Lücken

Von Renate Silberer. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXIX

Online seit: 3. September 2021
Renate Silberer © detailsinn
Renate Silberer. Foto: © detailsinn

In der Kinderserie Pan Tau1 gibt es eine Folge, in der Menschen ihre Münder verlieren. Sie fallen einfach aus den Gesichtern, doch bevor sie auf dem Boden aufschlagen, öffnen sich die Lippen, und die Münder fliegen davon wie Schmetterlinge.

Schon denke ich an Kindheit und Wiese, Löwenzahn, die Farbe Gelb, an das Ungewisse in dieser Szene, das Bedrohliche, an die verregneten Nachmittage und an Palatschinken essen. Die hellblaue Emaille-Bratpfanne meiner Großmutter aus den 1960er Jahren, ihr Leben lang hat sie nur diese eine Pfanne verwendet, deren Innenseite sich mit jeder Mahlzeit mehr und mehr zerkratzte. Die Palatschinken sind immer ein klein wenig angebrannt, aber nirgendwo habe ich jemals bessere gegessen. Zum Reinigen hat sie Wasser mit Ata aufgekocht, eine Zeitlang dahinköcheln lassen und der Geruch nach Fettresten und Reinigungsmittel hat sich in ihrer Küche verbreitet: Ich wollte nie, dass sie lüftet.

Heute glaube ich nicht mehr, dass die Münder in der Serie tatsächlich zu Schmetterlingen wurden, aber damals ist es mir so erschienen, und die Idee, dass sowohl das Nichtgesagte, als auch das bereits Gesagte einfach davonfliegen könnten und dadurch an Bedeutung verlieren oder gewinnen, vielleicht später zurückkehren, sich verwandeln, mehrere Möglichkeiten in sich vereinen könnten, nicht nur das Eine oder das Andere sein, diese Idee hat begonnen, sich in mir auszubreiten.

Pan Tau war der Freund der Kinder, er konnte zaubern, sobald er seinen Melonenhut drehte, veränderte er seine Größe, passte etwa in die Jackentasche eines Kindes, das ihn gerade brauchte, und blieb bei ihm als Helfer mit freundlichem Blick. Sprechen konnte er nicht, als Pantomime hatte er andere Möglichkeiten, sich mit den Kindern zu verständigen.

Oma hat mich an der Hand genommen, wenn wir zum Bäcker gegangen sind, hat sie für sich ein kleines Hausbrot gekauft, für mich eine Marillengolatsche, die ich meistens schon in der Bäckerei aufgegessen habe, es waren die frühen 1980er Jahre. Die Kirchturmglocken haben zu jeder Viertelstunde geläutet, die Nachbarn sind am frühen Abend auf den Holzbänken vor ihren Häusern gesessen, die Männer haben Bier getrunken und sich über die Gartenzäune hinweg unterhalten. Ihre Frauen haben daneben sitzend gestrickt und wenig gesprochen. Oma ist ebenso auf der Holzbank vor dem Haus gesessen. Sie hat auch Bier getrunken und sich in die Männergespräche eingemischt. Als Witwe war sie in den Strukturen des Dorfes den Männern gleichberechtigt. Es wurde gelacht. Einmal hat sie eine Zigarette geraucht. Ich habe meine Finger oft in ihren Händen gewärmt und manchmal habe ich gedacht, vielleicht ist sie ja in Wirklichkeit ein Bär.

In ihrer Küche habe ich Pan Tau geschaut und war irritiert von den fehlenden Mündern, den Lücken in den Gesichtern, unheimlich haben die Menschen ausgesehen, ich erinnere mich noch an meine Aufregung, als ich Oma herbeigerufen habe, sie zu mir gekommen ist, ich mich an ihrer Schürze festgehalten habe, sie nicht weiter reagiert hat. Schau, die Münder fliegen, habe ich gerufen und ich weiß nicht mehr, ob es lachende Münder waren, schmale, breite oder rot bemalte, vielleicht waren sie in Aufruhr wie ein herumschwirrender Bienenschwarm. Werden sie zu den Menschen zurückkehren, habe ich Oma gefragt, wieder hat sie nichts gesagt. Und ich habe sie angesehen und mir vorgestellt, wie es wäre, wenn auch sie keinen Mund hätte und ich auch nicht und wir alle nicht und ob wir dann wie Gespenster wären, unvollständig, als könnte mit dem Fortfliegen des Mundes auch etwas Lebendiges aus uns verschwinden.

Das Leben im Dorf war nach klaren Vorgaben geordnet, jedes Mitglied hatte seinen Platz in der Gemeinschaft, der unverrückbar schien. Wollte jemand die ihm zugewiesene Position verändern, war mit Widerstand zu rechnen. Die Geburt bestimmte den Bildungsweg, für Freizeitunterhaltung war gesorgt: Bäuerinnen waren in der Goldhaubengruppe, Kinder waren erst in der katholischen Jungschar, später in der Landjugend, Burschen hatten die Möglichkeit der freiwilligen Feuerwehr beizutreten oder dem Fußballverein. Der Sportverein war offen für alle. Mädchen war es erlaubt zu ministrieren, aber nicht Fußball zu spielen. Unternehmerisch Tätige gründeten einen Tennisclub, dem Gewerbetreibende und Angestellte beitreten durften, deren Frauen und deren Kinder. Den anderen blieb der Zugang zum Tennis verwehrt und das, zumindest nach außen hin, unwidersprochen. Diese grundlegende Bereitschaft, sich in ein bestehendes Gefüge einzuordnen, wurde als gesunder Menschenverstand bezeichnet. Pan Tau, der zwar sprachlose, aber verständigungsbereite Held einer wie aus der Zeit gefallenen Märchenerzählung, schien sich nicht von diesem gesunden Menschenverstand vereinnahmen zu lassen. Er folgte seiner Neugier und das wollte ich auch.

Die Faszination der verwandelten Münder, die Verknüpfungen, die sie in mir wachgerufen hatten, plötzlich konnte ich mir vorzustellen, dass all die Zitronenfalter, Tagpfauenaugen und Großen Ochsenaugen, die ich schon allein ihrer Namen wegen bewunderte, im Garten so gern beobachtete und mit denen ich, sobald einer von ihnen zu sehen war, ein Stück die Wiese entlang lief, immer hinterher, als würden wir Fangen spielen, dass diese Schmetterlinge vielleicht einmal Münder gewesen waren oder es eines Zaubers wegen gar noch immer waren und sie jederzeit zu sprechen beginnen konnten, wenn, hier wusste ich nicht weiter, aber den Einfall wollte ich keinesfalls aufgeben, und ich begann darüber nachzudenken, worüber Schmetterlinge als Münder sprechen könnten und was mein Mund als Schmetterling sagen würde.

Vielleicht habe ich damals angefangen, das Schweigen zu bemerken. All die nicht gesagten Worte, die wie Lücken zwischen den Menschen zu klaffen schienen, auch zwischen Oma und mir. Sie hatte die wärmende Hand eines Bären, aber da war auch ihr Für-sich-Behaltenes, das Verschlossene, die Worte, die sie nicht hervorbrachte, die dennoch in ihr waren und die, wie ich später hoffte, darauf warteten, endlich gesagt werden zu können. Für sie hätte es einen Mund gebraucht oder gar einen Schmetterling, der bereit gewesen wäre, sich aufzufächern, um dieses Wagnis einzugehen.

Pan Tau hat seine Sprache gefunden. Die herumschwirrenden Münder sind zu ihm geflogen, er hat ihre Eindrücke aufgenommen und begonnen auszusprechen. Seinen Melonenhut und damit seine Zauberkraft hat er dafür aufgegeben, aber das störte ihn nicht. Er wollte lieber das Sprechen behalten. Mit einem Mund in Bewegung, bereit zur Begegnung.

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1 Pan Tau ist Hauptprotagonist der gleichnamigen Kinderserie, die von 1966 bis 1978 als deutsch-tschechoslowakische Koproduktion des WDR, der Prager Filmustudios Barrandov und des tschechoslowakischen Fernsehens entstand. Im Dezember 1970 wurde sie das erste Mal im deutschen Fernsehen ausgestrahlt.

Renate Silberer, geb. 1975, lebt in Linz. 2017 erschien der Erzählband Das Wetter hat viele Haare bei Kremayr und Scheriau. Für Ihre Gedichte und Prosaarbeiten wurde sie mit diversen Stipendien ausgezeichnet. 2010 war sie für den Lyrikpreis München nominiert. 2013 erhielt sie den Rauriser Förderungspreis. Die Arbeit an ihrem Debütoman Hotel Weitblick, der im März 2021 bei Kremayr und Scheriau erschien, wurde mit einem Jubiläumsfondsstipendium der Literar-Mechana und einem Projektstipendium des Bundeskanzleramtes gefördert.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.