An diesem Tag

Von Andrea Winkler. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 65

Online seit: 13. Mai 2022
Andrea Winkler © Reinhard Winkler
Andrea Winkler. Foto: Reinhard Winkler

An diesem einen Tag wollte ich mich auf den Weg begeben wie jemand, der weiter nichts als das zu tun hat. Ja, auch einen Zettel mit meinen geheimen Vorbildern wollte ich mir in die Hosentasche stecken, um die Namen all derer von Zeit zu Zeit auszurufen, die es verstanden, sich mitten in Bedrängnis und Verwirrung jemandem anzuvertrauen, der sich zwar als schweigsam, nicht aber als gleichgültig erweisen kann. Braucht es nicht Mut und die Bereitschaft, Erfahrungen im Unbekannten zu sammeln, um sinnvoll zwischen Schweigsamkeit und Gleichgültigkeit zu unterscheiden?

Immerhin hatte mich über viele Jahre hinweg häufig das Gefühl intensiven Verlusts von Orientierung heimgesucht, vergleichbar dem überaus mühevollen Schwimmen in einem vom Wind aufgepeitschten Gewässer, bei dem das Ufer ganz aus dem Blickfeld gerät. Mir war dann, als riefe etwas nach mir, zuerst sehr drängend, laut, eine Durchmischung von Geräuschen, die dann aber, je entschiedener ich ihm nachgab und mich den Wellen überließ, ohne mich über Gebühr anzustrengen, in Wimmern, schließlich aber in leises Säuseln überging. Ich hatte mich gefragt, welcher Art die Sache war, die sich hier zeigte, und ob die Geschichten unbekannter Ahnen sich darin Gehör verschafften. Einmal war ich nach solcher Nacht an meinem Schreibtisch gesessen, hatte zum geschlossenen Fenster hinausgeblickt und beobachtet, wie die Katze ein Eichhörnchen jagte, das Eichhörnchen aber geschwind den kahlen Nussbaum hinauf kletterte, um von dort oben die Katze ihr Interesse verlieren zu sehen. In diesem Augenblick war ein Buch aus dem Regal gefallen, das einmal meinen Großeltern gehört und das ich schon ganz vergessen hatte; als ich mich darüber beugte, um es aufzuheben, fielen ihre Erinnerungsbilder heraus und ein sehr altes getrocknetes, vierblättriges Kleeblatt. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass dies hier ein Gruß meiner Großmutter war – und stellte die Bilder auf und betrachtete das Kleeblatt eingehend, ehe ich es wieder zurück zwischen genau jene Seiten schob, aus denen es mir in den Schoß gefallen war.

Jetzt aber beschloss ich, seine Kontur vorsichtig abzuzeichnen und das Bild den Namen jener zuzugesellen, die mir an diesem Tag als leuchtendes Beispiel vorangehen sollten.

Ein besserer Tag als dieser würde auch gar nicht kommen können: Der Himmel verlor sich in hellem, weitem Blau, und wenn sich eine Wolke bildete, dann strahlte sie die Leichtigkeit eines durchlässigen, unbekümmerten Lungenflügels aus, der ebenso wie ich nichts weiter im Sinn hatte, als sich der Farbenpracht und Vielfalt jener Gestalten zu erfreuen, in die hinein er sich verschwendete. Auf dem Feldweg vor mir sammelten sich da und dort kleine Pfützen, Reste des Gewitters der letzten Nacht, eine Wohltat für die Böden, aus denen Mönchspfeffer, wilder Knoblauch, Sonnenhüte und eine Vielfalt dichtester Schafgarbe sich aufrichtete, wie um mich daran zu erinnern, dass ich mir als sehr junger Mensch bei einer Unzahl schwieriger Ereignisse, persönlicher und unpersönlicher, vor Augen geführt hatte, was alles am nächsten Tag an Schönem, letztlich Unversehrbarem noch da sein würde, ganz unabhängig von der Entwicklung eben dieser Ereignisse.

Ich hob, von metallenem Klang in der Luft aufgeweckt, den Kopf und sah fünf Schwäne über mich hinziehen, vermutlich auf dem Rückweg zum Fluss, den ich bereits hinter mir gelassen hatte. Würden sie nicht, dort angekommen, die Flügel spreizen, ehe sie sich geschmeidig im Wasser absetzten, um ohne jeglichen Nachdruck auf ein von jeher geschenktes Territorium zu verweisen, das nicht erst durch besondere Vorzüge erworben werden muss?

Wie wunderbar war mein Weg! Kaum ein Haus säumte ihn, und wenn doch eines auftauchte, dann kletterte der Efeu in den Figuren dreier Tänzer die Wand hinauf, und Katzen schlichen vorbei, die sich satt davor in den Schatten legten. Einmal stand mitten in einer Wiese ein vergessener Liegestuhl aus Holz, bespannt mit gestreiftem Tuch, durch das der Wind strich; ein Eichelhäher setzte zum Sinkflug an, es schien, als wolle er ausgerechnet an einem Ort rasten, der ihm gewiss streitig gemacht werden würde.

Ich war sicher, dass es die Stille, durch die ich mich bewegte, nicht bedrücken würde, wenn ich ihr einen Traum übergab, der sich mir seit längerer Zeit immer wieder ins Gedächtnis schlich, ohne mir einen allzu deutlichen Wink zu geben:

Ich befand mich darin in einer Hütte, die einsam auf einem verschneiten Berg lag; hin und wieder kam ein Wanderer vorbei und fragte mich, ob ich etwas zu essen hätte, wenigstens einen Teller Suppe. Erfreulicherweise leerte sich der Suppentopf kaum jemals, sodass ich niemanden abweisen musste, nur störte es mich, nicht zu wissen, wie lange ich hier noch ausharren und worauf mein Sein hier hinauslaufen sollte: Ob ich von nun an keine andere Aufgabe mehr zu erfüllen hätte, als Wanderern Suppe zu geben? Nie fragte mich einer nach dem Weg oder wie es kam, dass ich hier oben, mitten im Schnee, Wohnung genommen hätte, auch Rat verlangte keiner, einzig Suppe wurde gewünscht. Einmal, als ich darüber in tiefe Verwunderung geriet, fand ich mich plötzlich in einem wunderbaren Garten wieder, in dem wilde Rosen, Glockenblumen, Margeriten und Dost in reicher Fülle sich hin und her wiegten; auch gab es da hohe, mächtige Buchen, Birken und Kastanien. Wenn ein Luftzug sie bewegte, klang es wie das Rieseln von Wasser. Mitten darin aber stand eine Theke und eine Kleiderstange, auf der verschiedene Stücke zur Auswahl hingen. Während ich einen Mantel probieren wollte, klingelte mein Telefon, und während ich in meiner Tasche nach ihm suchte, kam eine Frau auf mich zu, offenbar die Eigentümerin, die mich mit sanften, aber bestimmten Augen ansah, und mir sagte, sie glaube, ich hätte noch einen weiten Weg vor mir; hier, im Garten, könne ich nun nicht mehr länger bleiben. Sie glaube, ich müsse durch etwas Großes hindurch, und dies würde einige Zeit in Anspruch nehmen, denn derartige Schneemengen schmölzen nicht an einem Tag. Während sie mich zum Tor begleitete, wickelte sie mir noch einen Schal um den Hals und setzte mir eine Pelzmütze auf den Kopf; aber bedanken konnte ich mich nicht, denn nun stand ich wieder im Schneegestöber und musste darin den Weg zu meiner Hütte finden.

Kein Wunder, dass ich ins Sinnieren kam!

So mussten sich in der alten Geschichte Adam und Eva gefühlt haben, als Gott sie aus dem Garten Eden wegschickte, weil sie dem Rat der Schlange gefolgt waren. Noch im Traum fragte ich mich, welch falscher Annahme ich aufgesessen war, ohne es zu bemerken, und ob es vernünftig war, im Garten nach dem Telefon zu greifen? Ich begriff, dass ich mit solchen Fragen auf gar keinen Fall zu einer fruchtbaren Erkenntnis gelangen würde, und hielt es für richtiger, nicht zu vorschnell eine Antwort zu erwarten. Meine Achtung vor den beiden Figuren aus der Geschichte aber wuchs blitzartig: Hatten sie sich nicht ein Ja für eine überaus schwierige Ausgangssituation abgerungen, waren sie ihren Weg nicht tatsächlich gegangen? Mein kurzer Aufenthalt im Garten musste jedenfalls trotz allem eine Art Nahrung für mich gewesen sein, denn als ich im Traum zu meiner Hütte zurückkehrte, war die Suppe aus, und ich machte mir nicht das geringste daraus…

Zurück in diesem Sommertag hörte ich zarte Windböen in den Kronen der Eichen rauschen; der Duft von frischem Heu lag in der Luft. Eine kleine Pension, die aussah, als hätte sie hier jemand vergessen, stand am Ufer eines Sees, an dem kein Badender zu Gast war; allerdings sah ich in dem leicht verwilderten Garten eine Frau Hortensien zurechtschneiden.

Sie erzählte mir, dass hier in früheren Jahren reger Betrieb geherrscht habe; wie aber jeder wisse, hätten sich die Ansprüche der Menschen drastisch verändert, und heute übe weder der See noch die Gegend irgendwelche besonderen Reize auf Reisende aus. Es gebe hier auch kaum noch Gastronomie; sie selber bewohne das Haus auch längst nicht mehr, sie bringe es aber nicht übers Herz, es zu verkaufen; hier her fahren könne sie nur, wenn der Gesundheitszustand ihres Mannes, den sie in ihrer Wohnung in der Stadt pflege, ihre Abwesenheit erlaube. Sie koste dann die Stille des Hauses sehr aus, und wundere sich darüber, dass sie gar nicht traurig würde, wenn sie von Gastzimmer zu Gastzimmer ging, um die Fenster zu öffnen und Luft durch die Räume ziehen zu lassen. Ja, solche Tage wären ihr kleines Fest, es genüge ihr dann vollkommen, nichts weiter zu hören, als hin und wieder das Nagen der Eichhörnchen oder den Flügelschlag der Schwäne oder das Knacken einer Leitung im Haus. Früher sei sie selber in den Wintermonaten in der Welt herum gereist, habe sich gesättigt an der ungeheuren Lebendigkeit der Großstädte, jetzt blicke sie auf den einen und andern mitgebrachten Gegenstand ganz ohne Wehmut. Zwar sei sie sehr beunruhigt über den Lauf der Dinge, über all die besorgniserregenden Entwicklungen, aber jetzt, wo sie sich der Begrenztheit ihrer Lebenstage bewusster als früher wäre, lasse sie sich von der Fülle nicht mehr überwältigen, sondern frage sich eher, worauf es noch ankomme. Der gehäufte Besuch von Verabschiedungen und Beerdigungen trage seinen Teil zu solcher Fokussierung bei; und manchmal denke sie, wenn sie jüngeren Menschen etwas zu sagen hätte, dann das, dass man nicht früh genug damit anfangen könne, das Augenmerk darauf zu richten, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Plötzlich entschuldigte sie sich dafür, mir dies alles einfach so gesagt zu haben, und verabschiedete sich, als würde sie einzig rasches Davongehen vor dem Weitersprechen bewahren. Ich winkte ihr nach, erstaunt darüber, wofür wir Menschen uns entschuldigen.

Sogleich lag der See wieder ganz still vor mir und lud mich ein, ein Bad zu nehmen. Das Wasser war kalt, rein und dunkel, denn ein großer Teil wurde von einem bewaldeten Hügel beschattet, und beim Schwimmen durchströmte mich jenes seltene Glück, das einen sogar jubeln lässt. Und war es nicht wunderbar, sich für die Dauer einer leisen Stunde von nichts anderem umgeben zu fühlen, als von einer Welt, in der ein Haus übrig bleibt für eine noch ausstehende Generation an Gästen…? Beinahe wäre ich nach meinem Bad im Schatten einer Eiche eingeschlafen, ich döste und sah im halben Traum einen Weg vor mir, auf dem mir unbekannte Menschen in Gruppen Leiterwägen zogen, auf denen allerhand Hausrat versammelt war, und Kleider und Spielzeug.

Ich hatte noch zwei kleine, ebenfalls halb verlassene Orte zu durchqueren, und der Weg, der mich bis dahin erwartete, führte durch den Wald, entlang eines Flusses, dessen Lauf von großen, bemoosten Steinen durchbrochen und umgelenkt wurde. Vor mir her flatterten zwei Zitronenfalter, so fröhlich, dass mir meine Beine von ihrem Anblick leicht wurden. Ein feierliches Gefühl ergriff mich, wie es häufig geschah, wenn ich allein an einem Sommertag durch einen kaum bekannten Wald spazierte, begleitet nur von zeitweiligem Rascheln im Gebüsch, von Vögeln, deren Stimmen ich nicht ausreichend differenzieren konnte, und dem Wind, dessen Schwung sich damit begnügte, Äste und Zweige überaus zart zu bewegen. Ich wusste, dass ich an der Weggabelung den linken Pfad, der den Hügel hinaufführte, einzuschlagen hatte; er war beinahe zugewachsen, sodass ich meinen Schritt verlangsamte, um die Ringelnattern nicht zu irritieren, die sich hier gern sonnten.

Auf dem schmalen, ansteigenden Pfad holten mich Erinnerungen an längst vergangene Ereignisse ein, die in vielen Schichten überaus dunkel leuchteten; wie sehr sehnte ich mich danach, sie ganz aus meiner Hand in eine andere zu geben, die besser als ich wusste, wie sie zu ordnen seien.
Vor einigen Jahren hatte ich in einem Museum ein kleines Gemälde betrachtet, auf dem zwei Gestalten eine ansteigende Straße hinaufgingen, und es schien dabei, als wäre der Himmel über ihnen zugleich der Grund unter ihren Füßen, nur fließender und sich in allen Farben spiegelnd und brechend. Jetzt und hier und über mir war er immer noch ungetrübt, und bald würden sich die Zinnen der alten Burgruine, die da hoch oben über Wald und Fluss blickte, scharf gegen ihn abheben.

Auch hierher hatte sich an diesem Tag niemand anderer verirrt, sodass ich die alte Mauer, von der aus die Gegend am besten zu überschauen war, ganz für mich allein hatte. Ich war müde und sah wieder den tanzenden Schatten zu, die von den Ästen auf die übrig gebliebene Wand gezeichnet wurden. So lag ich, unbeschäftigt, eingebettet in eine nur scheinbar abgelegene Landschaft, die ihre Üppigkeit so ungeschützt verschenkte. Bald würde mein Weg den Wald verlassen und ins freie Feld übergehen, wo sich Scharen von Sonnenblumen ausbreiteten, und Gräser mit transparenten Spitzen, die sich gewiss über jeden Zweifel an ihrer Berechtigung, auf so selbstverständliche Weise da zu sein, erhoben. In der Ferne erhaschte ich hinter einer Hecke aus Weißdorn ein paar Gestalten, die neben ihren Motorrädern lagerten. Als ich näherkam, erkannte ich, dass es Jugendliche waren, die Musik hörten, rauchten, wenig sprachen und ihren Blick in die Ferne schweifen ließen. Einen von ihnen hörte ich sagen, dass er alles unter Kontrolle habe und gewiss nicht süchtig werden würde, ein anderer meinte, es sei wohl schwer, ein Leben lang von nichts und niemandem abhängig zu sein, er sei nicht sicher, ob es nützlich wäre, das anzustreben. Ich grüßte und fragte sie, ob sie einen Weg abseits der Straße kennen würden, der ins nächste Dorf führe. Sie erklärten mir, ich solle einfach den Feldweg weitergehen und rechts abzweigen, bevor der wieder in den Wald münde. Von hier dauere es aber noch sehr lange, sicher eine Stunde; wenn ich hingegen einfach der Straße folgen würde, wäre ich so gut wie gleich da. Ich bedankte mich, froh darüber, nicht allzu lange unter so wenig Schatten weiter zu gehen. Ich griff in meine Hosentasche und erinnerte mich der Namen, die ich hierher mitgenommen hatte. Wie dankbar war ich, dass ich an den Geschichten ihrer Träger nicht vorbei gekommen war! Oder hatten sie mich von sich aus eingeholt, in der Weise einer stillen, aber überaus wirksamen Begegnung, bei der man ahnt, dass hier etwas geschieht, dem man sich nicht entziehen sollte? Ich weiß es nicht; und was tut‘s am Ende zur Sache? Ich ging fröhlich dem Dorf entgegen. Es bestand aus wenigen Höfen, die sich links und rechts der Straße aneinander gruppierten, mit kleinen Vorgärten und manch schönen Toren, von denen eines rosarot gestrichen war. Noch bevor ich mich der Hausnummer versicherte, wusste ich, dass dies das Haus meiner Bekannten war, die mich vor langer Zeit eingeladen hatte, sie zu besuchen.

Sie führte mich in den Garten; wir saßen vor einer riesigen Schaukel und einem Meer an allerlei hell strahlenden Blumen und tranken Wasser. Sie erzählte mir, dass sie mittlerweile sehr gern hier lebe, obwohl die Arbeit an diesem Haus kein Ende nehme, und hier wenige Menschen lebten, zu denen sie engeren Kontakt pflege. Sie käme gut mit allen Nachbarn aus, schätze es auch, dass man einander auf der Straße wahrnähme und einige Worte wechsle, aber darüber hinaus lebe sie hier sehr für sich; eine störende Empfindung des Alleinseins stelle sich aber keineswegs ein, zumal sie mit ihren in der Welt verstreuten Freunden über verschiedene Kanäle verbunden sei. Mir, antwortete ich, fehle manchmal der physische Kontakt zu Menschen, denen ich mich nahe fühlte, ich hätte allerdings oft festgestellt, dass die Zeiten des Mangels an Austausch und Gespräch dazu führten, dass der Blick nach Innen klarer würde und so mancher Nebel, der da aufzuspüren war, sich aufhellte.

Meine Bekannte stand auf, um mir in ihrem Atelier eine Reihe von Zeichnungen zu zeigen, an denen sie die letzten Monate gearbeitet hatte… Ich sah zarte Vögel auf Leitungen sitzen oder schwere Gewichte heben; ich sah viel weiten Raum um sie herum, und kugelartige Formen, an deren Rand sie ihre Füße setzten, und durch die hindurch es wie Wasser zu rieseln schien.

Sie erzählte mir, sie habe Angehörige verloren, zu denen die Beziehung immer schwierig, aber sehnsuchtsvoll gewesen wäre, und Freunde, die es vermochten, sich in der letzten Zeit ihres Lebens in allen Handlungen auf das Notwendigste und Wichtigste zu reduzieren – so, als hätten sie, auf unerwartete Weise, immer schon zwei gut verbundene Gewichte in sich getragen, von denen eines immer hier und das andere immer anderswo gewesen wäre, „drüben“, wie man so unbekümmert sagt. Die Vögel wären dann wie von selbst in den Raum zwischen den Gewichten geflogen… Manchmal fielen ihr so viele Dinge ein, die sie ihrem Vater, an dessen Seite sie nicht aufgewachsen war, gern gesagt hätte; einmal sei er hier in diesem Garten gesessen und habe ihr erzählt, was er wann und wie in seinem Leben gemacht hätte; sie sei beeindruckt gewesen, gleichzeitig sei ihr dabei eingefallen, wie sehr sie ihn dann und wann gebraucht hätte; einen Augenblick lang sei sie nahe daran gewesen, ihn mit diesem Versäumnis zu konfrontieren, im nächsten aber habe sie gedacht, „wer bin ich, dir jetzt Vorwürfe zu machen?“ Und so habe sie es dabei belassen. Ich antwortete, dass ich drei Jahre nach dem Tod meines Vaters auf einmal das Bedürfnis verspürte, einen Weg zu gehen, von dem ich wusste, dass er ihn häufig gegangen war, allein. Ich hätte mich ins Auto gesetzt und wäre an den Ort gefahren; die ganze Zeit über wäre ich auf dem Weg niemandem begegnet, sodass ich mir ungehindert alles zuflüstern konnte, von dem ich dachte, dass mein Vater es mir jetzt und hier gerne sagen würde. Ich hatte tatsächlich die ganze Zeit über das Gefühl, dass er an meiner Seite war.

Eine Weile war es ganz still; dann holten wir die Suppe aus der Küche und setzten uns zurück in den Garten. Der Himmel würde an diesem Tag bis in die Nacht hinein ungetrübt bleiben, kein Grund also, sich ihrer Wärme zu entziehen.

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Andrea Winkler, geb. 1972 in Freistadt, lebt in Wien. Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft. Zuletzt erschienen: König, Hofnarr und Volk. Einbildungsroman (Zsolnay 2013), „Ich weiß, wo ich bin.“ Betrachtungen zur Literatur (Klever 2013), Die Frau auf meiner Schulter (Zsolnay 2018). Mehrere Preise und Auszeichnungen.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.