Dringliche Stoffe

Von Ulrike Draesner

Online seit: 19. Februar 2024

Was aktuell geschieht, umgibt die biografische Person, die ich bin, und damit auch jenes Wesen in mir, das „die Autorin“ heißt. Der Elfenbeinturm war mir schon immer suspekt. Als Kind dachte ich, er bestehe aus den Beinen von Elfen. Dann verstand ich, dass er eine große Zahl toter Elefanten voraussetzte.

Meine Texte entstehen aus Leben – beobachteten, vergangenen, zukünftigen, fantastischen, erzählten und wiedererzählten Leben. Der Weltbezug ist essenziell. Nicht, weil ich Wirklichkeit brauche, um sie eins zu eins zu wiederholen, sondern weil ich dank anderer Menschen lebendig bin. Und aus dieser Lebendigkeit heraus schreibe.

Die Frage, wie etwas zu literarischem Stoff wird, führt in die Irre. Sie suggeriert, dass da „etwas“ existiert. Die Autorin greift dieses „etwas“ auf, wir lesen es als Buch. Geschieht etwas Einschneidendes – der Mauerfall, 9/11 –, liest man bald, dass nun ein Roman erwartet werde zum Thema – zum Artensterben, zur Pandemie, zu Verschwörungstheorien. Wer dies fordert, stellt sich literarisches Schreiben nach dem Straßenmodell vor: Wie Elefantendung liegen die literarischen Stoffe auf dem Fahrweg, sie müssen nur aufgegriffen werden.

Heute, über zwanzig Jahre später, hat die Zeit meinen Roman Mitgift eingeholt.

Einen Roman zu schreiben, bedeutet vier oder fünf oder zehn Jahre Hingabe. Es bedeutet Unsicherheit. Literarisches Schreiben ist mit Suche verbunden. Es frisst Familien, Freund- schaften, Entspannung. Um sich darauf einzulassen, bedarf es einer inneren Dringlichkeit. Ich könnte auch sagen: Es braucht Unruhe, Überzeugung, ein Feuer, eine Hoffnung – ein „dem komme ich nicht aus“.

Meist ist „der Stoff“ nicht mehr als eine – Ahnung. Ich weiß nicht, „worum es geht“. Am Ende wird der gesamte Roman mein Versuch sein, dieses „es“ zu greifen zu bekommen. Um die Jahrtausendwende schrieb ich an der Geschichte zweier Schwestern. Sie wurde erstmals 2002 veröffentlicht: mein zweiter Roman. Ich habe ihn für eine Neuausgabe vorsichtig überarbeitet. Habe gestrafft, wo es mir möglich schien – auf der Suche nach Klarheit, nach Essenz. Mitgift ist ein Buch der Neunzigerjahre, das bei Erscheinen nicht in die Zeit passte. Es schaut nach vorn, sieht genau hin. Die systemische Gewalt, die unseren Umgang mit Sex und Gender durchzieht, ist sein Thema. Vor 25 Jahren, als ich an diesem Roman arbeitete, kannte ich den Begriff der systemischen Gewalt nicht, sehr wohl aber das Phänomen. Den Druck. Die Konsequenzen.

Anfangs wusste ich nur: Meine beiden Schwestern verstanden sich nicht sonderlich gut. Neid, Konkurrenz und Liebe zueinander trieben sie um. Doch der Text zerfaserte. Erst mit der Zeit, durch die Arbeit selbst, manifestierte sich in einer zwischen ihren Körpern aufsteigenden Geschichte, was ihr Ver- hältnis tatsächlich bestimmte.

Eine der Schwestern war von Geburt an, genetisch und sichtbar körperlich, nicht binär. Die Mensch-„Reparaturen“ begannen sofort. Mit Hormongaben und Operationen wurde eine „Sie“ erzeugt, deren Geschichte man lange vor ihr und der Schwester verbarg. Auch für mich war dieser „Kern“ der Schwesternbeziehung eine Überraschung.

Der Verlag zeigte sich irritiert, das Publikum ebenfalls. Der Roman gewann einen Preis, die Verkaufszahlen blieben elend. Auf das Cover wollte man eine Narrenfigur stellen, im Schel- lenkostüm. Ich war entsetzt, zum Glück sicherte mir mein Buchvertrag ein Vetorecht.

Ich erzähle: eine Körpergeschichte.

Gegen das Märchen, dass eine Person, die abweicht von der Norm, uns nichts anginge. Gegen das Märchen, dass Abweichungen aus dem Hetero-Spektrum aus einem Mangel resultierten, einer psychischen oder physischen Schwäche, einer christlichen „Sünde“.

Heute, über zwanzig Jahre später, hat die Zeit meinen Roman Mitgift eingeholt. Man sieht ihn als das, was er ist: ein früher Text über eine diverse Person, die auf dem Recht besteht, ihre Diversität zu leben. Heute verstehe ich mich selbst besser, heute beleuchtet der Diskurs auch für mich, welcher Spur ich damals folgte. Wie ich sie aufgenommen hatte, weiß ich nicht. Doch der Druck, weiblich zu sein, der Druck, einem Bild zu entsprechen, hatte, angeblich „naturgemäß“, auch mein Leben bestimmt.

Der Dringlichkeiten gibt es viele. Und stets neue.

Innere Dringlichkeit indes tendiert zum Singular.

Auf die Dringlichkeiten der Zeit mag man als Autorin hie und da reagieren. Literatur, nicht im Elfenbeinturm, möchte wirksam sein. Relevant indes ist sie auf verschiedene Weisen. Meine Erfahrung sagt: Deine tiefsten Werke entbinden sich aus einem anderen Grund, einer dir selbst entzogenen Quelle. Wenn ein Roman sich Jahrzehnte später mit dem äußeren Diskurs vereint und Menschen einer anderen Zeit etwas zu geben vermag, sprichst du von Glück.

Dringlichkeit: Dass da „etwas“ war oder ist, was nach außen treten, sprich: in Sprache zu fassen sein will. Was zu übersetzen ist. Bis es anrührend und messerscharf, intensiv, rhythmisch, sinnlich fühlbar und gedanklich auf der Seite steht. Als etwas Neues, Eigenes in der Welt.

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Ulrike Draesner, geboren 1962 in München, ist Schriftstellerin und Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zuletzt erschien der Roman Die Verwandelten (Penguin 2023).

Ulrike Draesner: Mitgift. Roman
Penguin, München 2024.
384 Seiten, € 14 (D) / € 14,40 (A)