Zornige Zwischenrufe in Zeiten des Z

Von Vladimir Vertlib. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 66

Online seit: 20. Mai 2022
Vladimir Vertlib
Vladimir Vertlib

„Wer hat euch denn erlaubt, besser zu leben als wir.“
Ein Graffito an einer Wand in Butscha, das die russischen Truppen dort hinterlassen haben. Bis Anfang Mai wurden nördlich von Kiew die Leichen von etwa 1200 ermordeten Zivilistinnen und Zivilisten gefunden.

„Sie sind doch noch so jung – richtige Kinder; sie albern ja nur herum!“
Eine Frau aus Nowokusnetsk (Sibirien) über die russischen Soldaten in der Ukraine.

1.) Mütterchen Russland lebt im Internet

Offenbar gibt es sie doch: Menschen in der Ukraine, die in den russischen Eroberern Befreier sehen. Aus nachvollziehbaren Gründen sind das nur sehr wenige, und wenn sie ihre Haltung zur Schau stellen, schwingen sie die falschen Fahnen. Bekannt ist vor allem die Geschichte jener alten Frau aus einem Dorf im Donbass, die in den ersten Tagen des Krieges eine sowjetische Fahne schwingend aus ihrem Haus kam und freudig einer Gruppe von Soldaten entgegenging, die sie für Russen hielt. Die Soldaten waren jedoch Ukrainer. Einer von ihnen war es offenbar auch, der die nachfolgende Szene gefilmt und das bald berühmt gewordene Video produziert hat.

Die Soldaten gehen auf die alte Frau zu, ohne das Missverständnis aufzuklären. Sie reichen ihr eine Tüte mit Lebensmitteln und nehmen ihr die rote Fahne mit Hammer und Sichel aus der Hand. „Ihr braucht die Lebensmittel sicher mehr als ich“, sagt die Frau. „Aber nein, nehmen Sie, nehmen Sie bitte!“, insistieren die Soldaten und grinsen. Einer von ihnen wirft die Fahne auf den Boden und trampelt darauf herum. „Ruhm der Ukraine!“, rufen die Soldaten. „Ruhm den Helden!“ Die alte Frau schüttelt den Kopf und gibt den Soldaten die Lebensmittel zurück. „Für diese Fahne hat mein Vater gegen die Faschisten gekämpft, für euch, für mich, für uns alle! Und ihr trampelt darauf herum. Ich brauche eure Lebensmittel nicht“, verkündet sie stolz und geht.

In Russland wird die alte Frau aus dem Donbass inzwischen als Heldin gefeiert. In Putin-treuen, nationalistischen Kreisen werden ihr Denkmäler aufgestellt, Lieder für sie komponiert, Gedichte über sie geschrieben. Was mit ihr nach dem geschilderten Vorfall passiert ist, weiß man allerdings nicht. Zudem ist es durchaus nahe liegend, dass es sich bei dem Video um ein Fake handelt, weil es sich zu offensichtlich und zu schön in das Narrativ des Putin-Regimes von einer „militärischen Sonderoperation“ gegen die Nazis, die als Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges gesehen werden kann, einfügt. Doch letztlich spielt es eine untergeordnete Rolle, ob das Ganze ein Fake ist oder ein reales Ereignis darstellt. Entscheidend ist, dass die Menschen, die die Geschichte glauben wollen, sie in jedem Fall glauben, und das sind viele. Es ist auch keinesfalls ausgeschlossen, dass sich der Vorfall tatsächlich ereignet hat oder ereignen hätte können. Zweifellos gibt es in der Ukraine Sowjetnostalgiker mit starker Affinität zu Russland. Sie haben sogar eigene politische Parteien, sind aber nur eine kleine Minderheit, die seit Putins Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass 2014 immer schwächer wird. Heute ist die Bevölkerung der überwiegend russischsprachigen Gebiete rund um Mariupol, Melitopol, Cherson oder Odessa fast ohne Ausnahme pro-ukrainisch eingestellt. In Putins autoritärem, zunehmend faschistischem Imperium oder seinen volksrepublikanischen Marionettenstaaten möchte in der Ukraine kaum jemand leben. Bezeichnenderweise war es die sowjetische Fahne und nicht die russische Trikolore, mit der die alte Frau den Soldaten entgegenging. Dass sie dafür in Russland zur Heldin stilisiert wird, ist genauso aberwitzig und hybrid wie die ganze Propaganda und Ideologie hinter diesem Krieg. In seiner martialischen Rede zu Kriegsbeginn hatte Putin nicht nur eine „Denazifizierung“ der Ukraine angekündigt, sondern auch eine endgültige Säuberung dieses Landes vom kommunistischen Erbe. Putin wird zwar von vielen als Sowjetnostalgiker gesehen, was er zweifellos auch ist, er will aber keineswegs den kommunistischen Staat wiederherstellen. Wer der Sowjetunion nicht nachtrauere, habe kein Herz, verkündete er vor einiger Zeit. Wer sie sich zurückwünsche oder wiederherstellen wolle, habe jedoch keinen Verstand. Diese Aussage ist nicht ganz ohne Widersprüche, die darin enthaltene Ambivalenz ist jedoch durchaus typisch für das Putin-Regime. Es hat keine klare Ideologie, sondern nur Facetten derselben, die oftmals in Widerspruch zueinander stehen, ja man könnte es als – analog zum Begriff „postmodern“ – als „postideologisch“ bezeichnen. Putin trauert der Sowjetunion und der einstigen Größe, Macht und Bedeutung dieses Imperiums nach, aber er hasst Lenin und bewundert stattdessen den „weißen“, also konterrevolutionären General Anton Denikin (1872-1947), der im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken gekämpft hatte, als „großen Russen“.

Putins Reich ist imperialistisch, es ist chauvinistisch, aber nicht offen rassistisch. Man spricht zwar von der „russischen Erde“, der „russischen Sendung“, den besonderen Eigenschaften des „russischen Menschen“ und davon, dass europäischer Liberalismus und die europäische Vorstellung von Demokratie nicht zu Russland passen, doch ist die Russische Föderation ein Vielvölkerstaat, was nicht geleugnet wird. Im Gegenteil. Die autonomen Republiken haben eine weitreichende Autonomie (soweit das in einer Diktatur überhaupt zulässig ist). Die integrative Funktion des Staates wird betont. Angehörige von Minderheiten können durchaus große Karrieren machen, so wie zum Beispiel Verteidigungsminister Schoigu – ein Tuwine. Einen systematischen, staatlichen Antisemitismus wie in der Sowjetzeit gibt es ebenfalls nicht mehr, und sogar der Islamismus wird in Russland toleriert, solange er an der Peripherie bleibt und von Personen propagiert und umgesetzt wird, die loyal zum herrschenden Regime sind. Dass gleichzeitig Ukrainern die Identität abgesprochen wird, dass sie als „Nazis“ diffamiert und „entukrainisiert“ werden sollen, dass ständig von der Größe des russischen Wesens gefaselt wird und Außenminister Lawrow öffentlich behauptet, die größten Antisemiten seien selbst Juden gewesen, ja Hitler selbst jüdische Wurzeln gehabt habe, steht dazu im Widerspruch, was für die Anhänger des Regimes aber nicht weiter schlimm ist. Die Bevölkerung im postsowjetischen Raum hat seit mehreren Generationen gelernt, mit Widersprüchen zu leben. Diese stören nicht, solange der Wohlfühlfaktor hoch ist. Und dieser ist für die typischen Konsumenten staatlicher Fernseh- und Internetkanäle immer hoch. Dort nämlich wird jeder noch so armseligen und gescheiterten Alkoholikerexistenz (und derer gibt es viele) im tiefsten Hinterland des Riesenreiches vermittelt, als Bestandteil des größten Landes der Welt, welches den Rest derselben in atomare Asche verwandeln kann, etwas Besonderes zu sein. Sogar in der Ausnüchterungszelle des Polizeireviers einer sibirischen Arbeitersiedlung, deren einzige Fabrik längst zur Ruine verfallen und die Wohnblöcke nicht einmal mehr die Bezeichnung „Dreckslöcher“ verdienen, fühlt der regelmäßige Medienkonsument seine innere und äußere Größe. Das Delirium tremens ist die eine Sache, der Stolz darauf, Russe zu sein, eine andere. Man ist ein Niemand und weiß es auch, insgeheim hasst man die Obrigkeit, die Oligarchen, die Bürokratie, eigentlich alle „da oben“, das eigene beschissene Leben, das von Anfang bar jeglicher Perspektiven war, und doch ist man natürlich „für Putin“, hat ihn gewählt und wird es immer wieder tun.

Was bleibt einem da noch übrig, als die überheblichen Mistkerle über den Haufen zu schießen, alles zu rauben, und sei es nur eine Bratpfanne oder ein altes Dreirad für Kinder, und den Rest niederzubrennen. Schließlich hat man ja auch Gefühle …

Die „mutige, ehrenwerte Greisin“ aus der Ostukraine ist die Verkörperung und der Katalysator all dieser widersprüchlichen Gefühle. Sie ist „Mütterchen Russland“, die Siegerin, das nationale Gewissen und die ewige Mahnung, die rührselige Nostalgie und Erinnerung an eine bessere Zeit, die es niemals gegeben hatte, vor allem aber an das Einzige, was man historisch in den letzten hundert Jahren zweifelsfrei vorweisen und worauf man wirklich stolz sein kann: Den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“! Genau diesen Krieg, viel mehr noch als den eigentlichen Krieg gegen die Ukraine oder die NATO, spielt man heute, im Jahre 2022 nach. Das sei man den eigenen Großeltern und Urgroßeltern schuldig, heißt es, und träumt insgeheim davon, einmal im Leben keine marginale Existenz, sondern ein Held und ein Sieger zu sein in einem gerechten Kampf für eine bessere Welt! Dafür lohnt es sich, ein Brudervolk zu Nazis zu erklären, ein paar Städte auszuradieren und Zehntausende Menschen zu ermorden. Besonders dann, wenn das Brudervolk es wagt, frech aufzubegehren, Freiheit nicht nur einzufordern, sondern hin und wieder sogar frei zu leben und einen bescheidenen Wohlstand zur Schau zu stellen, den man selbst als stolzer Russe im größten und wunderbarsten Land der Welt nicht hat. Was bleibt einem da noch übrig, als die überheblichen Mistkerle über den Haufen zu schießen, alles zu rauben, und sei es nur eine Bratpfanne oder ein altes Dreirad für Kinder, und den Rest niederzubrennen. Schließlich hat man ja auch Gefühle …

Schon im Schulhof hatte man Krieg gespielt – Sowjets gegen Nazis, Gut gegen Böse, Sieger gegen Verlierer. Nun spielt man weiter, statt mit Schneebällen allerdings mit Handgranaten und Raketen. Hierin sind sich alle einig, hier entsteht eine Verbindung von ganz oben bis ganz unten. Der Präsident und der Sandler sind sich einig und haben letztlich denselben Wunsch: die Nazis noch einmal besiegen, das Imperium wiederherstellen, den Westen und die NATO zu demütigen, mehr zu sein als man ist. Also ist es nahe liegend, dass all das, was wir heute erleben, irgendwann passieren musste.

Die militärische Führung beschwert sich, dass das Regime den Krieg in der Ukraine nicht hart und konsequent genug führt. Wenn schon „Zweiter Weltkrieg 2.0“, der in einen Dritten Weltkrieg übergehen könnte, dann richtig! Es scheint, als ob Putin diesen Forderungen nachgeben und die Eskalationsspirale weiter drehen möchte. Im staatlichen Fernsehen spielen währenddessen selbsternannte Experten diverse Varianten eines Atomkrieges durch, so als handle es sich um mögliche Strategien und Taktiken für ein Fußball-WM-Endspiel.

Faktum ist jedenfalls, dass Putin und seine engsten Getreuen Sowjetmenschen sind, und dies in einem Ausmaß, einer seelischen Durchdringung und der daraus folgenden seelischen und geistigen Zersetzung, wie es keine Führungsschicht vor ihnen gewesen war, und das nicht einmal in der Sowjetzeit selbst. Die Führungsschichten früherer Zeiten, und zwar alle von der Zeit nach Stalin bis zu Jelzin und seiner Entourage, hatten meist sowohl den Schock des Zweiten Weltkrieges selbst erlebt als auch noch enge Kontakte zu Familienangehörigen gehabt, die vor der Sowjetzeit oder in deren kulturell relativ offenen, ideologischen Aufbruchszeit der 1920er Jahre sozialisiert gewesen waren. Die daraus resultierenden inneren Erschütterungen und bewusst erlebten Ambivalenzen hatten die psychologische Wirkung, dass die Großen und Mächtigen jener Zeit im Zweifelsfall durchgerüttelt und gebremst wurden, wenn sie einmal drauf und dran waren, die ganze Welt mit einem Fußball zu verwechseln. Chruschtschow gab 1962 nach und begann keinen Atomkrieg; sein Nachfolger Putin hat jetzt schon höher gepokert, als es sich Chruschtschow jemals hätte träumen lassen.

Putin und seine Gefolgsleute hingegen sind Kinder der 1950er bis 1980er Jahre, geprägt in einer Zeit des Niedergangs, des moralischen Verfalls, des Zynismus und der permanenten Heuchelei. Sogar wenn sie Grundsätze, gesellschaftliche Pläne und Ziele haben, ist ihr Glaube an das Gute im Menschen nur schwach ausgeprägt. Vertrauen ist sowieso ein Fremdwort. Wenn man ständig lügt und betrügt, dasselbe aber – einem bestimmten Muster folgend – die gesellschaftlich akzeptierte Spielregel ist, kann man sich in einer solchen Welt ganz gut einrichten. Putin liebt die Sowjetunion, verachtet aber den Kommunismus. (Doch, doch, das geht, hat aber seinen Preis!) Der russische Schriftsteller, Dissident und Logiker Alexander Sinowjew (1922-2006) beschrieb schon im Jahre 1982 in seinem berühmten Buch Homo Sovieticus diesen Menschenschlag sehr eindringlich. „Sei mit niemandem befreundet“, heißt es dort. „Dein bester Freund könnte dich verraten. Liebe nicht! Je reiner deine Liebe, desto größer die Enttäuschung. Vertraue niemandem! Je mehr du jemandem vertraust, umso zynischer wirst du belogen. Lerne zu verlieren! Je mehr du verlierst, umso leichter gehst du in den Tod. Denk nicht an deine Nachkommen! Deinen Nachkommen ist dein Schicksal egal. Sogar unsere besten Absichten werden die Nachkommen als Zwang auslegen und unsere besten Errungenschaften für dumm und talentlos halten. Aber, wenn du erkennst, dass der Tod gerecht ist, sei bereit, mit Fanfarenklängen unterzugehen. Sag es auf Russisch: ‚Wenn schon untergehen, dann mit Musik.‘ Und kämpfe trotzdem um dein Leben, bitte nicht, bettle nicht, kämpfe.“

Den Kampf haben die heutigen Machthaber in Russland längst zu einem pseudoreligiösen Dogma erhoben, wobei sie natürlich in erster Linie andere für sich sterben lassen. Und die Musik? Die spielt in einer Lautstärke auf wie nie zuvor – bar jeglicher Harmonie, allgegenwärtig.

2.) Zickezacke

Der letzte Buchstabe des lateinischen Alphabets weckt bei Menschen in unserem Kulturkreis unzählige Assoziationen, allerdings selten positive. „Z“ – das ist zwar die zirpende Grille, aber auch die zischende Schlange, das Summen der Fliege, der unangenehme, bedrohliche, schneidende Laut, der die Ohren sausen und das Blut stocken lässt. Es ist das Heulen der deutschen Tiefflieger im Zweiten Weltkrieg und das Zischen der Kugel, die an einem vorbeifliegt. „Z“ ist das empörte „Ts, ts, ts“ beim Kopfschütteln, das Letzte, das Ende aller Dinge, die Sackgasse. Es ist ein halbes Hakenkreuz, eine Schlange mit Hang zu klaren geometrischen Formen und ein gleichermaßen bedrohliches „Zack!“. „Z“ steht für „Zombies“, für „Zusammenbruch“ und „Zerstörung“, für ein gegröltes, bierschwangeres „Zickezacke!“ oder das russische „Zyz!“, was man ungefähr mit „Kusch!“ übersetzen kann. Im Russischen wird es allerdings wie ein stimmhaftes „S“ ausgesprochen – der Anfangsbuchstabe des Wortes „Za“, was „für“ oder „dafür“ heißt und natürlich nicht mit dem lateinischen „Z“, sondern dem Russischen „З“ geschrieben wird. „Za Rodinu! Za Rossiju! Za Putina!“ Für die Heimat! Für Russland! Für Putin! Das ist im heutigen Russland an vielen Wänden, auf Plakaten und Bildschirmen zu lesen – geschrieben mit einem „Z“, statt eines zyrillischen „З“. Kindergartenkinder stellen sich im Hof auf und bilden dabei ein Z aus vielen kleinen Körpern. Das ist widerwärtig und erbärmlich zugleich.

Die ukrainischen Medien vergleichen Putin gerne mit Hitler. Sie schreiben seinen Namen durchgehend mit Kleinbuchstaben – putin – und bezeichnen Russen als „Raschisten“ – eine Verknüpfung des englischen Ausdrucks „Russia“ und des Wortes „Faschisten“. Was den Nazis die Juden waren, seien den „Raschisten“ heute die Ukrainer, heißt es. Der Vergleich zwischen dem heutigen Russland und Nazi-Deutschland ist – trotz aller Unterschiede – nicht ganz falsch, ein Unterschied allerdings ist fundamental und zeigt, dass man historische Ereignisse, die achtzig Jahre auseinander liegen, letztlich doch niemals stimmig miteinander vergleichen kann. Die Menschen von heute haben einen viel besseren Zugang zu Information als vor achtzig Jahren, und eine intellektuelle, gar nicht so kleine Minderheit – die Zivilgesellschaft – versteht es nicht nur, das Internet gezielt zu nutzen, sondern besitzt auch eine klare humanistische Haltung, die es früher in dieser Form noch nicht oder nur bei sehr wenigen gegeben hatte. Viele Menschen besitzen außerdem so viel Selbstreflexion und Empathie, dass sie über das Vorgehen des Putin-Regimes in der Ukraine derart entsetzt und angeekelt sind, wie es im Deutschland des Jahres 1939 wohl kaum jemand gewesen war. Für diese Menschen spielt es eine wesentliche Rolle, dass sie die Geschichte des Zweiten Weltkrieges kennen und diese gerade deshalb nicht wiederholen wollen. Was für die einen Ansporn zu vermeintlichem Heldentum darstellt, ist für andere das genaue Gegenteil.

Letztlich hat Putin mit diesem Krieg auf der ganzen Linie ohnehin das Gegenteil von dem bewirkt, was er eigentlich intendiert hatte. Er hat nicht nur intensiv zu einer Stärkung der ukrainischen Identität beigetragen, diesem Land ein neues Narrativ und ein Heldenepos „geschenkt“ und somit bewirkt, dass sich nun fast alle Menschen des Ostens und des Südens als Ukrainer fühlen, was vor zehn Jahren gewiss noch nicht der Fall war. Seine Politik hat auch im eigenen Land zu einer Ernüchterung geführt, die Spreu vom Weizen getrennt, sodass die Menschen nun Farbe bekennen müssen, und die – zugegebenermaßen zahlenmäßig relativ kleine – Opposition radikalisiert, gestärkt sowie in ihrer Ablehnung des Regimes zu einem monolithischen Block vereint hat. Das macht ein wenig Hoffnung für die Zukunft in diesen traurigen Zeiten. Die Opposition ist in der Minderheit, doch inzwischen widerständig genug, um nicht einfach durch Einschüchterung, Verbote oder physische Vernichtung aus der Welt geschafft zu werden. So passiv, uninformiert und duldsam wie zu Stalins Zeiten ist das Volk nicht mehr; eine Minderheit, die in der Masse größer ist als nur ein kleines Häufchen, ist international vernetzt, weltoffen und bereit, aufzubegehren, wenn die Umstände es zulassen. Außerdem merkt man deutlich, dass die Machthaber Angst vor dem eigenen Volk haben, weswegen die Repressionen im Vergleich zu den martialischen Ankündigungen, Verboten und Drohungen in den meisten Fällen relativ milde bleiben. Noch gehen die russische Polizei und Geheimdienste nicht wie die Gestapo oder der NKWD vor – Ausnahmen bestätigen die Regel. Wer gegen den Krieg demonstriert, kommt für einige Tage ins Gefängnis, aber (noch) nicht für fünfzehn Jahre in ein Straflager. Man lässt einzelne unliebsame Gegner ermorden, aber (noch?) exekutiert man echte und vermeintliche Feinde nicht massenweise in irgendwelchen Kellern. Das tut man „nur“ in den besetzten Gebieten der Ukraine. Es gibt sogar Nischen für Satire und kritische Berichterstattung – vor allem im Internet, wo Sperren und Blockierungen relativ leicht umgangen werden können. Nein, frei atmen kann man in diesem Land nicht mehr, aber man erstickt noch nicht ganz, auch wenn einem ob der Niedertracht, des Elends und des Wahnsinns, von dem man umgeben wird, ständig schwindlig wird.

3.) 9. Mai 2022: „Tag des Sieges“

Eines ist sicher: Putin wird diesen Krieg verlieren. Sogar wenn seine Armee militärische Erfolge erringen sollte, werden die Folgen für Russland und das Regime derart horrend sein, dass es früher oder später daran zerbrechen wird. Während ich dies schreibe, wird allerdings großspurig und betont selbstsicher der „Tag des Sieges“ über Nazi-Deutschland vor 77 Jahren gefeiert. In den letzten Wochen kursierten zahlreiche Gerüchte darüber, was Putin wohl an diesem Tag verkünden oder tun werde. Nichts davon ist eingetreten. Weder wurde offiziell der Krieg erklärt noch die Generalmobilmachung verkündet. Das jedoch hat in einer Diktatur wie jener in Russland eine viel geringere Bedeutung, als man meinen könnte. Der Krieg ist ohnehin seit zweieinhalb Monaten im Gange, und Wehrpflichtige müssen gelegentlich jetzt schon in den Kampf ziehen, wenn auch nicht offiziell. Der ukrainische Präsident Selenskyj prophezeit währenddessen einen Sieg der Ukraine. Was bleibt ihm anderes übrig? Die Ukraine kann in diesem Krieg nur siegen oder untergehen.

Bezeichnenderweise wurde der 9. Mai in der Sowjetunion erst im Jahre 1965 als Feiertag eingeführt. Das Trauma eines Krieges bewältigt man nicht durch Jubelstimmung und Militärparaden. Ob es nach diesem Krieg noch Siegesparaden geben wird oder nur mehr Gedenktage, weil Kriege letztlich alle zu Verlierern machen? Es ist zu befürchten, dass die Menschen niemals klüger werden.

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Vladimir Vertlib wurde 1966 in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren. 1971 emigrierte die Familie nach Israel, dann nach Österreich, Italien, Holland und die USA, bevor sie sich 1981 endgültig in Österreich niederließ. Er studierte Volkswirtschaftslehre und lebt seit 1993 als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays, ein Theaterstück sowie zahlreiche Artikel. 2001 erhielt er den Adelbert von Chamisso-Förderpreis sowie den Anton Wildgans Preis. Vertlib schrieb u.a. die Romane Zwischenstationen, Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur, Schimons Schweigen und Lucia Binar und die russische Seele, der 2015 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand. 2022 erschien sein Roman Zebra im Krieg im Residenz Verlag. Er ist Mitherausgeber von Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.