Zwei Gespräche mit Michael Haneke

Alexander Kluges Kolumne „Materialien & Texte aus den sieben Körben“

Online seit: 12.10.2017

Mit Michael Haneke verbindet mich das Interesse am filmischen Realismus. Realismus im Kino bedeutet, dass die Kamera die Kraft der Wirklichkeit erfasst. Dokumentarische Methoden vermischen sich mit inszenierten Momenten. Was sich außerhalb des Bildes befindet, spielt eine Rolle. Realistisch wird ein Film in der Vorstellung des Zuschauers. Es geht um ungesehene Bilder und um Zeitfäden durch die Geschichte. In Das weiße Band werden Ereignisse geschildert im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, aber was im Film geschieht, ist älter als die Handlung; die Figuren sind geprägt von den Erfahrungen ihrer Vorfahren, den Bauernkriegen, doch der Film bezieht sich auch auf die unmittelbare Gegenwart: Die Mechanismen von sozialer Ausgrenzung sind heute nicht anders. Hanekes Fähigkeit liegt in der Zuspitzung, filmischer Reichtum entsteht durch Auslassung und Einsparung. Eine Stimme, die nichts zu sagen hat, soll schweigen, sagt Johann Sebastian Bach.
A. K.

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KLUGE Der Lehrer ist ein Volksschullehrer, unterste Klasse, ab Gymnasiallehrer ist eine andere Einstellung da. Der Gymnasiallehrer wäre Professor Unrat aus dem Blauen Engel. In die Intelligenz ist kein Vertrauen zu setzen in Ihrem Film.

HANEKE Wobei der Lehrer eine positive Figur ist. Dieses Liebespaar ist auch ein dramaturgischer Trick, dem Zuschauer etwas in die Hand zu geben, was ihn ermuntert, und ihn nicht zu ersticken, weil die Welt im Allgemeinen nicht nur aus dem Negativen besteht, sondern widersprüchlich ist. Ich habe versucht, ein bisschen von der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit hineinfließen zu lassen. Das war eine dramaturgische Überlegung, eine wesentliche Figur zu kreieren, die eine Art Gegenmodell ist, weil dieser Lehrer eher untypisch ist für die Zeit. Die normalen Lehrer haben alle geprügelt. Das war selbstverständlich. Es haben mich verschiedene Leute angesprochen, wie pervers dieser Pfarrer ist. Der war normal für die damalige Zeit, er war auch zutiefst überzeugt, dass er das Richtige tut. Das ist kein böser Mensch.

KLUGE Der hätte Widerstand gegen Hitler gepredigt, wäre Herr Niemöller gewesen. Er sagt: Ich bin traurig, Ihr enttäuscht mich, ich möchte Euch respektieren, beweist mir, dass ich einen Grund habe dafür. Das ist die nackte Aufklärung. Eigentlich müsste man zum Weltbürger geprügelt werden in dieser Weise. Bei Immanuel Kant würde das die Konsequenz sein, wenn er praktisch wäre.

HANEKE Das ist das Schwierige, wenn man nur reflexiv an die Dinge rangeht. Ich weiß nicht, ob unsere Erziehungsposition heute der Weisheit letzter Schluss ist. Wir haben es heute leichter, um über eine historische Position zu richten, die hundert Jahre her ist. Erziehung ist das Schwierigste, was es gibt. Haben Sie Kinder?

KLUGE Ja, sie tun nicht, was man sagt.

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HANEKE Das ist das, was das Fernsehen uns ununterbrochen suggeriert, bewusst oder unbewusst. Ich will nicht unterstellen, dass böse Manipulatoren an den Hebeln sitzen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Meinung gebildet wird durch die Darstellung dessen, was man zeigt. Die große Gefahr dabei ist nicht der einzelne Effekt, sondern die Tatsache, dass der Zuschauer, der seine Wirklichkeitswahrnehmung über die Medien bezieht, sich für informiert hält, obwohl er es nicht ist. Bevor es das Fernsehen gab, hat ein Bergbauer sein Tal gekannt. Da wusste er alles, und darüber hinaus hat er sich nicht eingebildet, etwas zu wissen. Wir bilden uns heute ein, informiert zu sein, wissen aber genausowenig, weil man nur das wissen kann, was der unmittelbaren Erfahrung entspricht. Wir sind konfrontiert mit Bildern, die bewusst manipuliert sein können. Wenn ich heute meine Informationen über die Welt nur über das Fernsehen bekommen würde, hätte ich ein Weltbild, das mit meiner Wirklichkeit nichts zu tun hat.

KLUGE Mit einer fremden auch nicht. Ich war nie in Chile, also kann ich keine unmittelbare Erfahrung haben. Es gibt unmittelbare Öffentlichkeit und mittelbare. Man braucht ein Quantum von unmittelbarer, damit man Maßverhältnisse hat.

[…]

KLUGE Was die Rabbis schreiben oder was in der Gemara steht, ist mehr als im Neuen Testament bei Ihrem Pfarrer. Nehmen wir einen anderen Menschentyp aus der Antike, Odysseus oder den Jason. Das sind praktisch Piraten, Seefahrer. Die können ihr Haus, ihr Schiff, wegrücken, sind auch zwanzig Jahre von zu Hause weg und kommen wieder zurück.

HANEKE Sie wären fast nicht zurückgekommen.

KLUGE Oder sie kommen zurück und werden im eigenen Land erschlagen wie Agamemnon. Freundlich ist das nicht, aber trotzdem ist es bewegungsreicher, auswegreicher, listenreicher, als wenn ich sesshaft in einem Dorf in Norddeutschland sitze.

HANEKE Deswegen sieht der mediterrane Mythos anders aus als
der nördliche Mythos.

KLUGE Wen lasse ich ins Haus rein? Wen muss ich draußen halten? Der Wolf kommt mit einer gepuderten Pfote an, und die Zicklein wissen nicht genau, ob das die Mutter ist oder der Wolf. Das ist ein Problem in Mitteleuropa, kein Seefahrerproblem. So gibt es eine Skala der Druckverhältnisse, sodass diese Energien, die das 20. Jahrhundert genährt haben und hinterher dort explodiert sind in der Landschaft, so verschieden sind von der Antike, vom Exodus oder der Emigration, die was Tröstliches hat, dass ich das Leben nochmal woanders anfange und nicht an dem Ort, wo ich zu Hause bin.

[…]

Dieser Text ist nur in der Printausgabe 3/2017 verfügbar.

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