Chancengleichheit als leeres Versprechen

Deniz Ohdes Streulicht und die Frage sozialer Gerechtigkeit. Von Uwe Schütte

Online seit: 5. Februar 2021
Deniz Ohde © Suhrkamp
Deniz Ohde: „Eine Wand, die meine Freunde nicht sehen konnten und die bewirkte, dass ich nicht dazugehörte, sosehr ich auch wollte.“ Foto: Suhrkamp Verlag

Hört ihr die Signale? Es sieht nämlich in der Literatur fast nach der Rückkehr eines Themas aus, das man bereits als überholt beerdigt hatte: die soziale Ungleichheit. Kündigt sich also im Erfolg der Bücher von Didier Eribon, Annie Ernaux und Édouard Louis auf dem deutschsprachigen Markt sowie der Aufmerksamkeit, die beispielsweise Christian Baron für den Roman Ein Mann seiner Klasse oder Daniela Dröscher für ihre Memoiren Zeige deine Klasse erhielten, eine Repolitisierung in der Literatur an? Immerhin benennen die beiden deutschen Bücher die „Klassenfrage“ bereits klar im Titel als den Kern des Problems.

Bemerkenswerterweise ist dem Buch jeder erhobene Zeigefinger, jeder polemische Ton fremd.

Exemplarisch für die Wiederkehr der Frage nach Chancengleichheit in unserer Gesellschaft darf sicherlich der unisono gefeierte Debütroman von Deniz Ohde gelten. Und dies mit vollem Recht: Streulicht ist eines der eindringlichsten Bücher seit langer Zeit. In poetischen Bildern und präziser Sprache gelingt es Ohde, die Kindheit und Jugend einer Außenseiterin in einer Industriesiedlung nahe Frankfurt zu erzählen. Eine Arbeiterkinderzählung, die viel mit ihren eigenen Erfahrungen zu tun hat, ohne dabei reine Autobiografie zu sein. Bemerkenswerterweise ist dem Buch jeder erhobene Zeigefinger, jeder polemische Ton fremd.

Ohdes Ziel war etwas anderes als Anprangerung: nämlich literarisch zu ergründen, wie das stets präsente Gefühl der Unzugehörigkeit einer jungen Frau mit deutschem Proletariervater und türkischer Migrantenmutter sich auf ihr seelisches Innenleben auswirkt. Dem Roman gelingt es hervorragend, das abstrakte Herrschaftsprinzip struktureller Diskriminierung in einer Vielzahl von schlaglichtartigen Szenen begreifbar zu machen. So etwa, wenn die Erzählerin schmerzhaft feststellt, dass alle ihre Freundinnen zur Einschulung pinke Marken-Ranzen bekommen; diese Tornister tragen natürlich jeweils deren Namen „in runden weißen Lettern, und ich wollte den gleichen haben, obwohl mein Name nicht dabei war, nicht bei den Schlüsselanhängern und Nummernschildern aus dem Kaufhaus, nicht mal bei den Namenstassen, die mein Großvater für jedes Familienmitglied im Schrank stehen hatte“.

Literaturmarketing

Der Erfolg von Streulicht erklärt sich freilich nicht allein aus der literarischen Qualität des Buchs. Abgesehen davon, dass