Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Von Ursula Engel.

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 8. September 2023

Im Juli 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, lässt Raphaela Edelbauer den siebzehnjährigen Pferdeknecht Hans aus Tirol zum ersten Mal in seinem Leben in der lebendig brodelnden, überfüllten Weltstadt Wien ankommen. Hans will die Psychoanalytikerin Helene Cheresch konsultieren, weil er weiß, dass sie sich mit Träumen beschäftigt, sogar an einem „Traumcluster“ arbeitet. Woher kennt Hans derartige Details? Das „Traumcluster“ wird im Roman nicht einleuchtend erklärt, also ist es nicht so wichtig. Hans hat jedenfalls eine unerklärliche „Gabe“: er kann Gedanken anderer Menschen lesen und denkt, was ein anderer Mensch wenig später ausspricht. Erklärt sich daraus aber ein Leidensdruck, der Hans dazu bringt, seine Heimat zu verlassen und nach Wien zu fahren?

So wenig plausibel es erscheinen mag, dass Hans als ungebildeter Landarbeiter über derartig weitreichende Informationen verfügen kann, auch wenn er regelmäßig von einem Vikar unterrichtet wurde, so sehr verwundert auf jeden Fall die salonfähige Sprache, die er mühelos benutzt. Ist es anzunehmen, dass Jugendliche zu Beginn des letzten Jahrhunderts so geschraubt geredet haben? Es ist eine gelehrte, wenn nicht gar gedrechselte Sprache, mit der er sich zum Beispiel Helene Cheresch vorstellt: „Ich bin nach Wien gekommen, weil ich eine Gabe habe, an deren Beschreibung Sie und an deren Ergründung ich größtes Interesse habe.“

Von der Psychoanalytikerin wird dieses Phänomen als „Gedankenecho“ abgetan, womit es nicht verständlicher wird. Es ist jedenfalls keine der bekannten Neurosen, wie sie 1914 längst von Freud und anderen ausführlich analysiert worden waren. Es wird auch kein Leidensdruck mitgeteilt, unter dem Hans litte. Es handelt sich also bei Helen Chereschs Unternehmen nicht um eine Psychoanalyse lege artis. Schade, denn die Psychoanalyse und ihre Kritik gehört Anfang des letzten Jahrhunderts unbedingt zu Wien.

Bei Helene Cheresch lernt Hans zwei Jugendliche kennen, die sofort seine Freunde werden, man weiß nicht, wie das so schnell funktioniert. Adam, der Bratsche spielt, gehört einer wohlhabenden, adeligen Offiziersfamilie an. Klara, stammt aus dem Lumpenproletariat, ist Mathematik-Doktorandin und forscht zu inkommensurablen Zahlen. Mit beiden zusammen erkundet Hans Wien. Seine Touren dienen Edelbauer zur detailreichen Beschreibung wichtiger Facetten der modernen Großstadt. Ergänzt werden diese Episoden durch historische Darstellungen des allwissenden Erzählers, die informativ und interessant sind. So hört Hans, wie Adam sich als Bratschist an einer Probe von Schönbergs 2. Streichquartette beteiligt, was durch eine Erzählung über die Aufregung, die bei der ersten Aufführung dieses Quartetts entstanden war, ergänzt wird. An anderer Stelle findet sich eine ausführliche Beschreibung der Pest in Wien. Die Frauenbewegung wird auch deutlich, es wird eine lesbische Verführungsszene inszeniert.

Es folgt ein Essen bei Adams Eltern, wo unter Staatsmännern mit ihren Gattinnen eine lebhafte Diskussion über den Krieg stattfindet. Sodann lernt Hans in der Kaschemme „Trabant“ Wiens Unterwelt kennen: Prostituierte, Schwule, Lesben und Gauner.

Edelbauer beschreibt bilderreich und wortgewaltig die Atmosphäre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Wien. Sie macht das Durcheinander gesellschaftlicher Schichten und der Geschlechterverhältnisse deutlich, ebenso wie künstlerische Kontroversen und wissenschaftliche Debatten. Das Unbewussten und der Traum sind allerdings nicht überzeugend charakterisiert. Am ehesten könnte man deren Beschreibung als ironisierende Kritik der Psychoanalyse ansehen. Gehört dies 1914 vielleicht auch zur Stimmungslage?