Gute Maske für schwierige Zeiten

Lektürenotizen von Xaver Bayer zu Büchern von Saint-Pol-Roux, Gustav Ernst, El Hor / El Ha, Gerhard Maier, Jannis Ritsos, Anton Fuchs, Alfred Schmeller und Margaret Mitchell

Online seit: 27. April 2025

Gerhard Meier: Amrainer Tetralogie

Immer diese blöden Vorurteile! Ohne je etwas von Gerhard Meier gelesen zu haben, war ich fest davon überzeugt, es handle sich bei ihm um einen typischen Vertreter jener schweizerischen Literatur, die sich auf schnell ermüdende, selbstreferentielle Weise in der angeblichen Verschrobenheit des Schweizertums suhlt und mit einer Drolligkeit kokettiert, die jedoch keine Drolligkeit ist, sondern eine sich als Regionalismus verkleidende Folklore, deren Kunstgriff sich letztlich im gezierten Ausspielen manierierter Sprache erschöpft.

Weit gefehlt! Schon nach den ersten Seiten von Meiers Buch, das ich zuvor in einer dieser öffentlichen Büchertauschzellen gefunden und nahezu widerwillig zu lesen begonnen hatte, mein Aufmerken: Hoppla, endlich wieder einmal ein Besonderer! Nach Beendigung der Lektüre konnte ich aufatmen. Zum einen, weil ich mein dummes Vorurteil durch die Lektüre widerlegt wusste, zum anderen war mir klar, dass ich weiterlesen würde, und ich bestellte umgehend die vierbändige Werkausgabe. Das ist leider nur noch antiquarisch möglich.

Ebenfalls eine Besonderheit ist der Interview-Band mit Gerhard Meier, Das dunkle Fest des Lebens, von und mit Werner Morlang, ein erhellendes Gespräch darüber, was es mit sich und was einen dazu bringen kann, ein Buch zu schreiben. All denjenigen zu empfehlen, die in Schreibschulen und Literaturinstituten ihre Stunden absolvieren und das Gefühl haben, sich nicht am richtigen Ort zu befinden.

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Jannis Ritsos: Philoktet

Das zweite Büchlein dieses großen Poeten des zwanzigsten Jahrhunderts, das im kleinen Verlag Reinecke & Voß auf Deutsch erschienen ist, der dankenswerterweise ebenso Gaspard de la Nuit von Aloysius Bertrand neu aufgelegt hat, ist nur über die Homepage des Verlags zu bestellen.

Wie eigentlich alles, was Ritsos geschrieben hat, ist auch dieser Monolog höchste Kunst, vergleichbar dem Gitarrenspiel von Andrés Segovia oder Carlos Montoya. Der Autor ähnelt den beiden Musikern darin, dass er während der Entfaltung seiner höchsten Virtuosität gleichsam kein angestrengtes Gesicht macht.

Ritsos hat Philoktet in der Zeit der griechischen Militärjunta verfasst. Nicht ohne Grund wählte er den einstigen Kämpfer im Trojanischen Krieg, der nach neunjährigem Ausgesetztsein von einem Soldaten gebeten wird, dem vor Troja lagernden Heer wieder als Mitstreiter beizustehen.

Und, siehe da, beim Lesen, wirkt – angesichts des global sich formierenden Titanentums – dieser Text hochaktuell. Es geht um Aufrüstung, um das Zur-Hand-Nehmen von Waffen. Die Maske, die Philoktet, als zuhörende und schweigende Figur des Monologs, am Ende doch nicht aufsetzt, sondern unter dem Nachthimmel liegen lässt, weist noch heute auf etwas hin, das überzeitliche Gültigkeit hat, selbst wenn die Sternbilder von Satellitenschwärmen durchkreuzt und von den Lichtern der Städte überstrahlt werden. Eine gute Maske für schwierige Zeiten: der Mythos.

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Anton Fuchs: Imaginäre Berichte

Man kann Bücher öffnen wie eine Zimmertür. Man tritt ein und ist plötzlich in einer anderen Welt, in einem anderen Ordnungsprinzip, in einem anderen Menschen.

Ich habe dieses 1974 im Europa-Verlag erschienene Buch kürzlich wieder einmal aus dem Regal genommen, um zu sehen, ob meine Begeisterung noch dieselbe ist wie vor etlichen Jahren. Natürlich anders, aber ja! Man beginnt zu lesen, und prompt ist man in einem Koordinatensystem, das einem zu denken gibt. Wie sollte man eine derartige Literatur etikettieren? Phantastischer Existenzialismus? Surrealistische Sachlichkeit? Impressionistischer Expressionismus? All das trifft es nicht.

Fuchs ist ein Eigener. Die fast beamtenhafte Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, mit der er seine grotesken und realitätenverschiebenden Anordnungen in kurzen Texten bewerkstelligt, erinnert stellenweise an das unvermeidliche Vorbild Kafkas, aber diesen auch nur annähernd zu kopieren, vermeidet Fuchs beharrlich und erfolgreich. Er errichtet zwischen sich und dem Leser ein Satzgeflecht wie einen Zaun, bei dem man einzig durch die Lücken und Zwischenräume schauen kann, und schafft so eine Distanz, die jedes falsche Sentiment fernhält. Darauf beruhen die Wucht und die nachhaltige Eindringlichkeit nicht aller, aber vieler seiner Texte.

Wieso dieser 1920 in Wien geborene und 1995 in Klagenfurt verstorbene solitäre Schriftsteller nicht einen höheren Rang im Kanon der österreichischen Literatur einnimmt, ist unverständlich.

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Saint-Pol-Roux: Geschwindigkeit

Die deutsche Werkausgabe von Saint-Pol-Roux (1861–1940) kam vor Jahrzehnten im Verlag Rolf A. Burkart heraus, und erst seit 2013 ist wieder ein Buch von ihm dank Matthes & Seitz lieferbar.

Saint-Pol-Roux, diese Schwellenfigur zwischen Symbolismus und Surrealismus, ist ein Beispiel dafür, dass zuweilen Schwellen wichtiger sein können als so manches, das vor und hinter ihnen liegt. In diesem Fall sind es seine Notate, Aphorismen, denen man anmerkt, dass er aus persönlichen Gründen dringlichst auf die Auswirkungen der Technik auf den Menschen reagieren wollte.

Was Sigfried Giedion in Die Herrschaft der Mechanisierung mustergültig und ausführlich behandelt und worüber Paul Virilio in seiner Dromologie philosophiert hat, findet sich in anderer Form schon ein paar Jahrzehnte zuvor bei Saint-Pol-Roux: Was bedeutet es etwa, in einem Auto zu sitzen? Was ist Reisen? Was machen unterschiedlich generierte Geschwindigkeiten mit unserer Auffassung und Erfassung von Welt? Was hat Sport mit Maschinisierung zu tun? Et cetera.

Vieles wirkt prophetisch, was ihn bisweilen wie einen zweiten Jules Verne erscheinen lässt: Eines Tages werden alle Straßen der Welt zu gewaltigen Abschussrampen, wir werden von einem Punkt zum anderen ohne irdische Wege reisen. Wir werden Flügel fahren, wie man Ski fährt. (…); in den Lüften wird man Inseln bauen, angehaltene Geschwindigkeiten in beträchtlicher Höhe, von wo man die Mont-Blancs da unten sehen wird, und diese in der Nacht hell erleuchteten Inseln werden das Firmament auslöschen und wir werden eine andere Astronomie erlernen müssen. Aus dem Dunkeln wird Tag, aus dem Hellen wird die Nacht.

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Gustav Ernst: Die Glückseligen

Gustav Ernst, einer der originellsten Autoren der Siebziger-Jahre-Literatur Österreichs, gehört unbestreitbar schon zur alten Garde. Bereits sein Erstling, Einsame Klasse, von 1979, der im Umfeld der Wiener Arena-Bewegung spielt, ist lesenswert. Seine anderen Bücher seien ebenfalls ans Herz gelegt. Es ist keine nach Verkaufszahlen schielende Literatur, sondern eine, die sich bewusst, aber nicht bemüht allem Marktkonformen herausfordernd in den Weg stellt, und Ernst schont dabei weder seine Leser noch sich selbst.

Keine Altersmüdigkeit oder Altersmilde in seinem neuesten Buch: Da gewinnt man den Eindruck, sich in einem immer schneller drehenden Karussell zu befinden, bei dem die mitfahrenden und mithandelnden Personen herausgeschleudert werden und sich in Nachhalle, Nachklänge, Nachfarben auflösen, während der Hauptprotagonist vierschrötig und unerschrocken alle Höllenkreise eines Fine-dining-Horrorkabinetts durchschreitet.

Eine Parabel und ein Vexierbild unserer aktuellen Gesellschaft, die von den Auswirkungen des Kapitalismus und seinen Zwangspragmatismen grundgeschädigt ist und in der die Ungerechtigkeit der Güter- und Chancenverteilung zwischen Arm und Reich immer himmelschreiender wird. Tonangebend die Devise und Durchhalteparole Wettbewerb über alles!, nicht zuletzt im Geschlechtlichen. Ein Weg wie von Breughel zu Hieronymus Bosch: Was sich als zünftiger Untertanen-Reigen anlässt, steigert sich zu einer Partouse sybaritischer Zombies. Unzweifelhaft erfüllt von Grauen, aber immer auch am Handlauf der Komik entlang. Ernst sei Dank!

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El Hor / El Ha: Die Schaukel. Schatten.

Gegenwärtig werden ja gefühltermaßen am laufenden Band zweit- bis drittklassige Autorinnen und Autoren vergangener Zeiten wiederentdeckt und -veröffentlicht, die im besten Fall von kulturhistorischem Interesse sind, im schlechtesten sind sie nicht einmal das.

Bei der Person, die vorliegende Kurzprosa verfasst hat, die ich in einer Ausgabe vom Steidl Verlag aus dem Jahr 1991 (herausgegeben von Hartwig Suhrbier) unlängst geschenkt bekommen habe, ist nicht einmal sicher, ob es sich um eine Autorin oder einen Autor handelt, denn das Geheimnis um das Pseudonym ist bis heute nicht gelüftet. Das mag wurmen, aber eigentlich ist es doch egal, Hauptsache, es gibt diese Texte! Wie es El Hor / El Ha gelingt, in wenigen Zeilen etwa sich langweilende Orchideen in einem Blumenladen oder einen Vorstadtmorgen oder das Glänzen eines Opals zu beschreiben, präzise und wie hingeworfen wirkende Alltagsbeobachtungen, zeichnet für mich das schmale Werk als Literatur erster Klasse aus.

Zwischendurch findet sich zwar der Zeit – dem expressionistischen Jahrzehnt – geschuldetes Pathos, das im Übrigen auffallend oft seine Energie aus der Psychopathia sexualis von Krafft-Ebing zu schöpfen scheint, aber auch so etwas ist ja mitunter mit Interesse zu lesen.

Paul Leppin meinte 1922 in einem Artikel über die Texte von El Hor / El Ha: … seit Peter Altenberg das feinste, subtilste Genie der Skizze.

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Alfred Schmeller: Sehschlacht am Canal Grande

Und schon wieder ein Buch, das man nur noch in der Bibliothek oder antiquarisch in die Hände bekommt. Eigene Versuche in den letzten Jahren, das Interesse von Verlagen zu gewinnen, eine neue Auswahl von Artikeln und Briefen dieses wichtigen Kunstrezensenten der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts herauszubringen, blieben bis heute erfolglos.

Dabei ist Schmeller nach meinem Dafürhalten ein ebenso herausragender Stilist wie Alfred Polgar oder Theodor Wolff oder Friedrich Achleitner, jedoch frecher. Auch seine Beiträge in unterschiedlichen Dehio-Handbüchern sind vorbildlich, was Prägnanz betrifft. Da liest sich die knappe Beschreibung einer Kirche wie die Idealverwirklichung der Aufgabenstellung, alles Nötige auf denkbar kürzeste Weise zu sagen, ohne dabei Kategorien wie subjektives Schönheitsempfinden, Witz und skeptisches Bewusstsein auszusparen.

In der (von Otto Breicha 1978 herausgegebenen) Sehschlacht am Canal Grande bekommt man zusätzlich einen weitgefächerten Eindruck der österreichischen und internationalen Kunstszene der Nachkriegsjahre. Die geistreiche, angenehm respektlose und von fundiertem Wissen getragene Kritikfähigkeit machen die Lektüre zu einem Vergnügen und schüren zugleich das Bedauern darüber, dass es dieser Tage in Medien kaum nennenswerte Besprechungen von zeitgenössischen Ausstellungen, Konzerten, Lesungen, Filmvorführungen oder Bauwerken gibt, die für sich selbst literarische Leistungen darstellen.

Eben solche sind Alfred Schmellers aus dem Ärmel geschüttelte Aufsätze und Kritiken kultureller Ereignisse der Jahre 1948 bis 1978.

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Margaret Mitchell: Vom Winde verweht

Vor meinem geistigen Auge ein verwaister Rummelplatz, wie es ihn nicht mehr gibt, ein Rekommandeur, der mit einem blechernen Sprachrohr ein (ebenfalls nicht mehr existentes) Publikum zur Attraktion locken will. Ich höre regelrecht seine heisere Stimme, wie sie ruft: Herbei, herbei! Reißt auf die Augen! Riskiert einen Blick! Folgt der Geschichte von Scarlett O’Hara und Rhett Butler! Wenn ein Buch mit dem Prädikat Pageturner versehen werden darf, dann dieses! Nichts für Zimperliche und Überkorrekte! Nur Mut, herbei, herbei! Werdet Zeugen, wie die Autorin es schafft, die nicht sehr sympathische, weil hoffnungslos egoistische Heldin bis zur letzten Seite als Getriebene durch die Zeitläufte zu hetzen! Herbei, herbei!

Der Ausrufer lässt das Megaphon sinken und blickt auf seine Uhr. Ein schlechter Tag heute. Kein Mensch weit und breit. Wo sind nur all die Leute hin?, denkt er, kratzt sich den verschwitzten Nacken und blickt in den bewölkten orangefarbenen Himmel, als stünde dort die Antwort zu lesen.

 

Xaver Bayer, geboren 1977, lebt als Schriftsteller in Wien. Für Geschichten mit Marianne (Jung und Jung) wurde er 2020 mit dem österreichischen Buchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm der Band Poesie (Jung und Jung).

Quelle: VOLLTEXT 1/2025 – 18. März 2025

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