„Utopie und Entzauberung zugleich“

Stefan Gmünders Dankesrede zur Verleihung des Staatspreises für Literaturkritik

Online seit: 6. November 2021

Vielleicht hat Ernst Bloch recht, und Heimat ist kein Ort, sondern eine Perspektive. Ich bin in einer kleinen Stadt im Westen der Schweiz aufgewachsen, durch die ein Fluss fließt. Als Kind stand ich oft an dessen Ufer und schickte segellose Holzscheite auf die Fahrt ins Ungewisse. Das andere Ufer war unendlich weit weg, fast gleich weit weg wie Österreich, wobei ich mein Wissen über das Land im Osten vor allem aus Schirennen, besonders Abfahrten, bezog. Es schien ein Land zu sein, das, wenn es bergab geht, unschlagbar sein will. Wie die Schweiz, das war mir trotz aller Konkurrenz sympathisch, als 14-jähriger erweiterte sich dann mein Österreich-Bild, als ich bei einer Kapelle am Rand der Stadt auf eine Grabtafel mit einer kurzen Inschrift stieß: Charles Sealsfield, 1793 bis 1864: Bürger von Nordamerika. Nordamerika? Ich ging in die Bibliothek. Mit richtigem Namen hieß dieser Sealsfield also Carl Anton Postl. Ein Österreicher, ein Flüchtling und Whistleblower, der zunächst Geistlicher war, dann aber in Konflikt mit seinem Gewissen und dem Gesetz geriet, die Kutte ablegte und nach Amerika ging, wo er Romane verfasste – und Spottschriften, die er zurück nach Hause schickte. Was mich jedoch am meisten interessierte: Sealsfield hatte auch einen Indianerroman geschrieben: Häuptling Tokeah und die weiße Rose.

Häuptling Tokeah wurde 1828 publiziert, im selben Jahr war auch Sealsfields Pamphlet Austria as it is erschienen, das mit dem auf Korruption, Zensur und Desinformation aufgebauten System des Staatskanzlers Metternich abrechnet. Ich dachte, die Bücher müssten zusammenhängen und las beide. Verstanden habe ich sie nicht. Und trotzdem hat mich der Österreicher Charles Sealsfield, der nach Amerika floh, dann auf den alten Kontinent zurückkehrte und in der Schweiz starb, zum Leser gemacht. Weil ich spürte, dass es Orte waren, die seine Literatur bestimmen. Orte an denen er war, oder zu denen er noch hinwollte. Orte, an denen er glücklich war. Orte, die ihm zu eng geworden waren. Orte, die er sich selbst eroberte. Orte, in denen er sich schuldig machte. Und Orte, das musste ich feststellen, als ich mit 19 inspiriert von Wim Wenders nach Paris in Texas fuhr, sind in der Kunst immer auch Nicht-Orte, Möglichkeitsräume, also Utopien, die sich zuweilen in Alpträume verwandeln. „Weiß nicht mehr, wo ich bin, wer ich bin, was ich bin“, sagt einer der vielen Gestrandeten in Sealsfields letztem Roman Süden und Norden. Es ist ein amerikakritisches Buch, weil dessen Autor seinen Traum, dass im Westen eine neue, einigende Demokratie entstehen könnte, durch Raffgier, Geldwirtschaft und den Raubbau an der Natur verraten sah. Süden und Norden ist ein Roman der Entzauberung, der das stahlharte Gehäuse einer unbarmherzigen Ökonomie beschreibt, in das die Welt eingeschlossen ist. Doch die Art, wie Sealsfield die Farben der Landschaft, den Duft der Wiesen, das Gewimmel von Frauen, Männern und sozialen Schichten beschreibt, widerlegt gleichzeitig diese Diagnose. Es ist eine ungeheure Fülle, keine Knappheit, in diesem Buch, das von einer spröden Glückserwartung durchzogen ist, die, obgleich im Lauf der Jahre Lügen gestraft, unter Zittern und Beben weiterlebt.

In ihren besten Momenten, darauf hat der Germanist Claudio Magris hingewiesen, spricht Literatur immer von Utopie und Entzauberung zugleich. Don Quijote ist groß, weil er entgegen aller Tatsachen glaubt, dass eine Schüssel ein Helm sei und die grobe Aldonza eine bezaubernde Dulcinea. Hätte er nicht Sancho Pansa an seiner Seite wäre der Don allerdings gefährlich, weil seine Utopie die Wirklichkeit mit einem Traum verwechselt und so der Realität Gewalt antut. Der Don braucht Sancho, nicht nur weil dieser den Wahn durchschaut, sondern weil Sancho begreift, dass die Welt weder wahr noch vollkommen wäre, wenn man in ihr nicht den Zauberhelm und strahlende Schönheit sucht. Dasselbe gilt in anderer Ausprägung auch für Wolfram von Eschenbachs ebenfalls in Fiktionen verrannten Parzival, der durch den Einsiedler Trevrizent um die Entdeckung reicher werden muss, dass es nicht die ritterliche Regel, sondern eine Frage ist, die ihm beim verletzten Gralskönig den Gral einbringt. Sie lautet: Onkel, was fehlt euch? Es ist eine Frage des Mitleids. Und eine Frage unter Verwandten. Verwandt nicht nur im biologischen Sinn, sondern, wie Adolf Muschg sagt, verwandt mit jeglicher Kreatur, verwandt mit allem, was in der Welt anders ist und sich dem Raster richtig/falsch, schwarz/weiß, gut/böse entzieht.

Glaubt man der Literatur, dann sollten in Krisen- und Umbruchszeiten, in Zeiten der Inflation von Katastrophenerwartungen, in Zeiten der Angst, Ungewissheit und gesellschaftlichen Spaltung Utopie und Entzauberung Hand in Hand gehen. Sancho und der Don, Trevrizent und Parzival brauchen einander. Gerade weil sie unterschiedlich sind, gerade weil sie mit einer Vergangenheit konfrontiert sind, die nicht zurückkommt und mit einer Zukunft, die nicht absehbar ist. Endgültige Rezepte für solche Situationen gibt es weder im Leben noch in der Literatur, man kann nur gemeinsamen nach ihnen suchen. Utopie und Entzauberung stützten sich daher nicht nur, sie nützen sich durch wechselseitiges Berichtigen auch. In diesem Sinn habe ich Kritik nie als Richtspruch verstanden, sondern als einen Versuch, als Prozess der Annäherung, der begründeten Wertung und als eine von mehreren möglichen Sichtweisen, die hinterfragbar und ihrerseits kritisierbar zu bleiben haben. Kritik, die ihren Namen verdiene, sagt Foucault, habe mit „allen Blitzen der Gewitter des Denkbaren“ geladen zu sein. Er bezog sich dabei nicht nur auf die Kunst, sondern auch auf den gesellschaftlichen Diskurs. Aber das ist jetzt ein anderes Thema.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich danke der Jury und diesem Land, in dem ich seit 30 Jahren lebe, es gewährte mir Gastfreundschaft, eröffnete mir Möglichkeiten und ein neues Leben. Ich danke meinen Freunden und Verwandten und meine damit die Schwestern und Brüder im Geiste, ohne deren Hilfe und Geduld ich heute nicht hier wäre. Ich danke Paul Nizon, der einmal in einem Interview sagte, sein Wunsch wäre, dass sich seine Texte im Leser öffnen wie japanische Papierblumen im Wasser. Und ich danke Dante Andrea Franzetti, dessen Erzählen dem Leben diente, auch dem Leben der Toten, dem Leben der Schatten. Ich bin heute etwas lästig mit Zitaten, möchte aber trotzdem mit einem Gedicht von Gerhard Meier enden, auf den Peter Handke als einer der ersten hingewiesen hat. Gerhard Meier arbeitete 30 Jahre in einer Fabrik, bevor er den Beruf des Schriftstellers wählte, einen Beruf also, in dem man – wie als Kritiker – ein Leben lang Anfänger bleibt. Das Gedicht heißt: „Einem Kind“

Wirst dir einige Figuren zulegen
Hans im Glück
zum Beispiel
Mann im Mond
St. Nikolaus
zum Beispiel
und lernen
dass die Stunde sechzig Minuten hat
kurze und lange
dass zwei mal zwei vier ist
und vier viel oder wenig
dass schön hässlich
und hässlich
schön ist
und
dass historisches Gelände
etwas an sich hat

Zuweilen
sommers oder so
begegnet dir in einem Duft von Blumen
einiges dessen
was man Leben nennt
Und du stellst fest
Dass
was du feststellst
etwas an sich hat

 

Online seit: 6. November 2021