Dass der Leipziger Buchpreis in diesem Frühjahr an den Lyriker Jan Wagner ging, galt offensichtlich nicht nur dessen Band Regentonnenvariationen an sich, sondern war zugleich als Signal intendiert: Mit dem allgemeinverträglichen Gedichtband sollte die Lyrik als – so darf man wohl sagen – heutige Unter- oder Nebengattung der deutschsprachigen Literatur geehrt werden. Zynischer formuliert ließe sich gar vermuten, es ging dabei weniger in nobler Absicht darum, die einstige Königsdisziplin der Poesie wieder stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit zu rücken, als vielmehr einem in kommerzieller Hinsicht kurz vor dem Absterben stehenden Segment des Buchmarkts belebende Impulse zu verpassen – vielleicht zugleich als Notfallmaßnahme für die aussterbende Spezies des Poeten?
Der backlash gegen die als populistisch geschmähten Naturgedichte von Wagner, welche von Weidenkätzchen und Würgefeige, von Olm und Otter berichten, ließ nicht lange auf sich warten.
Die Rechnung ging jedenfalls auf: tausende Exemplare gingen über den sprichwörtlichen Ladentisch. Ebenso ließ – wie absehbar – auch der backlash gegen die als populistisch geschmähten Naturgedichte von Wagner, welche von Weidenkätzchen und Würgefeige, von Olm und Otter berichten, nicht lange auf sich warten. Wahre Dichtung sieht offenkundig anders aus. Aber wie denn? Und von wem? Poeten vom Format eines Hölderlin, Trakl, Celan sind derzeit ja kaum auszumachen. Das einstige Wunderkind Durs Grünbein ist in die Dichterjahre gekommen und sich heutzutage nicht einmal zu schade, in Reaktion auf eine wenig schmeichelhafte Rezension ein als Gegendarstellung gedachtes Protestschreiben an die FAZ zu senden, welches die Zeitung erbarmungslos als Leserbrief abdruckte. Thomas Kling wiederum, der wohl letzte wirklich bedeutende Lyriker der Gegenwart, ist schon seit zehn Jahren tot. Freilich, es gibt noch die alte Garde, Wulf Kirsten oder Friederike Mayröcker etwa, und in Marcel Bayer haben wir einen bemerkenswerten Autor, der in Lyrik wie Prosa versiert ist. Selbst was den Nachwuchs betrifft, soll man sich keine Sorgen machen: In der vielgepriesenen Ann Cotten hat der Literaturbetrieb eine Lyrikerin gefunden, die durch ihr Profil bestens ins mediale Inszenierungsschema passt: geboren in Iowa, Studium in Wien, lebt und schreibt in Berlin. Das klingt nach einem veritablen Erfolgsrezept für Lyrik von heute – international, kämpferisch multikulturell und feministisch. Doch selbst die enthusiastischsten Anpreisungen der Wortkunst von Cotten et al. vermögen über eines nicht hinwegzutäuschen: Gegenwartslyrik ist und bleibt ein Minderheitenprogramm.
Heuer im März erschien ein schmaler Band mit dem schlichten Titel Die Gedichte. Das schwarze Taschenbuch dürfte aus dem Stand mindestens so viele Exemplare verkauft haben wie Wagners zeitgleich ausgezeichneter Lyrikband, und dies obwohl das Buch lediglich zwei bereits veröffentlichte Gedichtsammlungen zusammenführt. Der fragliche Dichter nämlich heißt Till Lindemann und ist Sänger der Brachialmusiker Rammstein, mithin also der international wie (so steht zu befürchten) auch national erfolgreichsten Band Deutschlands. Die Lyriksammlung wird folglich ihre Käufer unter den unzähligen Fans der Band finden, und dies nicht trotz, sondern gerade wegen der einhelligen Häme, die von Bild über Spiegel bis SPEX über die lyrischen Notate ausgegossen wurde.
Nebenerwerb
Lindemanns priapeische Dichtungen über Analsex und Fellatio mit Totenschädeln sind in einem renommierten literarischen Verlag herausgekommen. Das passt ganz zum gegenwärtigen Trend, dass Musiker, die deutlich weniger erfolgreich sind als der Rammstein-Barde, nun primär aus finanziellen Gründen zur Feder greifen, um die schöne Literatur zur (Neben-)Erwerbsquelle zu machen, da viele angesichts des desolaten Zustands der Musikindustrie mit CD-Verkäufen und Konzerteinnahmen allein keinen Lebensunterhalt mehr bestreiten können.
Die Liste der singenden Nachwuchsautoren ist lang, seit Sven Regener (Element of Crime) mit Herr Lehmann (2001) samt der nachfolgenden Bücher demonstriert hat, dass erfolgreiche Popmusiker zu bestsellernden Schriftstellern mutieren können, weil sie im Gegensatz zu regulären Debütanten schon eine Fanbasis haben.
Viele Verrisse
Während der letzten paar Jahre erschienen u.a. Bücher von Thees Uhlmann (Tomte), Frank Spilker (Die Sterne), Markus Berges (Erdmöbel), Christiane Rösinger (Lassie Singers), Judith Holofernes (Wir sind Helden), sowie, aus Österreich, Hans Platzgumer und Austrofred. Besonderes Aufsehen erregte Anfang dieses Jahres das Romandebüt Otis von Blumfeld-Frontmann Jochen Distelmeyer. Dies jedoch vor allem weil das Buch erstaunlich misslungen war. Die vielen Verrisse verwiesen gerne darauf, dass ein Crossover vom Schreiben intelligent-anspruchsvoller Songtexte zu einer gelungenen Erzählprosa keineswegs selbstverständlich ist, nicht einmal im Fall eines so belesenen und literarisch kundigen Musikers wie Distelmeyer (dessen Bandname ja nicht von ungefähr eine Kafka-Anspielung darstellt).
Schlagende Gegenbeispiele allerdings gibt es durchaus, nur sind sie nicht bei uns zu finden, sondern in den beiden Mutterländern der Popmusik. Denken wir nur an die Memoiren von Smiths-Sänger Morrissey. Dass er nicht nur ironische Songtexte, sondern ebenso literarische Prosa zu schreiben versteht, demonstriert Morrissey bereits am Beginn seiner 2013 vorgelegten Autobiografie: „My childhood is streets upon streets upon streets upon streets. Streets to define you and streets to confine you, with no sign of motorway, freeway or highway.“ Schade nur, dass er sich nach bestechenden hundert Seiten dann hauptsächlich in Gehässigkeiten gegen seine Ex-Bandkollegen verbeißt; dabei zeigt er sich nicht nur von einer recht unsympathischen Seite, auch die Qualität seiner Prosa geht dabei den Bach runter.
Lindemanns priapeische Dichtungen über Analsex und Fellatio mit Totenschädeln sind in einem renommierten literarischen Verlag herausgekommen.
Auf literarisch konsistent hohem Niveau hingegen bewegt sich
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