meine Familie steht doch an vorderster Front, denke ich, denn meine Familie ist nun 44 Millionen groß. Menschen, die mir so nahe waren, wie die engsten Freunde und meine Familie hier, müssen um ihr Leben fürchten. Die ersten Wochen konnte ich nicht aufhören zu weinen. Mittlerweile ist Sommer und ich habe das Gefühl, dass der Februar nie geendet hat, dass die Hilflosigkeit nicht geendet hat. Das ohnmächtige Zuschauen-Müssen mit gebundenen Händen. Das Nicht-wegsehen-Können. Jedes Honorar, das ich erhalte, geht in die Ukraine, jedes freie Zimmer, das ich finde, ist an Freunde von dort vergeben. Das Gefühl geht trotzdem nicht weg. Ich schaue ständig nach, was der Krieg gerade macht. Ich war gerne ein Kind meiner Zeit, habe gerne an den Frieden durch wirtschaftlichen und kulturellen Austausch geglaubt. Wir sind aufgewacht und finden uns in einem Albtraum.
Einige meiner Freunde sind an der Front. Zwischen Mykolaiv und Cherson warten sie verzweifelt auf Verbandsmaterial. Lasterweise. Der Mensch, der jeden Tag neben mir zugebracht hat, während ich die ersten beiden Bücher schrieb, postet jeden Tag etwas auf Facebook, damit wir, die weit weg von der Front um ihn bangen, wissen, dass er noch lebt. Auf Facebook habe ich auch über meine ukrainischen Freunde geschrieben, in der Hoffnung, dass mehr Spenden zu jenen Hilfsorganisationen fließen, in die sie involviert sind.
Was jene vergessen, die darauf pochen, dass Waffen zu liefern schlecht sei, denn es würde mehr Tote bedeutet, ist, dass es nur weniger Tote auf russischer Seite bedeutet. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich nicht will, dass meine Freundinnen von russischen Soldaten vergewaltigt werden. Dass ich nicht will, dass meine Freunde gefoltert werden. Dass ich nicht will, dass dieses Land ausgelöscht wird, denn nichts anderes droht ihm. Ja, natürlich könnten sie aufgeben, natürlich könnte die Ukraine kapitulieren.
Abstrakt könnte man sagen, dass dies etwas ist, was ein souveräner Staat einfach nicht tut: Gebietsverluste hinnehmen. Aber hier geht es nicht um ein weit entferntes Gebiet im Osten, denn was haben denn dabei die Bombardierungen im Gebiet um Lviv zu bedeuten? Es geht um totale Unterwerfung und damit um den Verlust der Freiheit.
Abstrakt und von Staats wegen mag uns allen das egal sein, aber konkret würde ein Leben unter russischer Herrschaft für die Ukrainer und damit für all jene, die mir dort ans Herz gewachsen sind – ein spitzer Dorn in mir – katastrophale Auswirkungen haben. Jene Großmütter, die auf der Krim voller Vorfreude für einen Anschluss an Russland gestimmt haben, waren sich nicht darüber im Klaren, dass ihre Pensionen künftig wesentlich geringer ausfallen würden und ihre tatarischen Nachbarn in Schauprozessen für nichts und wieder nichts verurteilt werden würden. Dass Modernität und Komfort ebenso verschwinden würden, wie die persönliche Freiheit, hinzugehen wo man will und wann man will oder zu sagen, was man will, wann immer man will. Die Ukraine mag kein perfekter Staat sein, aber wer mit dem Korruptionszeigefinger wedelt, kann den Blick auch gerne nach Österreich schweifen lassen. Während die Ukraine statistisch ein Weniger an Korruption zu verzeichnen hatte, hat Österreich hier noch Punkte hinzugewonnen. Tendenzen, die sich in absoluten Zahlen abzeichnen. Kein perfektes Land, aber immerhin ein (noch) freies.
Ich hatte mich immer als Pazifistin gesehen, doch dieser Pazifismus wurde zuvor noch nie auf die Probe gestellt. Bei jenen, die nun das Ideal des Pazifismus’ wie eine Monstranz vor sich hertragen, muss man sich fragen, wie es um ihr persönliches Freiheitsbedürfnis steht: Befänden sie sich in einer restriktiven Diktatur wie der russischen, dürften sie nicht um Frieden bitten und das Wort Krieg nicht aussprechen. Würden sie kapitulieren, wenn man vor ihrer Tür stünde und ihnen fremde Herrschaft aufzwänge, in der sie all das, was sie nun sagen, nicht mehr sagen dürften? Was ist es wert, mit der Waffe in der Hand verteidigt zu werden?
Einige glauben auch nicht an die Brutalität dieses russischen Regimes, sind überzeugt, dass es doch nicht so schlimm sein würde, dass es medial aufgebauscht sei. Erstaunlicherweise sind es stets jene, die kein Wort Russisch sprechen, die derlei von sich geben.
Die freie Ukraine, ein Land voll von offenen und herzlichen Menschen, so erinnere ich es, hatte den Weg in das einundzwanzigste Jahrhundert angetreten. Russland nicht. Daher stehlen russische Soldaten moderne Waschmaschinen und Traktoren, die dann, weil sie mit satellitengestützter Technologie gesteuert werden, von den ukrainischen Bauern, die sich per Traktor auch den einen oder anderen Panzer geholt haben, einfach wieder ausgeschaltet werden. Gestohlene Apple EarPods konnten mit der Find-my-phone-App plötzlich Informationen über Truppenbewegungen liefern und wer sich unter einer Yogamatte versteckt, kann von einer Wärmebildkamera nicht erfasst werden, während Fünfzehnjährige mit Spielzeugdrohnen die Feinde auskundschaften und Tüftler Abschussvorrichtungen auf E-Bikes montieren. All diese modernen Dinge gäbe es nicht mehr unter russischer Fremdherrschaft, die das ertragreiche Land ausplündern wie ausbluten würde. Nur mehr für eine dünne, dünne Oberschicht. Ein russischer Soldat stahl ein MacBook Air, entfernte dafür das Innenleben aus seiner kugelsicheren Weste, ersetzte es mit dem Notebook und fand so den Tod – das MacBook konnte die Kugeln, die ihn trafen, nicht aufhalten.
Die Zivilbevölkerung verfügt nur über diese Dinge, weil der Korruption der Kampf angesagt wurde, weil Jahrzehntelang darum gerungen wurde, dass Wohlstand nicht nur für die Oligarchen da ist. Hier haben viele Europäer den Anschluss verpasst: Sie glauben, es handle sich um ein verarmtes, hinterwäldlerisches, rückständiges Land. Verarmt, teilweise, ja, aber uns dennoch in vielem voraus: So gibt es geradezu flächendeckend WLAN. Ein Schock für Flüchtlinge, hier zu sehen, dass man im glorifizierten Europa davon weit entfernt ist. Gerade in Deutschland haben meine ukrainischen Mitbewohnerinnen, eine Freundin mit ihrer Mutter und Katze, die ich noch von damals aus der Ukraine kenne, gewitzelt, dass an der Front das WLAN besser sei als in Deutschland. Gerade in Deutschland, von dem aus gerne anderen Ländern gesagt wird, was sie zu tun hätten. Die Waffen niederlegen, zum Beispiel.
Denn man sieht die Ukrainer nicht als Menschen, mit den gleichen Menschenrechten, während man frischfröhlichflockig der Meinungsfreiheit frönt und Frieden kreischt, mir erklärend, ich sei eine Hexe oder gar Satan und ich würde mir mehr Tote wünschen. Soll euch der Teufel holen!
Überhaupt einundzwanzigstes Jahrhundert: Hiermit verneige ich mich vor der österreichischen Bürokratie und sämtlichen Mitarbeitern. Zwar kann man noch nicht – wie in der Ukraine – alles über eine App machen, doch die Zusammenfassung der Amtswege für ankommende Ukrainer an einer Stelle und die schnelle Abwicklung… Chapeau! Nur drei Wochen hat es gedauert, bis in Graz mit meinem Ankömmling alles erledigt war.
Manche ziehen also den Versuch in einem Kriegsgebiet zu überleben den deutschen Ämtern vor. Dies jedoch nur am Rande.
Der direkte Vergleich mit Deutschland zeigt, dass dort die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut oder ob sie überhaupt existiert oder ob sie nicht eher ein Fuß ist und zuallererst ist man einmal an der falschen Stelle und man lernt schnell, dass die erste Auskunft, die man von einem Amt bekommt, erst mal falsch ist. Nach drei Monaten ist mit meinen Flüchtlingen in Deutschland immer noch kein Ende des bürokratischen Marathons in Sicht und jene Deutschen, die dieses System zu verteidigen versuchen, mit der Behauptung, dass es in Österreich doch gewiss genauso schlimm sei: Wagt es nicht! Meine unmittelbar aufeinanderfolgenden Erfahrungen haben gezeigt, wo wir stehen. Ihr solltet euch schämen, Behauptungen über andere Länder oder anderer Länder Bürokratie zu tätigen, ohne dies selbst erfahren zu haben. Ich wäre früher niemals auf die Idee gekommen, die österreichische Bürokratie zu verteidigen, weil ich sie für mühsam und träge hielt, doch vieles hat sich verbessert und alleine, dass manche dem Impuls folgen, dieses deutsche Desaster als ein über das funktionierende System erhabenes zu deklarieren, spricht Bände über ihre Ahnungslosigkeit. Einige Flüchtlinge sind übrigens in die Ukraine zurückgekehrt, weil kein Licht am Ende der Ämterodyssee auszumachen war. Manche ziehen also den Versuch in einem Kriegsgebiet zu überleben den deutschen Ämtern vor. Dies jedoch nur am Rande.
Symptomatisch für die Distanz jener „Intellektuellen“ steht ein Interview mit Alice Schwarzer, in dem sie die Ukraine zweimal Ungarn nennt.
Was uns das Verhalten der friedensversessenen selbsternannten Intellektuellen aber zeigt, ist etwas allgemein Menschliches: Wir haben Empathie, mit jenen, die uns am nächsten sind, die anderen sind uns gleichgültig. Symptomatisch für die Distanz jener „Intellektuellen“ steht ein Interview mit Alice Schwarzer, in dem sie die Ukraine zweimal Ungarn nennt. Da ist keine Nähe.
Dieses Phänomen mit der Nähe ist der Regelfall, es mag Ausnahmen geben, doch am meisten zittern wir um die, die wir als die „Unsrigen“ betrachten. So haben gerade in Österreich – und vor jedem einzelnen möchte ich auf die Knie gehen – Menschen für Ukrainer Herzen, Portemonnaies und Pforten geöffnet. Ja, mag sein, dass ein Landwirt im Hintergrund auch das Fortbestehen seines Betriebes vor Augen hat, wenn er in Bussen all seine Gastarbeiter aus den letzten Jahren abholt. Aber auch die Abende, wo man zusammen gegessen, getrunken und gesungen hat. Warum sie nicht vor der Erntesaison holen? Die Unterkünfte stünden ohnehin leer. Wer Freunde hatte, bot an: Komm doch her, wir bekommen das schon hin. Menschen, die man von Geschäftsreisen und Urlauben schon jahrelang kennt. Wir rücken zusammen für die, die wir kennen.
Für viele wird auch der Pauschalsatz, dass die Ukraine von Nazis bevölkert sei, zum Leitmotiv der Einstellung, den Menschen dort die Unterstützung zu verwehren. Eine Ironie des Weltgeschehens möchte man meinen, dass jenes Land als Nazi-Land bezeichnet wird, in dem die rechten Parteien mangels Stimmen aus dem Parlament geflogen sind, während das Land, das einen faschistoiden Eroberungskrieg begonnen hat, den Antifaschismus im Banner führt.
Dass es jedoch viele Anhänger Stepan Banderas gibt, ist durchaus wahr, dass man in der Westukraine eine Bandera-Vanille-Latte in Coffeeshops bekommt, ebenso. Dies kann man bei Vielen der allgemeinen Geschichtsvergessenheit zuschreiben, in der junge rebellische Geister Che Guevara-Shirts tragen, ohne an seine Opfer zu denken, denn des einen Freiheitskämpfer ist des anderen Terrorist. Zwar erhoffen wir von politischen Entscheidungsträgern und Vermittlern mehr, aber diese beweisen ohnedies tagtäglich, dass man mit Erwartungen zurückhaltend sein sollte. Die Liste all jener, die aus unserer heutigen Sicht nicht gerade „zu den Guten“ gehören, ist lang und wird immer länger. Auch und gerade in unseren Breiten, wo eine Straße nach der anderen umbenannt werden soll, um endlich nicht mehr jene zu verehren, die der Welt mehr Verderben als Frieden gebracht haben.
Blicken wir auf unsere traurige Feststellung von vorhin, dass wir doch nur mit jenen fühlen, die uns nahe sind: Bandera, hoffend die Ukraine vom stalinistischen Regime zu befreien, setzte auf die Nazis. Dafür das jüdische Volk im Volke, das bei dem weit verbreiteten östlichen Antisemitismus dieser Zeit ohnedies unbeliebt war, über die Klinge springen zu lassen, schien ihm vielleicht nicht einmal ein großer Preis. Diese waren nicht die eigenen, gehörten nicht dazu, und wenn es bedeutete das russische Joch loszuwerden, dann war von Mitgefühl mit ihnen keine Spur, dafür jedoch von Massengräbern. Das ist, worüber die Geschichte schließlich geurteilt hat, ebenso wie die Geschichte über jene urteilen wird, die aus demselben Grund der Ukraine ihre Hilfe verwehren wollen.
* * *