Zwischen Tiefsinn und Nonsense

Dostojewskij als Dichter des Absurden. Eine literarhistorische Recherche von Felix Philipp Ingold.

Online seit: 2. Februar 2016
Fjodor Dostojewski
Vasily Perov: Porträt des Schriftstellers Fjodor Dostojewski (1872)

Fjodor Dostojewskij gilt gemeinhin als der tiefsinnigste unter den großen russischen Erzählern des 19. Jahrhunderts – als ein „grausames“ philosophisches Talent, als literarischer Apokalyptiker und fanatischer Nationalist. Man schreibt ihm die Erfindung der „Romantragödie“ zu, glaubt in ihm den Propheten der russischen Revolution zu erkennen und ist fasziniert von seinen abgründigen psychologischen Einsichten. Friedrich Nietzsche wie Albert Einstein oder Albert Camus bezogen sich mit höchstem Respekt auf Dostojewskij, adoptierten ihn als ihren magistralen Vordenker.

Dass Dostojewskij freilich nicht nur ein luzider Schwarzseher und prophetischer Tragiker war, ist durch seine Humoresken (etwa Das Krokodil, Der ewige Gatte oder Der Doppelgänger) wie auch durch manch eine komische Romanepisode belegt, doch zumeist mutiert bei ihm die Komik ins Skandalöse oder in den Wahnsinn – selbst der scheinbar unbedarfte Traum eines lächerlichen Menschen verdichtet sich schließlich zu einer fatalen Endzeitvision, wird zum Abgesang nicht allein auf den gewöhnlichen „Menschen wie du und ich“, sondern auf die Menschheit und das Menschentum schlechthin.

Um so mehr ist man beim Durchblättern von Fjodor Dostojewskijs umfangreichen Notiz- und Arbeitsheften erstaunt, immer wieder auf das Stichwort „Poesie“ (oder „Verse“) zu stoßen und darüber hinaus auf diverse Gedichte und Gedichtentwürfe von der Hand des Autors. Dessen Interesse an poetischen Texten beschränkte sich ansonsten, wie seinen diesbezüglichen Schriften und Reden zu entnehmen ist, auf thematische Vorgaben, auf Ideen und Aussagen, wohingegen er formale künstlerische Qualitäten weitgehend außer Acht ließ.

Dies wiederum kontrastiert mit der Tatsache, dass Dostojewskij bei der Arbeit an eigenen Gedichten gerade auf die prosodische Formgebung – Metrum, Reim, Strophik – besonderen Wert legte: Das Streben nach regelhafter Präzision ist für Autodidakten und Gelegenheitspoeten durchaus charakteristisch. Dazu kommt als weiteres bemerkenswertes Faktum, dass alle dichterischen Versuche Dostojewskijs auf komische, wenn nicht groteske Effekte angelegt sind, wie man sie vorab aus der russischen Verssatire oder der Volkspoesie kennt. Gerade die penible Verbindung von strenger Form und Komik verleiht den Gedichten einen unmittelbaren Reiz.

Beispielshalber seien hier die Verse von der unerwünschten Kakerlake angeführt; sie lauten in meiner Übersetzung wie folgt:

Es war mal eine Kakerlake,
’ne Kakerlake von kleinauf,
Und dann an einem schönen Tage
Fiel ihr ein Glas voll Fliegen auf.

Die Kakerlake kriecht ins Fliegenglas,
Die Fliegen heben an zu murren:
„Schon viel zu voll ist unser Glas“,
So rufen sie zu Zeus und knurren.

Noch während sich ihr Zorn ergoss,
Erschien Nikífor auf der Szene,
Ein edler Greis, von Würde groß …

Dostojewskij hat dieses titellose fragmentarische Gedicht niemals separat unter seinem eigenen Namen publiziert, er hat es aber in den Roman Die Dämonen eingerückt, und zwar als ein Werk des Hauptmanns Ignat Lebjadkin, eines ebenso unbedarften wie ruchlosen Schwerenöters, den er verschiedentlich als dilettierenden Poeten auftreten lässt. Lebjadkin wird somit zur „Maske“, zu einer „Persona“ des Autors, unter dessen Diktat er, ständig schwankend zwischen Wahn und Sinn, seine absurden Verse zum Besten gibt. Im Roman bleiben ihm mehrere Auftritte vorbehalten, bei denen er mit „eigenen“ Gedichten zu glänzen und zu beeindrucken versucht, mit Gedichten also, die Dostojewskij „eigens“ für diesen Zweck abgefasst und unter dem Pseudonym des gockelhaften Hauptmanns in seinen Roman eingebracht hat.

Im definitiven Gesamttext der Dämonen finden sich