Wer sagt hier „Ich“? Und in welcher Absicht?

Olga Flor im Gespräch mit Katrin Hillgruber über ihren neuen Roman Ich in Gelb, ästhetische Transaktionen und rote Heringe.

Online seit: 23. Juni 2015

Katrin Hillgruber Ihr Roman Ich in Gelb dreht sich um die 13-jährige Modebloggerin Alice alias nextGirl, es kommt aber auch eine „anämische Anemone“ vor, nämlich das Mannequin Bianca. Ist „Germanys Next Topmodel“ damit in der Belletristik angelangt?

Olga Flor Einerseits hat mich die Repräsentanz eines Ichs im Internet oder überhaupt in den Medien interessiert, wo Bilder und Selbstbehauptungen entscheidend sind, also die verschiedenen Identitäten, die man sich geben kann. Fakultative Identitäten, jede ein Versuch bis zur nächsten, weil ja eine permanent hungrige Bilder-Maschinerie  gefüttert werden möchte. Bezeichnend dafür ist Twitter: Es muss immer noch schneller gehen, noch schneller etwas nachgeliefert werden. Ob auf einer Anspielungsebene, wie sie die Links darstellen, oder auf der Text- und Bildebene. Es ist, als blicke man in ein Kaleidoskop: Das Selbstbild wird aufgesplittert in ständig neue Möglichkeiten. Etwa bei dem Model, das glaubt, sich beliebig deformieren zu können …

Hillgruber Sie sprechen jetzt von Bianca, die als Gegenmittel zu ihrer Lebensmittel-Allergie einen Bandwurm in sich trägt, der seine Wirtin an wechselnden Stellen merkwürdig ausbeult?

Flor Ja, genau. Das ist ja eigentlich das zum Äußersten getriebene permanente Wandeln des eigenen Bildes. Die Faszination des Monströsen, doch auch das nützt sich ab.

Hillgruber Sie gehen mit Ihrem Roman ein erzählerisches Wagnis ein. Einerseits ist er wie ein Blog angelegt, das heißt, nextGirls neueste Eintragungen stehen immer an oberster Stelle. Bianca hingegen erzählt chronologisch, und diese beiden Stränge überkreuzen sich.

Flor Wobei das natürlich von der Blog-Logik her möglich ist, denn wenn man einen Blog von dessen Ende, also dem jüngsten Beitrag her, liest, kann man ihn durchaus in umgekehrter Reihenfolge kommentieren. Das ist die formale Klammer. Doch Bianca nimmt sich ihre eigene Zeit, und ihre Figur war der Kern des Romans. Dann kam die Beschäftigung mit Videoblogs hinzu, dieser ganzen Fülle an selbstdokumentiertem Mitteilungsbedürfnis, ob es um Make-Up-Tipps geht, um Gaming oder um die rhetorisch geschliffenen Statements jugendlicher amerikanischer Feministinnen.

Hillgruber Die 13-jährige Alice ist Ihre bisher jüngste Protagonistin. Der Name lässt an Lewis Carrolls Alice im Wunderland und die Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln denken.

Flor Natürlich spielt das Buch auf Alice hinter den Spiegeln an: Die Abfolge der Raumebenen wird im Spiegelbild umgekehrt, im Text passiert das mit den Zeitebenen. Das Thema des  „Durchtunnelns“ in eine Parallelwelt, an einen anderen Punkt des Raum-Zeit-Kontinuums, was ja bei Alice im Wunderland durch den Fall ins Kaninchenloch passiert, hat mich ebenso fasziniert. Überraschend auch, dass Carroll das schrieb, lange bevor die Quantenmechanik entwickelt wurde.

Hillgruber Das Passwort für den zum Buch gehörenden Blog „dasistkeinblog.com“ lautet passenderweise „Zeitumkehrinvarianz“.  Zeigt sich auch hier die Physikerin Olga Flor?

Flor Vielleicht. Dieser Begriff bedeutet, dass bestimmte physikalische Gleichungen invariant gegenüber der Zeitumkehr sind, sich also nicht verändern, wenn die Zeit durch die negative Zeit ersetzt wird, die Zeit also in die umgekehrte Richtung liefe, was natürlich praktisch nicht möglich ist. Es ist ein reines Konstrukt, das hilft, zu untersuchen, ob physikalische Vorgänge auch in umgekehrter Richtung ablaufen können.

Hillgruber Kann es sein, dass die Konstruktion Ihrer Bücher seit dem Debüt Erlkönig von Mal zu Mal komplexer wird?

Flor Nicht unbedingt, doch von Mal zu Mal anders, und immer vom Thema abhängig. Das letzte Mal, bei Die Königin ist tot, schien es sich um eine Art Erinnerungs-Bewusstseinsstrom zu handeln, tatsächlich war es aber primär der Versuch einer höchst skrupellosen Frau, in einer ausweglosen Lage die Deutungshoheit über das eigene Leben wiederzuerlangen, gleichzeitig liefert der Text als „geleaktes“ Dokument ihren Komplizen ans Messer, wird also zur Waffe. Es ist doch immer die Frage: wer sagt hier „Ich“ und in welcher Absicht, unter welchen Umständen? Im Netz wird ja andauernd „Ich“ gesagt. Für die Auseinandersetzung mit diesen Netz-Ichs, also bei Ich in Gelb, brauchte es einen spielerischeren Zugang, eine unbefangene, heitere Stimme, die ich in den Vordergrund treten lassen konnte und die erst langsam beginnt, sich zu fragen, was dieses „Ich“ eigentlich ausmacht. Und Alice ist noch in keiner Weise zynisch, im Gegensatz zu vielen anderen Personen um sie herum.

Hillgruber Der Modeschöpfer Josef, selbst schwul, hegt eine Vorliebe für zwölf- bis dreizehnjährige Mädchen, die er als seine „Familie“ bezeichnet. Beraubt das Internet nextGirl und die anderen nicht unumkehrbar ihrer Jugend? Was machen Alice & Co. mit vierzig?

Flor Alice entfernt sich ja eigentlich immer mehr von ihrem Interesse für Mode. Wenn man anfängt, sich selbst als erwachsen Werdende zu begreifen, mit einem sich bisweilen beängstigend verändernden Körper, dann ist die Bekleidung ein Thema, das sich fast zwangsläufig stellt. Aber letztlich ist es für sie nur ein Einstieg in die Reflexion über die Welt und die eigene Rolle darin. Ich denke, Alice wird wahrscheinlich Journalistin werden.

Hillgruber Können Sie etwas zum Titel sagen?

Flor Gelb ist in der europäischen Kunstgeschichte stets die Farbe der Ausgestoßenen, Stigmatisierten gewesen – seien es Prostituierte, seien es Jüdinnen und Juden. Das ist eine Farbe, die zur Brandmarkung, zur Kennzeichnung der Ausgrenzung eingesetzt wird, andererseits signalisiert sie wie keine andere Wärme, Sommer, Sonne, ein ganz kindliches Wohlgefühl. Und diese Diskrepanz hat mich einfach interessiert.

Hillgruber Ihr Buch zieren zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien von Medusen, Fischen und anderen wechselwarmen Tieren.

Flor Farbaufnahmen wären aus drucktechnischen Gründen nicht möglich gewesen. Doch schwarz-weiß ist sehr stimmig, denn der Roman arbeitet auf verschiedenen Ebenen mit Falschbehauptungen und fragwürdigen Fährten, den berühmten „Red Herrings“. Das hat mir beim Schreiben durchaus Spaß gemacht. Dadurch öffnet das noch eine andere Perspektive: Der Text spricht von Farben, doch die Bilder konterkarieren diese Behauptung, so wie jede Netz-Repräsentanz nur eine Behauptung ist. Wer oder was tatsächlich dahinter steckt, weiß man ja nicht. Hinter einer angeblich Dreizehnjährigen kann sich ein Siebzigjähriger verbergen. Oder auch zwei.

Hillgruber nextGirl verweist auf ihre Lieblingsfarbe Gelb, dazu zeigt sie eine rosa Medusa, die auch den Umschlag ziert – offenbar ein zentrales Symbol?

Flor Das Bild der Medusa ist natürlich auch das Bild der geköpften Frau. Dieses Schreckbild des Weiblichen, mit Freud sogar des weiblichen Geschlechts, das anscheinend nur dadurch gebannt werden kann, dass man die Frau enthauptet. Eine höchst verstörende Konstruktion. Eigentlich geht es um das Bild des Kopfes als absolut letzten Rückzugsraum des menschlichen Denkens, das Behältnis des Ichs, selbst wenn man alle Gliedmaßen verliert. Als ich anfing zu schreiben, waren wir von den Bildern des IS-Terrors noch weit entfernt, zumindest hier in Europa. Ich fand es erschreckend, wie stark diese kulturhistorischen Bilder – beispielsweise in der verniedlichten Form des Engelskopfes, dem Gold aus dem Hals quillt und sich zu Flügeln auswächst – Teil unserer Alltagskultur sind. Letztlich geht es um die Reduzierung des Menschen auf seine körperliche Begrenztheit.

Hillgruber Ihre Recherchen haben Sie häufig ins Naturhistorische Museum Wien geführt, wo die Handlung in einer spektakulären Performance kulminiert. Gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen der Sammelleidenschaft des 19. Jahrhunderts und dem Benennungs- und Verschriftlichungsdrang der Internet-Generation?

Flor Dass man in den naturkundlichen Sammlungen die Fülle des Lebens erfassen wollte in einer Ansammlung von Tod, indem man tote Körper konservierte – schön brav biblisch möglichst immer zwei von jeder Subspezies –, finde ich einen höchst interessanten Aspekt: eine Form der Kolonisierung, die leider für das Kolonisierte, das Lebendige, letal ist. Und in den sozialen Medien gilt: Nur ein dokumentiertes Leben ist ein echtes Leben. Das Jetzt ist immer schon vorbei, seine Existenz muss nachgewiesen werden. Und dann muss permanent Neues hinterhergeschoben werden, sonst ist man im Aktualitätsstream schon wieder heruntergerutscht – nur die oberste Buchungszeile zählt, wie bei Mikrotransaktionen in der Finanzwelt.

 

 

Olga Flor, geboren 1968 in Wien, aufgewachsen in Wien, Köln und Graz, studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich. Seit 2004 freie Schriftstellerin. Zuletzt erschienen die Romane Die Königin ist tot (Zsolnay, 2012) und Kollateralschaden (Zsolnay, 2008).

Katrin Hillgruber lebt als Literaturkritikerin in München. Sie schreibt unter anderem für den Tagesspiegel und die Frankfurter Rundschau. 

Dieser Beitrag ist ursprünglich in VOLLTEXT 2/2015 erschienen.

Olga Flor: Ich in Gelb.  Roman.
Jung&Jung, Salzburg 2015.
216  Seiten, € 22 (D) / € 22 (A).