Nachdem Felix Philipp Ingold vor zwei Jahren (in VOLLTEXT 3/2014) die literaturkritische Urteilsbildung und Urteilsbegründung der Klagenfurter Jury im Detail gewürdigt hat, unternimmt er nun den weiter ausgreifenden Versuch, den Status der deutschsprachigen Buchkritik mit Blick auf ihre Methoden, ihre Begrifflichkeit, ihre Präferenzen und Abneigungen vor Augen zu führen. Seine Darstellung lässt erkennen, wie eng inzwischen die wechselseitige Vernetzung von Rezensenten, Werbetextern, Lektoren, Juroren und – auch – Autoren geworden ist.
I
Unter den vielfältigen internationalen Angeboten des Kulturmagazins perlentaucher.de, das monatlich eine Million bis anderthalb Millionen Mal angeklickt wird, stößt die Presseübersicht „Bücherschau des Tages“ auf besondere Aufmerksamkeit. Die Rubrik bietet indirekte Einsicht in die jeweils aktuelle deutschsprachige Buchkritik aus den Bereichen Belletristik und Geisteswissenschaften, aber auch, in geringerem Umfang, aus Politik und Ökonomie. Die in ihrer Art singuläre Darbietungsform setzt sich zusammen aus einem redaktionellen Teaser zum täglichen Rezensionsgeschehen, aus dem Abdruck der Klappen- oder Vorschautexte zu den besprochenen Werken sowie aus knappen Zusammenfassungen der diesbezüglichen Rezensionen aus acht überregionalen Tages- und Wochenzeitungen. Zu einzelnen Neuerscheinungen wird von Verlagsseite zusätzlich eine Leseprobe angeboten.
Sechsmal wöchentlich legt perlentaucher.de mithin ein buchkritisches Multipack vor, das die rasche und summarische Kenntnisnahme der fortlaufenden Verlagsproduktion unter diversen Gesichtspunkten ermöglicht. Der redaktionelle Vorspruch liefert dazu gleichsam den Kammerton. Hier werden vorab die Zeitungen genannt, die mit besonders lesenswerten Besprechungen zur „Bücherschau des Tages“ beitragen: Die Zeit „jubelt“, die taz „ist begeistert“, die FAZ „ist beeindruckt“, die SZ „lässt sich verzaubern“, die FR „amüsiert sich“ usf. – so als bestünde die Buchkritik aus lauter Belobigungen, wäre permanent enthusiasmiert und würde kollektiv von den Redaktionen abgefasst. Die kritische Tätigkeit der Rezensenten wird solcherart gleich schon mal auf die Schwundstufe bloßer Akklamation herabgedimmt.
Die ebenfalls vorangestellten Werbetexte geben durch marktkonforme Präsentation des Autors und seiner Neuerscheinung eine willkürlich von Verlagsseite bewerkstelligte Lektüreperspektive vor, und sie liefern damit auch, für Rezensenten wie für Buchhändlerinnen und Leser, einen ersten Zugang zum jeweils vorliegenden Werk. Der Autor als Person bekommt dabei deutlich mehr Beachtung als sein Werk. Was in erster Linie zählt, sind die „zahlreichen“ Preise, Stipendien, Ehrengaben oder Stadtschreiberposten, die er vorzuweisen hat. Gern werden auch die „zahlreichen“ Reisen angeführt, die ihm angeblich den Stoff für seine Schreibarbeit liefern. Dass der Autor längst nicht mehr – wie noch zur Zeit des Nouveau Roman und der Konkreten Poesie – hinter das Werk zurücktritt, es vielmehr hinter sich selbst als Person und als Image zurücktreten lässt, ist aus der Verlagswerbung weithin bekannt. Das künstlich geschönte Autorenportrait (inzwischen eine eigenständige Sparte der Photographie) hat stärkeren Appellcharakter als der Werktitel und der Buchumschlag: Gekauft wird der „neue Houellebecq“, der „neue McEwan“, die „neue Zeh“, der „neue Kracht“ − der jeweilige Text kommt (gewissermaßen) hinterher und bleibt (bekanntermaßen) oftmals ungelesen, und dies gerade auch dann, wenn es sich um einen Bestseller handelt.
In den nachfolgenden Abstracts werden die Besprechungen des Tages stark verkürzt – auf rund einem Dutzend Zeilen – in zumeist neutraler Diktion wiedergegeben. In jedem Fall wird dabei der Verfasser der Rezension namentlich genannt und dessen Schlussfolgerung – das kritische „Urteil“ – herausgestellt. Die Zusammenfassungen beschränken sich in aller Regel auf die Nennung von subjektiven Beobachtungen, Behauptungen und Bewertungen der Buchkritiker, derweil argumentative Annäherungen an die besprochenen Texte unberücksichtigt bleiben.
Inwieweit die Abstracts den Vorlagen gerecht werden, mag von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Insgesamt sind sie neutral gehalten. Argumente, Behauptungen, Meinungsäußerungen der Rezensenten werden in aller Regel ebenso objektiv rapportiert wie deren positive oder negative Schlussfolgerungen – in jedem Fall erfährt man, ob sich der Kritiker, die Kritikerin über das besprochene Buch „gefreut“, „geärgert“, „beklagt“ hat, ob es bei ihm „Jubel“, „Entzücken“, „Betroffenheit“ oder nur einfach „Gähnen“ ausgelöst hat – als ginge es beim Rezensieren um momentane Impressionen und private Befindlichkeiten. Doch dem Interesse derer, die auf die „Bücherschau des Tages“ zugreifen, scheint dies durchaus zu genügen – nur einfach zu wissen, ob der rezensentische Daumen nach oben oder nach unten zeigt.
Die gekürzten Besprechungen mögen als generelle Orientierungshilfe von Nutzen sein, können aber weder den besprochenen Werken noch deren Rezensenten gerecht werden. Wenn sie dennoch von hohem Interesse sind, so deshalb, weil sie wie im Vergrößerungs- beziehungsweise im Vergröberungsglas die dominanten literarischen Ansprüche erkennen lassen, die sowohl bei der Verlagswerbung wie auch im Besprechungswesen geltend gemacht werden. Dass Werbung und Kritik in dieser Hinsicht fast durchweg übereinstimmen, ist eine triviale, gleichwohl aufschlussreiche Feststellung, die sich bei perlentaucher.de angesichts der Parallelisierung von Klappentexten und Rezensionsabstracts in ständigem Vergleich erhärten lässt, nicht zuletzt dahingehend, dass Besprechungen in manchen Fällen merklich von den Vorgaben der Werbung geprägt sind und es dabei bewenden lassen, deren Prioritäten – wie auch deren Diktion – zu übernehmen.
II
Bei den resümierten Buchkritiken handelt es sich mehrheitlich (selbst bei Lyrik) um Inhaltsangaben, die in ständigem Vergleich mit der jeweils dargestellten „Wirklichkeit“ präsentiert und kommentiert werden. Die dargestellte Wirklichkeit wird dabei oftmals so besprochen, als wäre sie mit der außerliterarischen Welt identisch und unterstehe deren Gesetzmäßigkeiten. Demzufolge operieren die Rezensenten denn auch primär mit psychologischen, ethischen oder politischen Kriterien, wo es darum geht, einen Plot und dessen Protagonisten zu begutachten. Formale Qualitäten der vorliegenden Texte (Komposition, Stil) bleiben indes fast durchweg unberücksichtigt und werden bestenfalls pauschal als „gekonnt“, „brillant“, „meisterlich“ charakterisiert. „Das ist rasante Spannung auf höchstem Niveau“ so lautet dann etwa ein diesbezüglicher Dutzendsatz: „− reich an unerwarteten Wendungen und erzählt in einem Ton, der einen sofort in diese archaische Bergwelt versetzt, einfach großartig!“ Dass sich „Spannung“ in einem „Ton“ erzählen lässt, der die Leserin oder auch den Leser unmittelbar in eine ferne, aber reale Welt versetzen kann, ist reiner Nonsense, darf heute jedoch durchaus von einem namhaften Kritiker im Qualitätsfeuilleton kolportiert werden – abgesehen davon, dass der Satz ebenso gut der Verlagswerbung entstammen könnte.
Das gilt ebenso für die nachfolgenden Formulierungen, mit denen ein führendes Literaturhaus zu einer Lesereihe einlädt wirbt: „Die Autorin nimmt uns mit nach Transsylvanien, Berlin, Peking und Nagoya“, und souverän „verwandelt“ sie dabei „Leben in Literatur und Literatur in Leben“; eine andere Autorin „erzählt mit großer Klarheit die von ihrer eigenen Biografie inspirierte Geschichte“; und „ihre wunderbar erzählten persönlichen Erlebnisse“ machen deutlich, „wie politisch das Private noch immer ist“. Das Politische und das Private erbringen offenbar eine thematische Mischung, die von der Kritik besonders geschätzt wird. In solchem Verständnis heißt es in einer neulich erschienenen, durchweg positiven Romanbesprechung: „Der Lesende taucht in den vermeintlichen Beginn einer Liebesgeschichte ein: Er verbringt mit dem Paar eine Nacht, hört die leisen Wellen der Ostsee, lauscht albanischen Geschichten – hier liegt ein Roman vor, der uns vor allen alten und neuen totalitären Strömungen warnt und deshalb auch und gerade heute hochaktuell ist.“ Demzufolge geht in heutiger Belletristik die Wirklichkeit, geht das Leben, geht das wirklich Erlebte, geht auch Zeitgeschichtliches grundsätzlich vor, und die Literatur, die Kunst kommt ebenso grundsätzlich (falls denn überhaupt) hinterher. Nur wer über die Wirklichkeit, über „unsere Welt“, „unsere Ängste“, „unsere Hoffnungen“ – auch die verlorenen – aus eigener Erfahrung „etwas zu sagen hat“; wer die Leser ins Romangeschehen „eintauchen“, ihn am „Leben“ der Protagonisten teilhaben und auch noch eine vorzugsweise „politische“ Lektion daraus ziehen lässt, kann im Literaturbetrieb mit Zuspruch rechnen.
Lebensnähe wird somit zum Kriterium, wenn nicht zur Priorität „schöner“ Literatur. Als deren Hauptaufgabe gilt auch bei perlentaucher.de die „Kartografierung der Wirklichkeit“. Das pralle (egal, ob prekäre oder mondäne), jedenfalls das „wahre“ Leben wird gemeinhin als Folie heutiger Literaturproduktion vorausgesetzt. Nicht zuletzt die Juroren des Klagenfurter Wettlesens zum Ingeborg-Bachmann-Preis bekräftigen – und honorieren – diese Auffassung, indem sie fremdsprachige Autoren für Texte auszeichnen, die zuvor lektoriert und in ein gängiges Deutsch gebracht worden sind, neuerdings gar solche, die bewusst fehlerhaft belassen wurden, um als zweifelsfrei authentisch gelten zu können. Sprachliche Unbedarftheit und stilistisches Unvermögen sind mithin kein Hinderungsgrund mehr für die erfolgreiche Teilnahme an den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“, immer vorausgesetzt, dass die entsprechenden Texte „einfühlsam“ und „eindringlich“ das wahre Leben „einfangen“ – eine zusätzliche Bestätigung dafür, dass die Kritik (nicht anders als viele Autoren und auch die Mehrheit des Lesepublikums) am dargestellten Leben offenkundig weit mehr interessiert ist als daran, ob und wie solche Wirklichkeitserfassung literarisch bewerkstelligt wird. Jede Widerspiegelung der Wirklichkeit, gerade die literarische, ist ein mehr oder minder raffiniertes Täuschungsgeschäft, wird aber in den meisten Fällen für bare Münze genommen, namentlich dann, wenn die Erzählerin, der Erzähler (oder auch der Lyriker) in der ersten Person Einzahl auftritt und die Ich-Perspektive die Sicht auf den dargebotenen Stoff bestimmt.
Die Hochschätzung – und Überschätzung – realistisch beziehungsweise dokumentarisch fundierter Belletristik findet ihre Entsprechung im weit verbreiteten Faszinosum medial aufbereiteter Wirklichkeit, wie sie in Reality-, Quiz- oder Talkshows unterschiedlichster Art und Thematik vorgeführt wird. Da treten vor Millionenpublikum „Menschen wie du und ich“ auf, um aus ihrem „wahren“ Leben zu erzählen, ihren „wahren“ Charakter zu enthüllen, ihre „wahren“ Talente oder auch bloß ihr „wahres“ Potenzial zu zeigen. Dass das solcherart vermittelte „wahre“ Leben – zu deutsch: Real life – weithin Interesse findet, erhöht naturgemäß den Druck auf Künstler und Literaten, es vermehrt in ihre fiktionalen Werke einzubeziehen. Gleichzeitig wird die äußere Welt zunehmend durch Simulationen überzogen und die Wahrheit durch bewusst verbreitete „postfaktische“ Lügen verdrängt. Dazu gehört als Epiphänomen die Hochkonjunktur von Fälschungen, Täuschungen, Plagiaten und Doping. Das allgemeine Bedürfnis nach literarischer Realistik dürfte auch von daher zu erklären sein – es ist ein ambivalentes Bedürfnis insofern, als eben auch „realistische“ Wirklichkeitsdarstellung in Werken der Kunstliteratur ohne fiktionale Anteile nicht auskommt.
Doch man verkennt noch immer, dass alle Kunst, wie „realistisch“ sie sein mag, der Täuschung stets viel näher ist als der Wahrhaftigkeit, ja, dass selbst Tagebücher oder Briefe ohne Fiktionalisierung nicht auskommen. „Se non è vero, è ben trovato“ – das alte Diktum, wonach die Fiktion (als „gute Findung“) der sogenannten Wahrheit vorgeordnet oder gar übergeordnet sein kann, bleibt bei der zeitgenössischen Buchkritik allzu oft unberücksichtigt. Auch vielfach preisgekrönte, offenkundig romantisierende oder historisierende Romane wie die eines Bodo Kirchhoff, einer Nora Bossong, eines Martin Mosebach, einer Juli Zeh (und beliebig vieler anderer Autoren) sind nicht davor gefeit, als Zeit- beziehungsweise als Geschichtsdokumente gelesen und „verstanden“ zu werden – falls sie denn nicht überhaupt als solche konzipiert und erst bei der Ausarbeitung literarisch bemäntelt worden sind.
Dass die weithin belobigte, häufig auch geforderte Realitätsnähe oder Authentizität in erster Instanz als Kunst und nicht bloß als literarisch dargebotene Wirklichkeit muss bestehen können, scheint schon lange nicht mehr selbstverständlich zu sein. Die bei Kritik und Publikum gleichermaßen gefragte Widerspiegelung realer Lebens- und Geschichtszusammenhänge geht einher mit einem ausgeprägten Interesse an „bildhafter“ Darstellung, sodass oftmals der Eindruck entsteht, Literatur werde eher als Bild- denn als Sprachwerk begriffen: „Bildstarke“, „bilderreiche“, „bunte“, „malerische“, am besten gleich schon „filmreife“ (d.h. problemlos verfilmbare) Texte werden von der Kritik besonders geschätzt und von vielen Autoren auch gern geliefert nach der gängigen Devise: „Show, don’t tell.“ – Von einer Romanfigur heißt es in einer Besprechung, sie sei so „lebhaft und interessant, dass man als Leser kaum die Augen von ihr nehmen“ wolle – als hätte der Leser nicht einen Text, sondern eine reale Person vor sich, nicht ein Buch, sondern eine Kinoleinwand oder schlicht die Alltagswelt.
III
„Erschütternde“, „turbulente“ oder einfach nur „spannende Romane nach wahren Begebenheiten“ beherrschen gegenwärtig die Besten- wie auch die Bestsellerlisten. Als eine „Passionsgeschichte, die ans Lebendige geht“ wird in der NZZ der ingeniös gebaute Roman Mary (2016) von Aris Fioretos referiert, und mehr noch – als eine Geschichte, „die unter die Haut geht“ und die „gleichzeitig eine Verneigung vor dem Leben“ ist: Bis unter die Haut ans Lebendige gehen, sich vor dem Leben verneigen – das soll der Imperativ heutiger Erzählkunst sein? In solchem Verständnis belobigt jedenfalls auch Feridun Zaimoglu das Buch einer Schriftstellerkollegin mit den Worten: „Eines der wahrhaftigsten Bücher. Ein Wahnsinn von einem Roman.“ Wahnsinn und Wahrhaftigkeit fallen hier unversehens in eins. Ausrufezeichen erübrigen sich.
Belege für dieses eindimensionale Realismuskonzept wie auch für das ungebrochene Bedürfnis nach dem belletristischen Human touch liefert die aktuelle Buchkritik in beliebiger Anzahl und mit zunehmender Insistenz. Durch die verkürzende und in der Verkürzung zuspitzende Darbietung von perlentaucher.de tritt dies umso deutlicher hervor. Dazu ein paar Beispiele aus Rezensionsnotizen vom Herbst 2016, die allesamt von namhaften Kritikern zu verantworten sind und im überregionalen Feuilleton Platz gefunden haben: „Im Grunde gibt er [der Kritiker] sich dem Flirrend-Flimmernden dieser Prosa hin, die den Irrwitz der Gegenwart in ausgesprochen rhythmischer Prosa einfange.“ (Erzählen als „Einfangen“ der Wirklichkeit.) – „Für die Rezensentin aber ist vor allem der aktuelle Bezug dieser Fluchtgeschichte aus dem ‚Wartesaal Europa‘ interessant.“ (Literatur als Gegenwartsbewältigung.) – Der Autor „taucht laut Rezensent tief ein in die Kloake jüngerer deutscher Geschichte, lässt Naziopas, korrupte Verfassungsschützer und eine rechte Mörderbande auftreten und durchwühlt den Düsseldorfer Drogenring.“ (Eintauchen in die Geschichte und Durchwühlen der Wirklichkeit als erzählerisches Verfahren.) – „Für die Rezensentin hat der Autor ein wirklich großartiges Buch über eine persönliche Krise geschrieben, die aus zu langem Stillstand in den Startlöchern resultiert.“ (Literatur als Rapport persönlicher Krisen.) – „Jawohl, das ist durchaus eine Familiensaga, aber die Autorin arbeitet ‚mit Feder und Messer zugleich‘, denn sie ist durch die Molekularküche der modernen Literatur gegangen …“ (Realistische Familiengeschichte, im Labor der Moderne aufbereitet.) – „Gelegentlich mag das Verhältnis zwischen den Romanhelden und dem historischen Material ein wenig ächzen, einige Figuren bleiben bisweilen auch auf der Strecke.“ (Die Qualität des Romans ist dadurch bestimmt, inwieweit er der Wirklichkeit beziehungsweise der Historie zu entsprechen vermag.) – „Der Rezensent kann den Autor nur beglückwünschen für die authentische Darstellung des Biotops mit Zeitverdödeln und Selbstfindung und ‚Hehehe‘-Dialogen.“ (Authentischsein geht über Erzählenkönnen.) Usw.
„Die Autorin erzählt davon, wie wir leben, allein und miteinander, und wie wir uns dabei zuschauen.“ Das ist nun keine Kritikermeinung, sondern eine exemplarische Feststellung aus dem Klappentext zu einem der erfolgreichen Romane aus dem Herbst 2016, der sicherlich zur weithin gewünschten „Kartografierung der Wirklichkeit“ – unserer Wirklichkeit – beigetragen haben wird. Man kann daraus ersehen, dass es bei marktgängiger Literatur längst nicht mehr um die Kunst des Schreibens geht, vielmehr darum, „uns“ – wer eigentlich soll das sein: „wir“? – zu bestätigen, was man ohnehin weiß, nämlich eben dies: „wie wir leben“.
Das althergebrachte, durch Überstrapazierung abgenutzte Widerspiegelungspostulat wird solcherart von Verlagsseite reaktiviert, von den meisten Autoren auch bereitwillig bedient, von Literaturinstituten, Rezensenten und dem mehrheitlichen Lesepublikum bereitwillig hochgehalten. Dass auch Literaturpreise in den meisten Fällen nach diesem Kriterium vergeben werden, ist nicht allein durch die populären und dementsprechend hochdotierten nationalen „Buchpreise“ belegt, es bestätigt sich selbst dort, wo Autoren eigens für innovatives dichterisches Schaffen prämiert werden. Da wird dann eine avancierte Preisträgerin dafür gewürdigt, dass sie „mit einem spezifisch weiblichen Blick auf die Rede- und Sprechformen unserer Gesellschaft die Frage, wie zeitgenössische Lyrik auf gesellschaftlich-ökonomische Verhältnisse reagieren kann“, beantworte. Dass Sprachformen mit dem „Blick“ einzuholen seien und als Reaktion auf lebensweltliche Verhältnisse zu gelten hätten, ist ein eher triviales Diktum – ein Diktum freilich, das mit den Forderungen der Buchkritik genau übereinstimmt. Auch der Österreichische Kunstpreis für Literatur wurde vor Jahresfrist, um hier ein weiteres Exempel anzuführen, nicht primär für sprachkünstlerische Verdienste ausgelobt, vielmehr für die militante „Auseinandersetzung“ einer engagierten Autorin mit dem „Verhältnis der Geschlechter zueinander, dem Umgang mit dem Körper sowie Krankheitserfahrungen“. Was jedoch den „Umgang“, die „Auseinandersetzung“ der Laureatin mit sprachlicher Form- und Stilbildung angeht, bleibt gegenüber dem Realitätsbezug ihrer Texte offenbar sekundär.
Selbiges gilt für den letztjährigen Empfänger des „Outstanding Artist Award“, dem von der Jury bescheinigt wird, er berichte eindringlich „von Menschen, die viel zu verlieren haben“, und er tue dies „mit hoher sprachlicher Genauigkeit“. Solches hätte man noch vor kurzem viel eher von einem Journalisten oder einem Reporter erwartet als von einem literarischen Autor, aber die Schriftstellerei mutiert nun eben zusehends zu einer Art von belletristischer Faktografie, die man lieber nach Inhalten als nach künstlerischen Qualitäten abfragt. Dass aber selbst beim Heimrad-Bäcker-Preis – einer der wenigen literarischen Auszeichnungen, die explizit für innovative Sprachkunst vergeben werden – mit nebulösen Formulierungen statt mit klaren Statements aufgewartet wird, zeigt die jüngste Jurybegründung, in der es u.a. heißt: „In ihrem jüngsten Gedichtband führt die Autorin das dichterische Sprechen in einen Zwischenbereich von Leichtigkeit und Konstruiertheit. Ihre Kohärenz beziehen diese Gedichte aus einem Assoziieren entlang gestalthafter Ähnlichkeiten.“ Wer so verquält und verquast eine Preisvergabe rechtfertigen muss, dokumentiert damit nicht nur den Verlust klarer literarischer Kriterien, sondern auch einer klaren literaturkritischen Begrifflichkeit – eine solche müsste für die objektive Würdigung von Monika Rincks Honigprotokollen und André Hellers Buch vom Süden gleichermaßen tauglich sein.
IV
Als zeitgemäß und lobenswert gilt nun gemeinhin jede Schreibweise, die ihren Stoff aus dem Leben (vorzugsweise dem eigenen) bezieht und ihn authentisch, für jedermann nachvollziehbar aufbereitet, sodass der Leser, die Leserin – nicht anders als der Rezensent, die Rezensentin − sich „angerührt“, „angeekelt“, „beeindruckt“, wenn nicht „überwältigt“ fühlen kann. Dabei wird durchweg vorausgesetzt, dass der Text „spannend“, „überraschend“, „unterhaltsam“ sei. Wo derartige Kriterien nicht erfüllt werden, kommt jeweils rasch das Verdikt der Langeweile auf und nicht selten, an die Autoren gerichtet, der Vorwurf, sie machten es den Lesern „nicht leicht“ oder, schlimmer noch, sie machten es ihnen „schwer“ und missachteten damit den verpflichtenden U-Faktor heutiger Belletristik. Wenn Kunden von amazon.de ihre Bücherkäufe unter diesem Gesichtspunkt und auf diesem Niveau in Rezensionsform kommentieren, ist das durchaus in Ordnung, da es hier ja tatsächlich um das Gefallen, das Angerührt- und Begeistertsein geht. Tatsache ist aber auch, dass sich das Qualitätsfeuilleton im Fach der Buchkritik von derartigen Meinungsäußerungen kaum noch unterscheidet.
Mehr oder minder problemlose Konsumierbarkeit ist selbst in der Poesie, die sich vornehmlich als Plauderlyrik artikuliert, zur unbedingten Prämisse geworden. „Gedichte schreiben – das ist“, wie ein Kritiker der NZZ es an einem Fallbeispiel dartut, „der Versuch, auf poetische Weise die Welt auf den Punkt zu bringen.“ Wo es doch vielmehr darum ginge, die Sprache so „auf den Punkt zu bringen“, dass sie die äußere Welt nicht bloß darstellt (ob kritisch oder affirmativ), dass sie vielmehr selbst eine Welt entstehen lässt, die als mögliche Welt und fiktiver Text eine Wirklichkeit eigener Ordnung bildet. Demgenüber gilt „schwerverdauliche“ literarische Kost, deren Verständnis bei der Lektüre überhaupt erst erarbeitet werden müsste, weithin als obsolet. „Schwierige“ Autoren wie Brodsky, Szymborska oder Claude Simon kämen heute als Nobelpreisträger kaum noch in Betracht. Einst waren solche Autoren stilbildend, wenn nicht gar schulbildend, sie prägten die literarische Epoche wie auch die sprachliche Kultur. Heute stellen sie eine verschwindende Minderheit dar, und nur ganz wenige von ihnen können sich – als Alibi- beziehungsweise Ausnahmeautoren für „experimentelles“, „formalistisches“, „avantgardistisches“ Schreiben – im aktuellen Literaturbetrieb behaupten.
Das diesbezügliche Interesse des Feuilletons konzentriert (oder beschränkt) sich allerdings fast ausschließlich auf Friederike Mayröcker, die seit dem Tod Jandls, Pastiors und Wührs so gut wie im Alleingang das Erbe der nun schon „historisch“ gewordenen Avantgarde hochhält und es, unentwegt publizierend, nach Kräften zu mehren versucht. Die einst radikal innovative Dichterin besetzt inzwischen als Grande Dame eine ungemein privilegierte Position. Sie praktiziert eine progressive, wenn auch nicht mehr sonderlich stringente Poetik, die jeglichem Realismus und damit auch den aktuellen Forderungen der Tageskritik dezidiert entgegensteht. Gleichwohl findet ihre laufende dichterische Produktion nach wie vor große Beachtung – ihre Bücher erscheinen bei einem führenden Publikumsverlag und werden durchweg positiv besprochen; sie selbst empfängt noch immer zahlreiche Preise und andere Ehrungen, obwohl sie als angeblich „schwierige“ Autorin auf Bestsellerlisten kaum je figuriert. Doch sie beliefert und unterhält einen elitären (deshalb auch ziemlich konstanten) Leserkreis, der sich noch im vergangenen Jahrhundert als „Gemeinde“ konstituiert und bis in die jüngste Zeit sich erhalten hat. Der allgemeine Zuspruch, den die Dichterin genießt, bleibt sonstigen Praktikanten experimenteller Schreibarbeit ebenso vorenthalten wie ihrem großen Weg- und Generationsgenossen Gerhard Rühm, der ihr in nichts nachsteht und der, wie sie, weiterhin rastlos tätig ist, vom Feuilleton und von literarischen Jurys jedoch seit vielen Jahren konsequent ignoriert wird.
Friederike Mayröckers eklatante Vorrangstellung beruht weniger auf ihrem Werk als vielmehr darauf, dass es ihr gelungen ist, als öffentliche Person zur „Legende“ zu werden. Noch als Neunzigjährige wird sie häufiger interviewt und mitsamt ihrer privaten Umgebung im Bild gezeigt als jedes saisonale „Fräuleinwunder“, und die Vagheit ihres werkübergreifenden Fließtexts macht es den Rezensenten relativ leicht, dessen angeblich „blühende“, ja „hinreißende“ Dynamik besonders hervorzuheben. Die offenkundigen Schwierigkeiten der Lektüre und des Verstehens werden dadurch überspielt, dass man die Texte dem Bereich des Magischen, des Wundersamen oder Märchenhaften zuordnet. Zu Mayröckers Prosabuch cahier (2014) rapportiert perlentaucher.de die folgende Einschätzung: „Hier wird die Autorin für den Rezensenten geradezu zum Medium, durch das Zeiten und Stimmen gehen, Märchen und Lieder und ein ganzes wildes, verwildertes Leben.“ Und zu fleurs (2016) heißt es: „Die Gedankenarabesken, Stimmungsbilder und Verbalträume in Friederike Mayröckers Band sind nicht zum Verstehen gedacht, sondern zum Verlieben, Betrachten und Sich Verlieren …“
Die Lektüre wird damit vom Verstehenwollen – also vom Nachdenken – abgekoppelt und darf sich, so wie auch der Rezensent es tut, am Leitfaden einer Autorin „hinreißen“ lassen, die ihr Schreibprogramm gleich selbst auf den täglichen Schreibdrang reduziert: „Einfach so hinsetzen an die Maschine am Morgen bei wölfischem Heulen, nicht wahr.“ Und weiterschreiben. Avantgardistische Innovations- und Formkraft ist auf diesem Niveau naturgemäß nicht mehr zu erbringen. Dadurch übrigens, dass Friederike Mayröcker ihre jüngsten Texte, streng kalendarisch angeordnet und datiert, als Tagebuchblätter zu lesen gibt, verleiht sie ihnen – bei all ihrer Abgehobenheit – just jene Authentizität, die von der Kritik mit größter Selbstverständlichkeit als Qualitätsmerkmal verbucht wird. Die vermeintliche Versöhnung von Phantasterei und Alltagswelt ist wohl ein gewolltes Missverständnis (behauptet von der Dichterin, gern übernommen von ihren Sympathisanten), das inzwischen auch tatsächlich als singuläres Erfolgsrezept produktiv geworden ist.
V
Der Fall Mayröcker ist ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie im derzeitigen Literaturbetrieb unterschiedliche Interessen und Standards eingeebnet und auf einen allerseits akzeptablen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Statt sich um Differenzierung zu bemühen und das ambitionierte Projekt der Autorin ernstzunehmen, es einer rezensentischen Qualitätsprüfung zu unterziehen, beschränkt man sich unisono darauf, es mit den immer gleichen, durchweg wohlmeinenden Apostrophen abzusegnen. Doch allgemeine Charakterisierungen wie „wunderbar“, „hochpoetisch“, „federleicht“, „fein gezeichnet“, „zauberhaft“ u.ä.m. können literaturkritische Begrifflichkeit nicht ersetzen – sie blenden sie aus, und Rezensentinnen, Rezensenten dispensieren sich damit von der Kärrnerarbeit des Verstehens und Verständlichmachens „schwieriger“ Textvorlagen.
Gerade solche Texte sind aber darauf angewiesen (und von den Verfassern oft auch darauf angelegt), dass man sie, anders als leichter konsumierbare Trendliteratur, nicht bloß überfliegt und ein vorgefasstes Gefallen dazu kundtut, sondern sie gegenliest, hinterfragt, weiterdenkt. Allzu oft kapituliert die Buchkritik vor dieser Aufgabe (die auch eine Verantwortung ist), indem sie ihre Besprechungsstücke leichtfertig mit klischeehaften Schlagworten und Superlativen abhakt. So kommt es, dass manch eine saisonale Neuerscheinung unversehens als „das beste“ Erzähl- oder Dichtwerk „der letzten Jahre“, „des vergangenen Jahrzehnts“, „seit der Jahrtausendwende“ gefeiert wird, bevor man es jeweils kurze Zeit später im Orkus des Vergessens entsorgt. Dass vor solchem Vergessen auch der Ulla-Hahn- oder der Georg-Büchner-Preis und die jährlich mit sehr viel Pomp vergebenen nationalen Buchpreise nicht gefeit sind, kann jedermann sofort für sich selbst feststellen beim Versuch, die allzu vielen Preisträger (geschweige denn deren Bücher) korrekt zu benennen.
Von daher klingt das chorische Kritikerlob, das eine vielbesprochene Prosaautorin für ihren jüngsten Roman auf sich vereinigen kann und das ihr Verlag mit werbetechnischer Beflissenheit noch verstärkt, einigermaßen ambivalent. Das Buch wird dem aktuellen Literaturverständnis entsprechend als „umstandslos realistisch“ rubriziert und gleich auch für „einen großen Preis“ empfohlen, derweil eine andere Pressestimme dem vorliegenden Meisterwerk zusätzlich bescheinigt, es sei „ohne den moralischen Zeigefinger zu heben auch politisch“. Ob ein Roman, selbst ein großer, überhaupt in der Lage wäre, einen „Zeigefinger zu heben“, bleibe dahingestellt – dahingestellt auch, ob (und in welchem Ausmaß, in welchem Verständnis) ein literarischer Text „politisch“ oder, umgekehrt, „privat“ sein muss, um als preiswürdig gelten zu können. Dass aber (wie in diesem leider exemplarischen Fall) ein verdienter Kritiker bei einem angesehenen Medium mit solch schiefen Scheinargumenten operiert und dass die dann auch noch von der Werbung vereinnahmt werden, muss im Hinblick auf das gegenwärtige Rezensionsgeschäft doch nachdenklich stimmen. Wenn der hochgelobte Roman nicht nur als „umstandslos realistisch“, sondern – gleichzeitig! – auch als ein „sachlich-modernes (?) Arbeitermärchen (!)“ ausgewiesen wird, fragt man sich, nach welchen literarischen Kriterien Bücher heute begutachtet (für „gut“ erachtet) und deren Autoren mit Preisen bedacht werden.
Die Frage stellt sich umso dringlicher, als die hier angeführten Kritikervoten nicht als Ausnahmefälle zu gelten haben – sie entsprechen vielmehr dem heute üblichen rezensentischen Umgang mit zeitgenössischer Literatur, einem Unvermögen, vielleicht auch bloß einer Untugend, die Paul Wühr in Das falsche Buch von 1983 beispielhaft aufgezeigt und ad absurdum geführt hat. Aus diesem dickleibigen belletristischen Traktat hätte man schon damals lernen können, was es mit „realistisch“ inszenierter und – im Gegensatz dazu – mit „real“ praktizierter Literatur auf sich hat: Jeder künstlerische Text, der die äußere Welt realistisch ins Werk zu setzen meint, wird sich notwendigerweise als „falsch“ (als eine Fälschung) in Bezug auf eben diese äussere Welt herausstellen, und einzig dort, wo der Text selbst als ein eigenwertiges Reales sich behauptet, gewinnt Literatur ihre Richtigkeit, die identisch ist mit ihrer eigenen Wirklichkeit. Wühr bringt diese schlichte, offenbar jedoch schwer zu begreifende Einsicht im Falschen Buch wie folgt auf den Punkt: „Und vermissten Sie eine scheinbare Spannung nach scheinbaren Bedingungen der Wirklichkeit, so biete ich Ihnen dafür die wirkliche Spannung des Buches zur Wirklichkeit und gebe Ihnen Ihr Denken zu bedenken.“ Ein freundliches, zudem günstiges Angebot des Autors an Leserinnen und Kritiker, vielleicht aber doch zu ingeniös, um allgemein verständlich zu sein?