Ein fernes Land war Raul in die Wiege gelegt worden. Sein Vater lehrte dessen Sprache. Seine Mutter übersetzte Bücher, die dort – auf einem anderen Kontinent – erschienen. Die Eltern schwärmten von den Menschen und deren Sitten an jenem entlegenen Ort.
Das Fremde wurde Rauls Muttersprache. Der Bub lernte die Wörter beider Völker und wusste sich bald doppelt so gut auszudrücken wie die meisten Einheimischen von da oder von dort.
Der Vater führte seinen Sohn gerne vor. Er, der Universitätsprofessor für Literatur jenes nördlichen Staates, wurde in dessen Botschaft eingeladen und nahm zum Empfang den jungen Raul mit. Alle waren begeistert von dem Wunderknaben. Das Kind war die Sensation des Abends.
Von diesem Tag an wurde der Professor zu jedem Unabhängigkeitstag jenes weit entlegenen Landes eingeladen und gebeten, er möge doch unbedingt seinen talentierten Sprössling mitbringen. Raul musste auftreten und Vorträge halten. Alle lachten und klatschten, wenn sie ihn hörten.
Die Kinder in der Schule mochten ihn indes nicht. Er war ihnen ausgesprochen verdächtig. Betrat er ein Zimmer, senkten sie ihre Stimmen. Sie tuschelten hinter ihm her. Sie warfen ihm, dem Zweisprachigen, Doppelzüngigkeit vor.
Raul sah, dass er unter den Seinen nie heimisch werden sollte. Er wollte sich nicht – wie seine Eltern – nur nach einem fremden Land sehnen, sondern dort leben. Kannte er es denn nicht viel besser als die meisten seiner Bürger?
Kaum achtzehn geworden wanderte er aus, um dort zu studieren. Er brachte seine Zeugnisse mit. Ein Sekretär der Universität beugte sich über die Papiere, stolperte über seinen Namen, blickte auf den Exoten, der er hier war, sah in sein Gesicht, schaute den offenkundigen Ausländer, der vor ihm stand, an und fragte ihn in jenem Kauderwelsch, mit dem Fremde gemeinhin angesprochen wurden: „Können du überhaupt unsere Sprache?“ Raul antwortete ihm mit klaren Worten, doch der Beamte schüttelt nur den Kopf: „Was du sagen?“ Raul wiederholte, was er schon erklärt hatte – erst einfach, dann umschweifiger, dann schrie er. Aber nichts half. Der Mann sagte immer nur: „Ich nix verstehen.“ Da sah Raul, dass der Einheimische eben gar nicht begreifen wollte, dass er, ein Dahergelaufener aus jener geheimnisvollen Welt, reden konnte wie einer der Eingesessenen. Er nahm seine Dokumente wieder an sich und stürmte aus dem Büro, ohne einen weiteren Ton von sich zu geben.
Raul irrte durch die Metropole, die er aus Büchern viel besser kannte als seine eigene Geburtsstadt. Er sprach Menschen an, doch alle zuckten bloß mit den Schultern, wenn sie ihn hörten. Es war, als käme er für sie vom Mars. Ein Verdacht stieg in ihm auf. Vielleicht hatte er tatsächlich nie gelernt, diese Sprache korrekt zu intonieren. Womöglich klang es bei ihm immer falsch. Wahrscheinlich war er bei den jährlichen Unabhängigkeitsfeiern in der Botschaft zuhause nichts als ein Freak gewesen, eine Zirkusnummer, als wäre er ein Äffchen, dem beigebracht worden war, Opernarien zu singen.
Er irrte einsam durch die Straßen, da bat ihn eine junge Studentin mit Zigarette in der Hand um Feuer. Er zündete ein Streichholz an und dann – ganz anders als sonst – fragte er sie mit unbeholfenen Sätzen und im ausgeprägten Tonfall der Menschen aus seinem Land, ob sie ihm ein gutes Café empfehlen könne. Sie zeigte ihm den Weg, ging ihm voran, setzte sich gar gemeinsam mit ihm an einen Tisch und sagte, sie liebe den Akzent seiner Heimat. Da werde ihr immer ganz eigen zumute.
Als sie ihn Tage später küsste, hatte sich Doppelzüngigkeit für ihn zum ersten Mal ausgezahlt.
* * *
In einem fort
Er wolle nur fort von hier. Das waren die ersten Worte gewesen, die Heidrun je von ihm gehört hatte, doch dieser Satz reichte, um ihr Interesse zu wecken an diesem Fremden, der uneingeladen in ihr Haus gekommen war. Eine Freundin hatte diesen Typen auf Heidruns alljährliche Sommerparty mitgebracht.
Er stand in der Küche und spülte ein paar Gläser, als er sagte, er wolle nur fort von hier. Ob sie etwas für ihn tun könne, fragte Heidrun? Aber er schüttelte bloß den Kopf. Sein Entschluss, dieses Land zu verlassen, habe mit ihr nichts zu tun, meinte er und, nachdem er kurz zu ihr aufgeschaut hatte, murmelte er noch leise und beinah nur zu sich, ganz sicher nicht mit ihr, im Gegenteil.
Seine Eltern seien einst mit ihm, damals noch ein Kleinkind in diese Stadt gekommen, der Arbeit wegen, um nach drei Jahren wieder heimzukehren, doch dann hatten sie hier so gut verdient, dass die Rückfahrt immerzu verschoben werden sollte. Er wurde zu ihrer Ausrede. Sie könnten doch den Buben, so hatten sie gesagt, nicht aus dem Kindergarten herausreißen. Es sei besser, ihn die Schule abschließen zu lassen. Nun sei er immer noch da, um an der hiesigen Universität Jus zu studieren, obgleich seine Eltern längst wieder in ihrer Heimat lebten. Aber er habe den Wunsch, ihnen nachzufolgen, nie vergessen. Er war hier zuhause, doch eben nicht daheim und könne es – dafür sorgte schon allein sein Nachname – auch nie sein.
Die Anderen, auch jene Freundin, die ihn mitgenommen hatte, waren alle längst gegangen, als Heidrun noch mit Jo in ihrer Küche saß. Sie tranken ein Glas nach dem anderen und immer wieder erklärte sie ihm, wie gut er doch in dieses Land passe. Er gehöre genauso dazu wie sie, die hier geboren wurde.
Aber er schüttelte nur den Kopf. In den Augen der anderen sei er immer nur ein Außenseiter und eben die Tatsache, dass nicht einmal sie, die doch – wie ihm durchaus bekannt war – immerhin eine Assistentin am Institut für Kulturanthropologie war, dass also nicht einmal sie das begreife, beweise nur, wie fern sie einander waren, doch da hatte sie ihn bereits umklammert und meinte, so schnell lasse sie ihn nicht mehr weg.
Zusammen schmiedeten sie Pläne, wie sie ihr Leben verbringen wollten und Heidruns Augen leuchteten, wenn Jo ihr von seiner Geburtsstadt erzählte. Aber als sie ihn einundeinhalb Jahre später, als er sein Studium abgeschlossen hatte, fragte, ob er nun seine Träume erfüllen werde, zuckte er mit den Achseln und sagte, er habe ein einzigartiges Angebot; ein Praktikum bei einer renommierten Kanzlei.
Sie, die nicht von ihm hatte lassen können, solange er vorgehabt hatte, fortzugehen, wusste von einem Tag zum anderen nicht mehr, warum sie ihm je so leidenschaftlich verfallen war.
Jahre später trafen sie einander wieder bei einem Fest. Heidrun war mittlerweile zur Direktorin eines Museums in einer fernen Weltmetropole aufgestiegen. Sie sei angekommen, sagte sie, als er fragte, wie es ihr gehe. Er war Anwalt geworden, ein anerkannter Spezialist des inländischen Asylrechts. Ob er immer noch fortgehen wolle, fragte sie ihn, nicht ohne Spott. Nein, antwortete er, sein Ort sei bei jenen, die keine Heimat mehr suchen, sondern nur noch ein Zuhause.
* * *
Andere auch
Lara brauchte auch andere Männer. Sie spielten keine Rolle. Sie hatten keine Bedeutung. Sie waren Platzhalter wie die Null in der Mathematik, denn für sie zählte nur Paul, und je mehr Bettgeschichten sie hatte, um so größer wurde sein Wert für sie. Sie ging ihnen nach, wenn sie, die Kulturanthropologin, ihre langen Studienreisen unternahm, und verriet ihm, einem renommierten Architekten, nichts von ihren Eskapaden. Mehr noch. Sie hätte alles selbst dann abgestritten, wenn er mutig genug gewesen wäre, sie zu fragen.
Aber er ließ es bleiben, um sie nicht verlassen zu müssen. Er wusste, was er von ihr zu erwarten hatte und er ahnte immer, wenn sie ihn betrog. Er nahm diese Seitensprünge hin, um seine Liebe nicht aufzugeben, während sie die Kerle für eine Nacht nicht aufgab, um ihre Liebe leichter hinnehmen zu können. Im Grunde war er für sie der Einzige. Die anderen waren der Ausgleich für ihn; ein Freiraum, wenn es ihr mit ihm zu innig wurde. Sie fürchtete, ihm sonst allzu sehr zu verfallen. Ganz allein mit ihm zu bleiben, wäre wie ein zweisamer Trapezakt ohne Netz gewesen.
Er leide wie ein Hund, sagte Paul zu Rita. Er verstehe nicht, weshalb er Lara nicht genüge. Er vernachlässige sie nicht. Sie werfe ihm nie vor, irgend etwas falsch zu machen. Im Gegenteil. Sie sagte ihm, er sei ein guter Liebhaber, ein wahrer Freund, ein aufmerksamer Partner und der Mann ihrer Träume. Aber, so Paul zu Rita, wenn sie wach sei, sehne sie sich auch nach anderen.
Rita lachte ihn aus. Er wisse doch gar nicht, ob sein Verdacht stimme. Sie hätte nie vermutet, wie eifersüchtig er sein könne. Wo denn sein Selbstvertrauen geblieben sei? Er sei ein Tausendsassa auf seinem Gebiet. Wie könne er sich von einer Frau wie Lara verunsichern lassen?
Er merke es an ihrer Stimme, sagte Paul, mehr noch an ihrem Schweigen, wenn ihr Blick in der Ferne verklinge, aber ebenso an der Art, wie sie zuweilen – nur zu bestimmten Momenten – an ihrer Haarlocke kaue. Er liege nachts wach und denke an Lara.
Drei Wochen später – Lara war wieder auf einer ihrer Expeditionen – kam Rita zu ihm. Sie habe sich umgehört. Er sei im Recht. Lara treibe es mit anderen, wenn sie unterwegs oder er fort sei. Der Freundeskreis wisse nicht Bescheid, doch in manchen Lokalen sei Lara für ihre Ausschweifungen bereits bekannt. Rita umarmte ihn und er flüchtete zu ihr.
Als er Schluss machte, nannte Lara ihn einen Betrüger, worauf er entgegnete, sie habe am allerwenigsten ein Recht dazu, so einen Vorwurf zu erheben. Er wisse von ihren Abenteuern. Dutzende Geliebte. Eine namenlose Zahl.
Rita war ganz anders. Sie schlief mit keinem – und bald auch nicht mehr mit Paul. Sie belagerten einander, ohne sich je erobern zu lassen. Zwölf Monate später war nicht ganz klar, ob er sie oder sie ihn verlassen hatte.
Die Beziehung zu einer Neuen werde auch nicht lange dauern, tröstete Lara ihre neugewonnene Freundin Rita. Paul sei eben nicht treu, sagte Lara. Sie hätte ihn nie verraten. Sie wäre nie von ihm abgerückt, solange er der Einzige unter den namenlos Vielen gewesen war. Aber mittlerweile konnte Paul ihr gestohlen bleiben – und jene anderen Männer auch.
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