Eine Geschichte der österreichischen Literatur enthält die Behauptung, dass es eine solche gibt.“ Mit dieser ebenso lässigen wie leicht genervt anmutenden Bemerkung beginnt Klaus Zeyringer seinen Marsch durch die Jahrhunderte, um des Weiteren auf ausführliche Rechtfertigungen zu verzichten. Die historisch und soziokulturell bedingte Eigenart soll in den folgenden 800 Seiten zur Evidenz gelangen. Was sie auch tut – die Verlegenheit, österreichische Literatur-Phänomene in deutschen Epochenschubladen unterzubringen, wird materialreich illustriert: War Grillparzer ein später „Klassiker“? Gab es, von Lenau abgesehen, eine österreichische Romantik? War Anzengruber ein Naturalist, ehe der Naturalismus erfunden wurde? Und gab es den überhaupt in Österreich? Dass die literarischen Besonderheiten der Weimarer Republik nicht auf die österreichischen Verhältnisse übertragbar sind, macht die Lektüre des Kapitels „Erste Republik und Austrofaschismus“ sonnenklar. Die Bedeutung der Gegenreformation wie des Habsburgischen Vielvölkerstaats und seines geistigen Hallraums für die Literatur bis in die Gegenwart erschließt sich ebenso einleuchtend wie die nachhaltig fruchtbare Tradition von Prediger-Furor und Sprachspiel und widerborstiger Komik.
Literarhistorisches Meisterstück
Über die Gretchenfrage nach „dem Österreichischen“ ist tatsächlich lange genug gestritten worden; in jüngster Zeit hat man sich zu pragmatischen Lösungen durchgerungen: Nach Wynfrid Kriegleders Kurzer Geschichte der Literatur in Österreich (2011) vom Mittelalter bis heute legt das Autorenduo Zeyringer/Gollner nun sein literarhistorisches Meisterstück vor. Klaus Zeyringer verantwortet, beginnend mit dem Barock, den Hauptteil, während Helmut Gollner Portraits wichtiger Autoren von Ferdinand Raimund bis Ernst Jandl beisteuert.
Die Initialzündung für dieses Buch geht auf ein Unternehmen des verstorbenen Spiritus Rector der österreichischen Germanistik, Wendelin Schmidt-Dengler, zurück. Heute überhaupt das Projekt einer nationalen Literaturgeschichtsschreibung anzugehen, erfordert ja Mut und herkulische Bemühung. Clemens Ruthner sprach in einer Besprechung gendermäßig superkorrekt vom „Triathlon für Literaturwissenschaftler/innen“, von der „Iron (Wo)Man-Disziplin aus Lesen, Ordnen und Schreiben“: Betrachtet man die in den letzten Jahren und Jahrzehnten erschienenen Werke, stellt sich freilich die Frage, ob Literaturgeschichtsschreibung nicht doch männlich ist. Forscherinnen scheinen sich für die ewigkeitsresistente Zurüstung wenig zu interessieren.
Die Verlegenheit, österreichische Literatur-Phänomene in deutschen Epochenschubladen unterzubringen, wird materialreich illustriert.
Dass die Geschichte hier nicht mit dem Erzprediger Abraham a Sancta Clara beginnt, sondern mit dem Fräulein Catharina Regina von Greiffenberg und dessen Geistlichen Sonnetten (sic), ist sichtlich Programm. Zeyringer rückt aber nicht nur bisher im Schatten ihrer Kollegen stehende Autorinnen ins rechte Licht, sondern auch wenig bekannte Vormärzdichter, wie die revolutionär gesinnten Alfred Meißner und Moritz Hartmann, und er bietet echte Entdeckungen wie Joseph Rank (1816–1896) und Leopold Kompert (1822–1886), die Verfasser von Dorf- und Ghettogeschichten, oder Adolph von Tschabuschnigg und seinen Zeitroman Die Industriellen (1854). Die großen Namen fehlen deshalb natürlich nicht, aber Zeyringer bekennt sich dazu, dass eine Literaturgeschichte schreiben immer auch heißt, einen bestehenden Kanon zu revidieren und auf einen neuen hinzuarbeiten.
„Ein gezähmteres Wesen als ein österreichischer Autor hat gewiß niemals existiert“ befand Karl Postl alias Charles Sealsfield, der expatriierte Chronist des Metternich-Regimes. Mit der Geschichte dieser eben nicht vollends gelungenen Zähmung verfolgen die Autoren den roten Faden durchs „unentdeckte Österreich“ (Karl-Markus Gauß) der Rebellen und Außenseiter. Dazu gehört, dass sie auch die tschechische, kroatische und die slowenische Literatur auf österreichischem Boden, von Ivan Cankar bis zu Maja Haderlap, zumindest kursorisch berücksichtigen.
Die Autoren verleugnen ihren politischen Standpunkt also nicht, den man, so man die politischen Richtungsbegriffe links und rechts vermeiden möchte, fortschrittlich-republikanisch nennen mag. Es geht ihnen um die Würdigung emanzipatorischer Bestrebungen und um eine Revision der harmoniesüchtigen Österreich-ideologie der Nachkriegsjahre, wobei sie hie und da übers Ziel hinausschießen: Die Türkengefahr des 17. Jahrhunderts braucht keine Anführungszeichen, sie war, gerade für das gemeine Volk, eine reale, Leib und Leben betreffende, und keine eingebildete.
Schwarzgelbe Zuordnung
Die neuerdings in Mode gekommene vornehme Zurückhaltung bezüglich der rotweißroten, besser: schwarzgelben Zuordnung von Rilke, Kafka, Celan oder Canetti pflegen Zeyringer/Gollner hingegen nicht. Bei den kakanisch Verwurzelten zählt für sie vernünftigerweise nicht der Pass, sondern die kulturelle Identität und Selbstverortung. (Weshalb Elfriede Jelinek zwar „Österreichs einzige Literaturnobelpreisträgerin“ (Gollner) ist, aber doch in Elias Canetti einen würdigen Kollegen hat.)
Pierre Bourdieus soziologische Theorie des literarischen Feldes scheint durch Zeyringers Panorama und bedingt wohl sein besonderes Interesse für das, was man heute Literaturbetrieb nennt. Präzis verfolgt er Karrieren und persönliche Konstellationen, bestens informiert stellt er intertextuelle Bezüge her, entschlüsselt Anspielungen und referiert Skandale und Fehden. Bourdieu light also, gottlob, nirgends wird der Stoff zum Anschauungsmaterial der Theorie degradiert.
„Ein gezähmteres Wesen als ein österreichischer Autor hat gewiß niemals existiert.“
Schließlich liegt das Wesen einer Literaturgeschichte darin, dass man sie erzählt – diese Selbstverständlichkeit ist beiden Verfassern offensichtlich ein Anliegen, dem sie mit Vergnügen frönen. Charakterköpfe werden gezeichnet, Situationen ausgeschmückt, Anekdoten zum Besten gegeben, ein Buch nicht bloß zum Nachschlagen, sondern zum Schmökern. Gerade ihre Detailfülle macht den Reiz der Literaturgeschichte aus, auch geizt sie nicht mit literarischen Zitaten. Klaus Zeyringer spielt dabei den seriöseren Part, bemüht sich um wissenschaftliche Distanz, verteilt allerdings dennoch etwas willkürlich pointierte literaturkritische Wertungen, namentlich bei Werken jüngeren Datums, was wiederum dem Lesevergnügen nicht abträglich ist. Wo er nur dürre Worte findet, darf man im Zweifel auf eine handfeste Antipathie schließen.
Essayistische Waghalsigkeit
Helmut Gollner treibt in seinen Untersuchungen ad personam die essayistische Waghalsigkeit lustvoll auf die Spitze. Er kümmert sich speziell um das Liebesleben der Herren Dichter und deklariert sich offen als Partei, wobei die Polemik als Waffe in der Hand des Literarhistorikers (eine auf einen VOLLTEXT-Artikel zurückgehende Abrechnung mit dem späten Handke) doch befremdet: Sie ist eher Keule denn Florett. Anderes wiederum ist nicht bös gemeint, klingt aber so. Zum Beispiel: „Jelinek ist Menschenfeindin“. Sieht man einmal davon ab, dass es nicht stimmt: Solche Apodiktik scheint in einer Literaturgeschichte fehl am Platz. Aber sie passt halt gut in Gollners Behauptung eines national ausgebildeten „Post-“ und zuletzt gar „Antihumanismus“, die er in seinem Epilog über den Faust-Mythos in der österreichischen Literatur überzeugend exemplifiziert. Bei den Schulklassikern Grillparzer, Stifter und Raimund versucht Gollner vor allem eine Ehrenrettung – aus Liebe. Sein Bemühen, hier den Kathederstaub von Jahrhunderten wegzublasen, fruchtet, nicht zuletzt dank so manchem Formulierungstreffer; so ist zum Beispiel Stifter „ein dicker Froschkönig, der, ungeküsst, seine Verwandlung nur in seinen Büchern schaffte“.
Die Hierarchie der Autoren und Autorinnen, wie sie sich in dem ihnen jeweils zugebilligten Raum abbildet, ist nicht immer nachvollziehbar, und natürlich vermisst man dort am ehesten etwas, wo man sich auskennt. Schön also zum Beispiel, dass Robert Menasse zweieinhalb Seiten bekommen hat, Daniel Kehlmann dreieinhalb, Thomas Glavinic immerhin eine und Evelyn Schlag gleich vier – aber darf man Marlen Haushofer dann mit einer halben Seite abspeisen? Die Romanautorin Martina Wied, von Evelyne Polt-Heinzl jüngst mit Vehemenz in den Kanon der Zwischenkriegszeit reklamiert (Österreichische Literatur zwischen den Kriegen, 2012), wird nur einmal beiläufig erwähnt. Und wie konnte es passieren, dass Zeyringer (wie übrigens auch Kriegleder) auf eine profilierte Autorin wie Olga Flor vergessen hat, die dummerweise jetzt auch noch den Wildgans-Preis zugesprochen bekam? Nur recht und billig erscheint hingegen die Aufnahme der Kabarett-Sprachkünstler Georg Kreisler und Josef Hader.
Wynfrid Kriegleder hat seinem Werk gleichsam das Amulett eines Aperçus umgehängt: „Wer aus einem Buch abschreibt, begeht ein Plagiat, wer aus zehn Büchern abschreibt, verfasst eine wissenschaftliche Arbeit, wer aus hundert Büchern abschreibt, verfasst eine Literaturgeschichte.“ Klaus Zeyringer und Helmut Gollner haben eindrucksvoll bewiesen, dass nach dem Abschreiben die eigentliche Arbeit erst beginnt.
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