Der Nichtzuständige und die Geistesgröße

Ein E-Mail-Wechsel über neue Editionen von Wolfgang Koeppen und Peter Hacks. Von Klaus Siblewski

Online seit: 5. Mai 2020

Liebe Frau B., heute möchte ich Ihnen gleich sechs umfangreiche Bücher zur Lektüre vorschlagen. Fühlen Sie sich in der Stimmung, diese Vorschläge entgegenzunehmen?

Lieber Herr K., solange Sie mir nicht den Briefwechsel zwischen den Herren Schmidt und Wollschläger über Karl May nahebringen wollen, höre ich mir Ihren Vorschlag gerne an. Obwohl: Bei sechs Bänden, fürchte ich, überschätzen Sie meine Lektürekapazitäten als Ärztin dramatisch.

Wolfgang Koeppen © Suhrkamp
Wolfgang Koeppen in den 50er-Jahren: Gekonnt Auskunft geben zu können oder es gar zu wollen, hätte ihn als Autor verdächtig gemacht.
Foto: © Suhrkamp

Liebe Frau B., da Sie mir das Wort über Arno Schmidt wieder abschneiden, werde ich über diese beiden Autoren den Mund halten. Sagen muss ich aber, dass es um Karl May zwischen den beiden nur am Rande geht. Solange Sie sich nur an Karl May stören und nicht daran, dass ich Ihnen das letzte Mal einen Briefwechsel zur Lektüre vorgeschlagen habe, werden Sie auch nichts dagegen haben, wenn ich Ihnen heute als Erstes einen Band mit Gesprächen empfehle. Die simple Wahrheit besteht darin, dass die Nachkriegsliteratur schon erschienen ist und logischerweise nicht mehr erscheinen kann – und in der Konsequenz bedeutet das, der Kontakt zur Nachkriegsliteratur wird heute vor allem durch Publikationen von Materialien aus dem Umkreis der Nachkriegsautoren aufrechterhalten: mit Briefen, Interviews und gelegentlich Bänden aus kommentierten Werkausgaben. Am Bild der Autoren werden Präzisierungen und zeitgemäße Retuschen vorgenommen, und es ist gut, dass diese Materialsammlungen veröffentlicht werden. Eine solche Sammlung stellen die Gespräche mit Wolfgang Koeppen als Band 16 in einer neuen Werkausgabe dar. Diese Gespräche können als Übungen in der Kunst der Selbsterhaltung im Literaturbetrieb in höchster Vollendung gelesen werden.

Koeppens Werk war im Prinzip geschrieben, bevor er das erste Mikrophon vor den Mund gehalten bekam.

Lieber Herr K., dass Sie mir heute und in naher Zukunft keinen Liebesroman vorschlagen, darauf habe ich mich eingestellt. Aber was meinen Sie mit Selbsterhaltung, und sind diese Gespräche wenigstens anregend zu lesen oder verkrallt sich Koeppen auch in lauter quälend zu lesenden Nebensächlichkeiten?

– Schwierig zu beantwortende Frage. Koeppen stilisiert sich zu einer Nebenfigur in eigener Sache. Sein Werk war im Prinzip geschrieben, bevor er das erste Mikrophon vor den Mund gehalten bekam und bevor Johnson, Grass und auch Siegfried Lenz ihre ersten wichtigen Werke schrieben und publizierten. Als diese Autoren die Nachriegsliteratur schufen, war Wolfgang Koeppen eigentlich hauptsächlich mit der Pflege von schüchtern ausge­breiteten Legenden über sich beschäftigt – und wurde damit zu einer wichtigen Figur.

– Ein Autor, der durch Legendenbildung seine Wichtigkeit untermauert und sich halten kann, hört sich verlockend an. Erfährt man in dem Gesprächeband Näheres darüber?

– Oh ja, die Gespräche waren ein wichtiges Medium bei seiner Karriere nach seiner Schreibkarriere. Ein Beispiel: 1972 wird er gefragt, ob sich sein neuer Roman wieder „mit Deutschland, mit der Situation in Deutschland beschäftigen würde“. Darauf Koeppen: „Er versucht sich mit Deutschland zu beschäftigen. (Der Roman, K.S.) spielt in Washington, und es ist gar nicht mal das Washington, das ich gesehen und besucht habe, es ist ein imaginäres Washington, wie das Amerika Kafkas. Es sind aber Leute deutscher Herkunft als Personen in dem Roman …“
Diese Romanankündigung klingt doch gut – oder?

Reich-Ranicki wollte Wolfgang Koeppen in den 1960er-Jahren als Gegenfigur zum katholischen Heinrich Böll aufbauen und dessen Bedeutung zurückdrängen.

– Das ist doch eine Fangfrage, aber ich beantworte die Frage dennoch: An dem Roman bin ich mehr interessiert als an dem Band mit Gesprächen und Interviews.

– Genau! Ich würde diesen Roman auch gerne lesen, sehr gerne sogar. Das Problem: Es gibt diesen Roman nicht, hat ihn nie gegeben. Koeppen sprach im vollen Ernst und detailreich über einen Roman, von dem er wusste, dass er ihn nicht geschrieben hat. Daran ist jetzt nicht die lange Zeit diskutierte Frage interessant, wie ein Autor vom Format Wolfgang Koeppens seine Schreibfähigkeit habe verlieren