„Das Geld wandert ab aus diesem Beruf“

Ulrike Draesner im Gespräch mit Cornelius Hell über die zeitgenössische Dichtung und die Schwierigkeiten bei ihrer kritischen Würdigung.

Online seit: 23. September 2016

CORNELIUS HELL In der Jurydiskussion beim Meraner Lyrikpreis war diese Jahr einmal die Rede von aussterbenden Tieren und von der Lyrik als aussterbender Gattung – sehen Sie das so, befürchten Sie das?

Ulrike Draesner
Ulrike Draesner: „Man sieht sich beim Schreiben vor einem Thesaurus von Wissen, das abgespeichert ist in Formen.“
(Foto: Susanne Schleyer)

ULRIKE DRAESNER Ja und nein. Zum einen gibt es eine lebendige Lyrik-Schreibszene, viele Töne, sehr gute deutschsprachige Lyrik aus vielen verschiedenen Quellen, von ganz unterschiedlichen Altersgruppen, die sich aneinander reiben. Auch der Zustrom zu Festival-Lesungen ist bekanntlich immer noch gut, und natürlich trägt das Internet noch einmal ganz anderes zur Möglichkeit bei, Lyrik überhaupt wahrzunehmen und zu rezipieren. Doch im Buchwesen sieht es traurig aus: Die tatsächlichen Buchverkäufe halten in keiner Weise mit, Lyrik wird in den großen Verlagsprogrammen zunehmend marginalisiert, sie wird manchmal nur noch mitverlegt, weil ein Autor andere Genres bedient, sie wandert ab, und das Geld wandert ab aus diesem Beruf.

HELL Lyrik wird auch kaum mehr rezensiert, sie wird kaum noch diskutiert.

DRAESNER Und wenn, dann eben digital, im Internet, die Lyrikcommunity muss sich ihrer selbst annehmen. Und wenn es in diesem Segment des Literaturbetriebs kein Geld mehr gibt, dann gibt es auch kein Geld für professionelle Rezensionen. Das heißt, die innere Köcheltemperatur steigt, zunehmend sprechen Lyriker über Lyriker, ein In-Talk, ein gruppendynamischer Prozess, der weder den Autoren noch der Gattung gut tut – sie braucht auch Anstöße von außen, den fremden Blick.

HELL Und die Lyrik selbst: Ist sie in Zeiten von Wikipedia in einer anderen Situation? Sie haben auf die vielen kulturellen Versatzstücke hingewiesen, die sich gerade auch in den Gedichten in Meran gezeigt haben.

DRAESNER Ja, ich denke, dass sich durch die Verfügbarkeit von Daten jeglicher Art etwas verändert im Gleichklang mit zahlreichen anderen Lebens- und Wissensbereichen. Man geht gerne davon aus: Man kann ja alles nachschauen, alles ist verfügbar, ich gebe etwas ein, schon erscheint die Information, oder „die Bedeutung“. Und natürlich kann man als Autor, egal ob man nun Prosa, Drama oder Gedichte schreibt, damit arbeiten – in jeglicher Hinsicht.  Die spannende Frage dahinter: Wie gehen wir mit Wissen, mit Wissensformationen um? Das sieht man auch hier in Meran in den Texten: man zitiert, fälscht, imitiert, verlinkt. Das Publikum mag nachschauen, oder auch nicht. Kommt es darauf an? Welche Rolle spielen Quellen oder Referenzen? Wir scheinen süchtig nach ihnen, süchtig nach dieser Art von „Wirklichkeit“, die Gedichte immer aufgelöst und umspielt haben – zugunsten einer anderen, sprachlich induzierten Realität des Sprachlosen, Nichtsprechbaren. Die Veränderungen in den Paradigmen von Verfügbarkeit und Wissen verändern, das kann nicht anders sein, auch diesen anderen Bereich des Sprechen-Nichtsprechens. Unter diesem Aspekt fand ich hier in Meran jene Texte, die formal hybrid gebaut sind, am spannendsten. Ich verstehe sie als Ausdruck einer Suche nach Sprechmöglichkeiten in einem sich ebenfalls zunehmend auflösenden Gattungskosmos.

HELL Verbindliche Formen gibt es ja schon lange nicht mehr. Aber mittlerweile ist auch der traditionelle Formenspeicher wieder offen und man kann sich daraus bedienen. Heißt das, dass jeder seine Form individuell erfinden muss?

DRAESNER Für mich hat es das immer geheißen beim Gedichte-Schreiben: Der ganze Kanon steht zur Verfügung; und das wird durch die Globalisierung der Welt auf schöne Weise komplexer, weil auch ganz andere Formen aus anderen Kulturen entdeckt werden. Das heißt, man sieht sich beim Schreiben vor einem Thesaurus von Wissen, das abgespeichert ist in Formen – und zugleich vor die Herausforderung gestellt, einen Weg zu finden mit Diesem-Text, der da im Entstehen ist, von dem man im guten Fall noch gar nicht weiß, was er wird. Ich würde sagen, dass das ein genuiner Kern von literarischem Schreiben ist, egal welcher Art: die Form, die Architektur des Ganzen, die Rhythmik der Sprache kommen überhaupt erst im Akt des Schreibens zustande. Natürlich gespeist von dem Wissen und der Kenntnis dessen, was man gelesen hat und was einen umrauscht, aber neu erfunden gehört.

HELL Wie geht man da als Jurorin vor? Sind die Texte dann überhaupt vergleichbar? Gibt es noch Maßstäbe außerhalb der Texte und des eigenen Anspruchs der Autorinnen und Autoren, aufgrund derer man sie beurteilen kann?

DRAESNER Ich versuche, mir meine eigenen Vorlieben und Geschmacksmomente möglichst transparent zu machen. Wenn man nicht über sie nachdenkt, entscheiden sie – es kommt also darauf an, Strategien des Bewertens zu finden und klug anzuwenden, die ihren Einfluss möglichst minimieren. Ich orientiere meine Urteile an Leitfragen, die drauf zielen, die Maßstäbe der Beurteilung aus den zu beurteilenden Texten selbst abzuleiten statt aus mir. Entscheidend ist, was die Gedichte selbst versuchen, wo und wie sie ansetzen – und dann ihren eigenen Anspruch umsetzen. Wer möchten sie sein, wie machen sie das. Eine andere Frage für mich ist: Wie gehen Form und Sprachlichkeit zusammen – in welchem Verhältnis stehen sie, wie wird mit den Möglichkeiten der Spannung zwischen ihnen umgegangen, wie bewusst ist das gemacht und inwiefern begleitet ein Gedanke, eine innere Notwendigkeit diese Form so, dass das Gedicht dadurch gestärkt wird.

HELL Sie haben in der Jury-Diskussion ein interessantes Kriterium genannt: die Funktion des Endes.

DRAESNER Gedichte und Short Storys sind besonders end-empfindlich. Es gab in Meran einige Texte, an denen auffiel, wie gekonnt die Enden gesetzt waren, sodass sie wirklich von unten her die vorangehenden Verse noch einmal trugen und stützten. Ein Kriterium: wie liest das Gedicht sich beim zweiten Mal mit der Kenntnis des Endes? Wächst etwas sozusagen von unten durch das Gedicht hindurch und schließt es zu einer Einheit zusammen? Das muss nicht immer so sein, selbstverständlich gibt es auch die Schönheit des verklingenden Endes, aber natürlich sind Enden, Titel, Anfänge und Wiederholungsmuster Aufmerksamkeitspunkte beim Hören wie Lesen.

HELL Thorsten Ahrend hat in der Jury-Diskussion noch ein Kriterium genannt, das sehr plausibel klingt: Geschieht in einem Gedicht eine bloße Verrätselung oder strahlt es ein Geheimnis aus. Das Wort „Geheimnis“ ist vielleicht ein altmodisches Wort, aber Anna Achmatowa hat es sehr gemocht. Können Sie mit diesem Gegensatz etwas anfangen?

DRAESNER Das ist ein alter Topos der Literaturkritik. Rätsel und Geheimnis sind zwei sehr unterschiedliche Dinge, und ich fühle bei einem Rätsel nichts außer einen intellektuellen Kitzel, und natürlich kann man manchmal auch mit Gewinn und bestem Unterhaltungswert ein Sprachwitz-Rätsel einbauen. Aber da gibt es eine Lösung und fertig. Das hat für mich mit Gedichten in keiner Weise zu tun. Geheimnisse hingegen sind Räume, nicht punktuelle Referenzen. Geheimnisse sind kein Ziel. Geheimnis bedeutet Verunsicherung, Nicht-Wissen und dass durch die Verdichtung von Sprache, Materie und Thema tatsächlich die Geheimnishaftigkeit unserer Welterklärungsversuche wieder fühlbar wird.

Das Gespräch fand anlässlich des Lyrikpreises Meran im Mai 2016 statt.

 

Ulrike Draesner, geboren 1962 in München, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt (Luchterhand, 2014) und der Gedichtband Subsong (Luchterhand, 2014).

Cornelius Hell, geboren 1956 in Salzburg, lebt als Übersetzer, Kritiker und Essayist in Wien.

Quelle: VOLLTEXT 2/2016

Online seit: 23. September 2016