Hier und heute befinde ich mich in einer Hafenstadt am Atlantik. Nach achtzehn Uhr darf ich nicht mehr aus dem Haus gehen; ich schaue aus meinem Fenster im zehnten Stockwerk eines Le Building genannten Hochhauses in die Nacht hinaus, auf die leeren Straßen, die Flussmündung, den Himmel. Hinter dem Hafenbecken liegt ein Viertel, das offenbar früher von Marokkanern bewohnt war und immer noch Petit Maroc heißt; eine immerzu beleuchtete Straße führt dort geradeaus von der Zugbrücke bis zur Mole. Es ist eine kurze Straße, das Viertel ist winzig, nicht viel mehr als zwei, drei Häuserblöcke. Niemand ist unterwegs, aber ein paar Mal überquert jeden Abend ein weißes Auto die Brücke und fährt die Straßen ab. Immer das selbe Auto, auf immer derselben Strecke. Zur Mole, zu den Werften, zurück zur Brücke. Zwischen der Mole und der Werft, nahe einem Denkmal im Wasser, das an die Sklavenbefreiung erinnern soll, ist eine Dachkonstruktion aufgespannt, ich weiß nicht, zu welchem Zweck. Unter diesem Dach ist ein Scheinwerfer angebracht, der immerzu in Bewegung ist und einen winzigen Bereich des Bodens ausleuchtet. Geht man (tagsüber) unter diesem Dach hindurch, bemüht man sich, diesem Scheinwerfer auszuweichen. Aus einem verborgenen Lautsprecher dringt leise Musik, sanfter Jazz; womöglich auch nachts, aber nur unter diesem Dach zu hören. Die Musik ist sanft und doch beunruhigend: soll sie einen unter der Dachkonstruktion festhalten oder soll sie einen vertreiben? Sobald das weiße Auto seine Runde beendet hat, ist die Straße wieder leer, minutenlang, stundenlang. Ein graues Betonband unter einem schwarzen Himmel. Im Wasser blinken die grünen und roten Lichter der Bojen auf.
Einmal sitzt (morgens) ein Kormoran auf dem Denkmal, das an die Sklavenbefreiung erinnern soll, eine schwarze, bewegliche, lebendige Form, die sich als eine Fortsetzung dieses Denkmals vor dem Himmel abzeichnet. Während der Zeiten des sogenannten Dreieckshandels segelten durch den meerbreiten Strom vor meinem Fenster die Schiffe mit den in Übersee in Baumwolle, Zucker, Tabak und Kaffee verwandelten Sklaven, die sich flussaufwärts in Nantes wiederum in Geld und in von prächtigen Palais gesäumte Kais verwandeln würden. Magie des Kapitalismus. Die Flussarme, an denen diese Kais lagen, wurden später zugeschüttet und sind zu seltsamen leeren Betonschneisen geworden, über die fast lautlose Expressstraßenbahnen surren.
Ich schaue aus dem Fenster auf Himmel, Fluss und Meer und den Streifen Land gegenüber, reine Form und Farbe, die aufeinander antworten, fast nur Oberfläche, fast abstrakt (aber dem Anschein ist nicht zu trauen.)
Ein paar Schritte weit vom Building entfernt liegt der Strand, der jeden Tag ein anderes Gesicht zeigt: je nach Wind, je nach Stadium von Ebbe und Flut, je nach Tageszeit und Licht und der Form der Wolken, ich möchte diesen Anblick, diesen Wandel in mich einsaugen. Tausende von Muschelschalen unter meinen Schuhen sind dabei, zu Sand zu werden; tausende wunderbare und einzigartige Formen aus Kalk, Lebewesen mit ihrem winzigen Bewusstsein, die das Meer verstoßen hat (einen Weg in solch ein Bewusstsein finden). Ab und zu liegt eine ertrunkene Bisamratte im Sand, ein beinah bibergroßes Tierchen mit nass-verklumptem Fell, leicht geöffnetem Maul, leicht gebogenen Schneidezähnen, mit solcher Ruhe; ein paar Plastikflaschen, Bierdosen, Benzinkanister verrotten im Schlamm zwischen Algen und Ästen und schwarznassen Holztrümmern wie von zahllosen Schiffsuntergängen. Die Gischt ist an manchen Stellen giftig-gelb. Kommt mir ein Mensch entgegen, schiebe ich schnell meine Maske hoch, wie als Gruß. Die älteren Männer, die hier am Strand spazieren gehen, sind streng und freundlich und tragen eine Brille mit dünnem Metallrand. Mir kommt vor, sie sind alle derselbe ältere Mann.
Eigentliches Zentrum der Stadt ist (ein paar Schritte weit vom Building in die andere Richtung) ein deutscher U-Boot-Bunker aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, brutal und unzerstörbar wie die Flaktürme in Wien, aber auch dieser Bunker, der alle Bombenangriffe überstand, hat sich verwandelt. Nicht nur das violette Licht, das aus den (zu anderen Zeiten für Veranstaltungen und Konzerte genutzten) Durchlässen und Innenräumen schimmert und das sanft glitzernde und giftig schäumende Wasser des Hafenbeckens, das in und an ihm sichtbar wird, verwandelt ihn. Über eine Rampe, die beim Carrefour-Markt ihren Ausgang nimmt, kann man auf das Dach des Bunkers steigen. Zunächst ist dort nur Beton zu sehen, eine Stacheldrahtabsperrung, Gänge zwischen da und dort rissig gewordenen Stahlbetonwällen. Und ein paar Hinweisschilder, die ins Leere zu weisen scheinen; zumal an den Wällen nur noch hellere Flächen an Fototafeln erinnern, die dort einmal ausgestellt waren. Dann beginnt man doch Kleinigkeiten zu entdecken. Eine Dritte Landschaft: so nennt der Gartenarchitekt Gilles Clément jene Räume einer Natur, die sich in den von Menschen gezeichneten, zerstörten, verlassenen Regionen oder Gebäuden ansiedelt, Industrieruinen, Straßenränder, verlassene Städte und Fabriken, Militärgelände.
Hier ist es das Zentrum.
Das Dritte, das entsteht und dem sein Lauf gelassen wird, ist ein Zwischenzustand; etwas zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, zwischen Menschenwelt und Wildnis.
In den Sprengkammern am Bunkerdach pflanzte Clément den Bois du tremble, einen aus dem Verborgenen, einem Gerippe aus Stahlbetonträgern hervorwachsenden zitternden Wald – das suggestive Zittern spielt sich im Wort, in der Bezeichnung ab, es ist ein Wald aus Zitterpappeln. Hinter Gittern, im von Lichtschneisen durchzogenen Halbdunkel, wachsen die noch ziemlich niederen Bäume in großen, teils mit Plastik ausgelegten Trögen und strecken ihr winterkahles Geäst aus den Kammern hervor in den Himmel. Nichts Üppiges und Wucherndes ist an diesem Wald, nur vorsichtige Lebendigkeit an einem gegen das Leben gerichteten Ort.
Am anderen Ende des Bunkerdaches liegt der Wolfsmilchgarten, französisch Jardin des Euphorbes, was nach Epheben und dem Ephemeren klingt und nach einer grundlosen, leisen, von außen kaum wahrnehmbaren Euphorie. Man geht über das Gitter von Betonwällen oder steigt hinab in die schmalen in rechte Winkel gezwängten Täler: Ein bisschen Geröll und moosig zartes Grün, eine dünne Schicht Leben auf dem Beton, im Februarfrühling sogar ein paar Blüten, daneben eine verwischte Zeichnung, eine Landkarte ohne Ortsnamen, nur dass es einen Fluss gibt, ist erkennbar. Man mag diese Zeichnung nicht für Kunst halten. Es könnten auch Spuren der Verwitterung, des Verfalls sein. Daran sich orientieren, an einer Landkarte, von der man nicht weiß, ob sie eine Landkarte ist, einem Kunstwerk, von dem man nicht weiß, ob es ein Kunstwerk ist, an Spuren der Verwitterung.
Dieses Monster des U-Boot-Bunkers, das wie ein Magnet die Bomben anzog und vor ihnen verschont blieb, während die Stadt in seinem Rücken in Trümmer fiel, ist nun von einer scheuen Vegetation besiedelt und als Ganzes in den dritten Zustand versetzt, etwas wie ein Kunstwerk geworden, aber kein Kunstwerk, sondern eigentlich ein Lebensraum, es ist bedeutungslos und frei, für uns Spaziergänger da, ohne sich für uns zu interessieren.
Wichtig ist, dass zusammenkommt, was nicht zusammengehört. Damit Leben entsteht (oder etwas anderes).
Ich schaue aus dem Fenster, von hier aus gesehen ist der Euphorbengarten nicht erkennbar, die Zitterpappeln, braunes Geäst vor den Fabriksdämpfen, sind nichts Besonderes.
Manchmal habe ich (besonders hier, besonders abends, wenn ich nicht mehr aus dem Haus darf) den Eindruck, die Musik, die ich auf dem Computer hören kann, ist keine Musik mehr, die Filme, die ich auf dem Computer sehen kann, sind ohne Leben, ohne Form, drei Minuten schon zu lang. Ich habe den Eindruck, die Texte, die ich auf dem Computer lese, sind ohne Sinn und kein Gedankengang nachverfolgbar, was ich selbst schreibe, ist genauso beliebig, hier und heute, ohne Musik, ohne Leben, ohne Form, ohne Sinn. Ich schalte den Computer aus und stelle mir die Tiere vor, die den Strand, diesen zivilisierten, nur leicht verrotteten Stadtstrand jetzt für sich haben. Die Strandläufer, die Möwen, die Bisamratten. Ich stelle mir das langsame Wachsen, die minimale Bewegung der Vegetation auf dem Dach des Bunkers vor. Ich schalte den Computer wieder ein und schreibe (hier und heute) diese Sätze auf.
Ich schreibe eine Wolke auf (möchte das zumindest), an einem anderen Abend: diese große, flache langgezogene zartlila Wolke, die kurz nach Sonnenuntergang im Osten zwei Handbreit über dem Horizont am Himmel steht und von der meerbreiten Loire eher zitiert als gespiegelt wird. Als sie längst verschwunden ist, wird das Zartlila beiläufig von einer kleineren gebauschten Wolke tiefer am Horizont wieder aufgenommen und ins Dunkel gesetzt. Ein Sonnenuntergang ist erzählbar und Teil der Geschichte.
So tritt diese zufällige Sonnenuntergangslandschaft in Beziehung zu mir, dem zufälligen Beobachter, zu diesem Februartag im Pandemiejahr, und enthält mehr Wirklichkeit als die Zeitungsseiten, die ich sieben, acht, zwölf Mal am Tag durchblättere, weil es immerzu etwas Neues geben könnte. Dieses Neue zerrinnt mir unter den Fingern, während die große flache zartlila Wolke und ihr zitiertes Spiegelbild zu meinem Leben gehören, nicht als Festgehaltenes, sondern Teil eines Raumes, Erweiterung eines Raumes. Nicht Natur, sondern Dritte Landschaft.
Ich hätte wahrscheinlich nicht nach Worten für diesen Sonnenuntergang gesucht, hätte ich nicht kurz davor Claude Lévi-Strauss´ berühmte Sonnenuntergangserzählung in Traurige Tropen gelesen: „die Erinnerung an das Leben ist selbst ein Leben anderer Art“ heißt es dort, und die Lust, einen Sonnenuntergang anzuschauen, wäre eine Lust der Erinnerung, der phantasmagorischen Wiederholung der „Dämpfe und Zuckungen“ des zu Ende gehenden Tages. „Auch die Spiele des Bewusstseins lassen sich an diesen flockigen Zeichen ablesen.“ Vielleicht gerade deshalb, weil eine Rückübersetzung niemals möglich ist, ich weiß nicht, wofür es steht, dass die Sonne über dem Atlantik an einem Februartag im Jahr 1934 „aufzuplatzen“ schien „wie ein Eigelb und alle Formen, an denen sie noch festhing, mit Licht zu verschmieren“. Ich weiß nicht, wofür das „scharfe und dunkle Hervortreten“ eines „Kettengebirges aus Dämpfen“ steht. Ich weiß nicht, wofür die flache langgezogene zartlila Wolke an einem Februartag im Jahr 2021 steht und wofür ihr zartes Zitat im Fluss. Am Ufer, gleich neben dem Denkmal, das an die Abschaffung der Sklaverei erinnert, sind an einem Pfeiler zwei Plakate angebracht, auf dem einen ein rotgerahmtes Foto von Nikos Aslamazidis (1972 – 2008), Opfer der modernen Sklaverei, auf dem anderen wird knapp erzählt, dass Aslamazidis, ein griechischer Leiharbeiter in den Werften dieses Hafens, angestellt bei irgendeinem Sub- oder Subsubunternehmen, nach neunzehn Tagen Hungerstreik gestorben ist. Es muss zusammenkommen, was nicht zusammengehört.
Ich schaue aus dem Fenster, ein weißes Auto zieht seine Runden, ich stelle mir vor, es wäre kein Fahrer im Wagen, es würde ganz von selbst durch die Nacht fahren.
Da wir als zivilisierte Menschheit, wir harmlosen und genusssüchtigen Sklavenhalter, am Zenit des Reichtums dabei sind, unsere Sicherheiten zu verlieren, und geneigt, die Welt zu verlassen: vielleicht gelingt es, in einer dritten Landschaft, in einem dritten Zustand, einer menschenleeren Welt alles wiederzufinden, alles wiederzuerfinden, aber anders. Ephemer, ephebisch, wie die Pflanzendecke auf dem Bunker, der zitternde Bewuchs eines kaum bewohnbaren Planeten.
Oder, gerade nicht in einer menschenleeren Welt.
Lévi-Strauss beschreibt ein indigenes Volk am Rand des Verschwindens, die Nambikwara. In den dreißiger Jahren war der Großteil dieses Volks schon ausgelöscht, die meisten durch die Grippe oder andere Epidemien gestorben. Bei einem der versprengten Grüppchen, die im Regenwald noch unterwegs waren, verbrachte er einige Wochen; er schreibt mit eigentümlicher Zärtlichkeit über die eigentümliche Zärtlichkeit, mit der sie die Welt bewohnen. Diese Menschen haben fast nichts: keinerlei Kleidung, keine Hängematten, keine Decken, sie schlafen nackt auf der nackten Erde. Und sie spielen und umarmen einander, sie spielen mit ihren Eheleuten, ihren Geliebten, ihren Kindern, ihren Haustieren, umschmiegen und umarmen ihre Eheleute, ihre Geliebten, ihre Kinder, ihre Haustiere, drängen sich „nackt und zitternd um flackernde Feuer“, manchmal werden sie „von einer tiefen Melancholie befallen.“ Ihre Nacktheit hat nichts mit einem reinen Naturzustand zu tun, nichts mit Freiheit oder Erotik, aber auch nichts mit Demütigung und Erniedrigung. „Von ihnen allen geht eine große Freundlichkeit aus“. Sie jagen, natürlich, Tiere, die ihren Haustieren gleichen, manchmal töten sie Menschen, die ihnen gleichen, Weiße, die ihnen zu nahe kommen.
Lévi-Strauss sieht sich an einem Endpunkt der Wissenschaft und nicht nur der Wissenschaft: Auf der Suche nach einer „auf ihren einfachsten Ausdruck reduzierten Gesellschaft […] bis ans Ende der Welt gegangen“, entzieht sich ihm, so schreibt er, bei den Nambikwara „jede soziologische Erfahrung“: er findet nur Menschen.
Vielleicht kann an solch einem Endpunkt die Literatur (oder noch etwas ganz anderes?) beginnen? Bei den zitternden Bäumen und Menschen, den Gräsern auf Beton? Oder den zertretenen Muscheln, den toten Bisamratten, den im Kreis fahrenden Autos auf den nächtlichen Straßen und der Spiegelung auf dem Wasser? Mit einer leisen, kaum wahrnehmbaren Euphorie? Ich schaue aus dem Fenster.
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