Die Angst des Affenforschers vor den Menschen

Ulrike Draesner im Gespräch mit Andreas Puff-Trojan über ihren Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Online seit: 24. Februar 2022

Umfangreich ist Ulrike Draesners neuer Roman – und er springt auch noch über auf eine für das Buch eigens eingerichtete Website. Erzählt wird der Prosatext in neun Stimmen von Angehörigen der Familie Grolmann und verschiedenen Generationen einer polnischen Familie, die 1945 von Lemberg nach Breslau-Wrocław vertrieben wurde. Die Zwangsmigrationen von Ostpolen in das schlesische Westpolen und aus Schlesien nach Westdeutschland, etwa nach Bayern, spiegeln einander und öffnen den ambivalenten Raum „deutsches Leid“ sowohl historisch als auch aktuell politisch. Doch auch das Thema der Affenforschung hat seinen zentralen Platz in Draesners Roman.

VOLLTEXT Ihr neuer Roman hat die Vertreibung aus Schlesien am Ende des Zweiten Weltkriegs, Affenforschung, die Macht der Erinnerung und Generationskonflikte zum Thema. – Was hält den Roman zusammen?

ULRIKE DRAESNER Zum einen: ein Leben. Es gehört Eustachius Grolmann, Jahrgang 1930, geboren in einer schlesischen Kleinstadt nicht weit von Breslau. Zum anderen: die Frage nach der Möglichkeit, über Traumatisierungen und ihre Folgen zu sprechen. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage danach, wie Zwangsmigration sich über Generationen hinweg in Familien auswirkt und wie stark unsere Gesellschaften bis heute davon bestimmt werden.

Viele Vertriebene lebten in ihrem neuen Zuhause, aber Teile ihres Inneren kamen dort niemals an.

VOLLTEXT Eustachius Grolmann ist mit Haut und Haar Affenforscher. Selbst im zarten Alter von „zweiundachtzigdreiviertel“ Jahren hält der Professor sich noch zwei Bonobos in seinem Garten. Diese „Affenliebe“ Grolmanns hat aber einen Hintergrund. Sie hängt mit seiner Vertreibung aus dem schlesischen „Paradies“ zusammen.

DRAESNER Ja. Eustachius nimmt aus der Flucht vor allem eines mit: Angst vor Menschen. Er hat gesehen, was sie einander anzutun vermögen. Die Frage nach dieser Aggression bestimmt seine Berufswahl: Er studiert Medizin, hält die Nähe zum Menschen nicht aus, wird Menschenaffenforscher. An unseren nächsten Verwandten fragt er nach dem Verhältnis von Instinkt und freiem Willen, von Gehorsam und Mordlust, von Identität und Äußerung.

VOLLTEXT In elf Kapiteln lassen Sie in Ich-Form neun verschiedene Personen zu Wort kommen. Jeder Figur verleihen Sie eine ganz eigene Stimme – den Alten, die Krieg und Vertreibung miterlebt haben, den heute beruflich im Leben Stehenden und der jungen Generation, die zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt ist. Was hat es mit dieser eigenwilligen Struktur auf sich?

DRAESNER Das Erzählen der Sieben Sprünge ist mehrstimmig und es folgt nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Logik der Figuren. Der Roman begann für mich mit einer Stimme: Lilly, Eustachius‘ Mutter, spricht auf den letzten fünf Kilometern der Flucht im Hochsommer 1945. Dieser Anfang von Kapitel vier entstand vor neun oder zehn Jahren. Das Thema erschreckte mich, ebenso die biografische Nähe. Ich schrieb einen anderen Roman, stellte einen Essayband fertig, doch die Fragen, die aufgetaucht waren, ließen mich nicht mehr los. Die einzelnen Stimmen musste ich mir in der Folge erarbeiten. Ich wollte keine Rollenprosa schreiben, es konnte nicht darum gehen, „Zaubertricks“ anzuwenden, um die Figuren plakativ voneinander zu unterscheiden. Der Kern liegt dort, wo sie wahrnehmen, denken und empfinden, also darin, wie das jeweils einzelne Ich-Sein die Sprache bestimmt.

VOLLTEXT Sie sprachen gerade von der „biografischen Nähe“. Was hat das mit den Stimmen im Roman zu tun?

DRAESNER Die Erinnerung an meine schlesischen Großeltern und ihre Vertriebenenfreunde half mir beim Schreiben. Ich war als Kind sehr schüchtern, saß oft stumm bei den Erwachsenen, manchmal am, manchmal unterm Tisch, und hörte zu. Sprachklang, Gefühle, Zwischentöne – das alles tauchte bei der Arbeit am Roman wieder auf. Irgendwann fand ich ein Bild für das, was ich tat: Ich lehnte mich in meine Figuren hinüber. Mancher Ton entstand leicht, andere Töne sperrten sich lange. Ich brauchte den gesamten Schreibprozess einschließlich aller Recherchen, um jeder Figur überhaupt etwas wie Stimme, eine gebrochene Stimme, geben zu können. Das Projekt kippte immer wieder an diesem Punkt: Sprechen und Schweigen. Das gilt sowohl als Thema für den Roman als auch für den Schreibprozess.

VOLLTEXT Mit dem Thema der Vertreibung Deutscher aus Schlesien, also aus jetzigem großteils polnischem Gebiet, rühren Sie in einer Wunde, die heute noch nicht ganz verheilt ist. Mancher Leser könnte daher vielleicht Ihren Roman falsch verstehen. Wie sind Sie mit diesem Risiko beim Schreiben umgegangen?

DRAESNER Mein Erschrecken beim Auftauchen des Themas „Flucht und Vertreibung“ hatte mit revanchistischen Tönen der letzten Jahrzehnte zu tun, die mir im Ohr klangen. Die Frage nach diesem Kontext begleitete die gesamte Entstehung der Sieben Sprünge, allemal als ich in Polen Zeitzeugen, Historiker und Politologen befragte. Sie kam wieder am Schreibtisch bei der Suche nach der Möglichkeit, einen Roman zu schreiben, dessen Fokus auf dem Nachkrieg liegt und dem es dennoch gelingt, den Kontext der deutschen Vertreibung weder beschönigend noch erstickt von den alten Fallen des Schweigens oder Anklagens mitzuerzählen. Als ich entdeckte, dass der deutsch-schlesischen Flucht von Ost nach West eine polnische Ost-West-Flucht teilweise bis in die konkreten Wohnräume hinein folgt, wusste ich, wie der Roman aussehen müsste.

VOLLTEXT Meinen Sie damit eine Art „Hintergrundbild“ des Romans?

DRAESNER Ja, auch. Nicht nationale Grenzen bestimmen den Zugriff. Erzählt wird ein Stück europäischer Geschichte, erzählt wird von Bewegungen in dem verlorenen, reichen Kulturraum namens Ostmitteleuropa. Ihn zu fühlen, intensiv zu begreifen, was die Kriege des 20. Jahrhunderts zerschlugen, war einer der wichtigen Schritte für mich. Der zweite: Die Entdeckung, wie sehr wir, gerade über die Zwangsmigrationen seit 1939, bei allen Unterschieden mit unseren nächsten östlichen Nachbarn über Gedächtnis und innerfamiliäre Trauma-Weitergabe verbunden sind. Der dritte Schritt ist eine in die Zukunft gerichtete Frage: Wie können wir diesen Grund ambivalenter Nähe fruchtbar umsetzen in das gemeinsame Staats- und Kulturwesen „Europa“.

VOLLTEXT Es kommen im Roman aber auch die Toten zu Wort, etwa Eustachius‘ Grolmanns Eltern. Ist bei Ihnen – wie beim Kirchenvater Augustinus – die Erinnerung stärker als der Tod?

DRAESNER Nichts gegen Augustinus, aber der Kirchenvater ist mir im Kontext meines Buches zu stark eingebettet in christliche Deutungsmuster. Ich denke von den Figuren, weniger von Begriffen wie „Tod“ oder „Erinnerung“ her: Ich nehme auseinander, tauche ein oder lasse eintauchen, sehe an, was „da geschieht“. Etwa, wenn Lilly versucht, sich an sich selbst vor der Flucht zu erinnern, wenn sie mit tiefem Erschrecken bemerkt, dass die Ereignisse seit dem 19. Januar 1945 dazu geführt haben, dass ihr der 18. Januar 1945 vollkommen aus dem Gedächtnis gerutscht ist, dass sie sich an den Tag zu Hause nicht erinnert, ihn nur rekonstruiert, und dass sie damit auch den Zugang zu sich selbst als Person vor der Flucht, als Ich, verloren hat. Etwas so abstraktes wie „Erinnerung“ entfaltet sich in Prozessen, halbwillkürlich, manchmal gespenstisch, dann wieder komisch. Auch die Bedeutung von Tod verändert sich, wenn wir ernst nehmen, was die Postmemory-Forschung sagt. Nämlich, dass die Weitergabe zwischen den Generationen über genetischen Transfer weit hinausgeht. Sprich: In welchen Teilen oder Anteilen leben die Erfahrungen unserer Großeltern in uns weiter? Was bedeutet es, als Körper auf der Erde anwesend zu sein – und dann nicht mehr? So war es, so erstaunlich das vielleicht anmuten mag, keine Frage, dass die Toten in diesem Roman ebenso sprechen wie die Lebenden.

VOLLTEXT Warum erscheint Ihr Roman jetzt, in einer Zeit, in der Europa doch geeint zu sein scheint?

DRAESNER Da möchte ich zurückfragen: Wann dieses Buch, wenn nicht jetzt? Jetzt, wo die Archive östlich des Eisernen Vorhanges seit gut zwei Jahrzehnten geöffnet sind – die Sichtung und Auswertung Fortschritte gemacht hat. Jetzt, wo die letzten Zeitzeugen, die sich an die Ereignisse von 1939 oder 1945 erinnern, noch leben. Jetzt, wo wir vor Herausforderungen einer globalisierten Welt stehen, in der die Fragen nach Heimat und Wurzeln neue Bedeutung bekommen – weil wir, scheint es, immer beides brauchen: Weite und Verankerung, Jetten um die Welt, auch in Datenströmen, und Sinn und Bewusstsein von Herkommen, lokale Verankerung in Tradition. Jetzt, weil wir mit Hilfe psychologischer Forschung und dank neuerer Untersuchungen zu Gedächtnis und Körpererinnerung etwas besser verstehen, auf welch vielfältige und manchmal auch erschreckend effektive Weise Erfahrungen zwischen den Generationen weitergegeben werden. Jetzt, weil wir mit dem Fortschreiten der Zeit etwas mehr inneren Bewegungsspielraum zu gewinnen scheinen. Und nicht zuletzt jetzt, weil die letzte Generation unmittelbarer Zeitzeugen nun, im hohen Alter, heimgesucht wird von den frühen traumatisierenden Erlebnissen. Menschengehirne strukturieren sich im Alter um, Vergangenes, das sich jahrzehntelang unterdrücken ließ, wird an die Oberfläche der Erinnerung und, in manchen Fällen, auch der Artikulation gespült. Jetzt, weil, um Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetikvorlesung aufzugreifen, sich verändert hat, welche Wahrheit uns zumutbar ist.

Dank neuerer Untersuchungen zu Gedächtnis und Körpererinnerung verstehen wir etwas besser, auf welche vielfältige und effektive Weise Erfahrungen zwischen den Generationen weitergegeben werden.

VOLLTEXT Sie schreiben ja nicht nur Prosa, sondern auch Gedichte. Was im Roman auffällt, ist der lyrische Tonfall. Da erhält so manche Seite im Buch eine großartige poetische Sprachaura. Andererseits könnte man auch von Pathos sprechen, das – angesichts des Themas – so manchen Leser irritieren dürfte. Inwieweit war Ihnen diese Divergenz beim Verfassen des Textes bewusst?

DRAESNER Ich folgte den Stimmen der Figuren – sie denken in ihrer Zeit und benutzen hie und da ein Vokabular, das auch damals schon pathetisch gewirkt haben mag. Pathos hat ja Funktionen: Es deckt Ängste zu, nicht „korrekte“ Gefühle. Ein Indikator also. Selbstverständlich kommt er im Roman vor. Die von Ihnen angesprochenen Romanpassagen hingegen sind eher zart und intim: Prosa in einem Auflösungszustand, der den Auflösungszustand einer Figur spiegelt. Die sich, spannungsreich, vielleicht einen pathetischen Satz vorsagt wie „durchhalten“, also eine Parole wiederholt, die dann aber eben durch den Sprachzusammenhang in ihrer Formelhaftigkeit erkennbar wird. Pathos, das sich selbst unterhöhlt, ist ein Selbstwiderspruch, es funktioniert nicht. Dieser innere Spannungsaufbau, das Widerstreiten von Form und Inhalt, ist die entscheidende Bewegung der Sieben Sprünge, das Wider-Sprechen der einen Figur an, mit und gegen die nächste.

VOLLTEXT Sieben Sprünge vom Rand der Welt ist der Titel Ihres Romans. – Wie kann, darf man ihn deuten?

DRAESNER Auf eigene Art, das fände ich am schönsten. Für mich bezieht er sich auf ein inneres Bild, das sich beim Schreiben des Romans herauskristallisierte: Da las ich so Vieles, auch so Unterschiedliches über Aufbrüche, Wege und nicht gelingendes Ankommen, dachte an die meine Kindheit bestimmenden Familiengeschichten und sah, wie Menschen gezwungen wurden, vom Rand ihrer Welt zu springen – in ein Nichts, oder etwas, das ihnen so erschien. Für viele von ihnen schien das zu einer Spaltung geführt zu haben: Sie lebten in ihrem neuen Zuhause, aber Teile ihres Inneren kamen dort niemals an. Als setzten die Flüchtlinge die Füße nicht richtig auf den Boden, als müsse für den Rest ihres Leben etwas im Sprung verharren. Im Roman erzählen sechs Vertriebene ihre Geschichte, es fehlt also ein Sprung. Er findet ganz am Ende statt mit der Website www.der-siebte-sprung.de. Hier springt der Roman selbst – aus sich heraus, in ein anderes Medium hinein. Die Website ist Teil des Projekts Sieben Sprünge. Sie macht etwas sichtbar wie den Fadenverlauf des Romans, den Stimmenraum, aus dem er kommt, Arbeitsprozesse. Sie bietet eine Reise an, unter anderem in einem Lexikon reisender Wörter, das aus inzwischen über neunzig Einträgen besteht. Wer möchte, kann mir über die Rubrik „Selbst-Erzählen“ ein Wort nennen und sich dazu einen Lexikonbeitrag wünschen.

VOLLTEXT Auf www.der-siebte-sprung.de kann man sich aber auch mit einer eigenen „Geschichte“ einschreiben. Was ist das Ziel Ihrer Website in Bezug zum Buch?

DRAESNER Zum einen ganz pragmatisch: Ich möchte mit der Website Zugang zu Recherchematerial insbesondere auch aus Polen bieten, das Lesern vielleicht im Rahmen ihrer eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema weiterhilft. Zum anderen schließt die Website den konzeptionellen Bogen. Der Roman stammt aus einem Raum, den ich inzwischen „das unsichtbare Wohnzimmer“ nenne. Gemeint ist die Hochparterrewohnung meiner schlesischen Großeltern in München-Schwabing, immer kühl und halbdämmrig. Dort, zwischen billigen 50er-Jahre-Möbeln, auf braungrauen Sesseln, trafen sie sich mit ihren neuen Freunden, die allesamt Vertriebene waren. Man hatte sich in München kennengelernt, aß gemeinsam Streuselkuchen, sprach ungezwungener – die heimatliche Färbung durfte erscheinen – und diskutierte, ob man nach Polen fahren sollte oder nicht. Meine Erinnerungen an dieses kollektive, vor der bayrischen Außenwelt sorgsam versteckte Sprechen, bildeten den Nukleus des Romans. Das letzte Kapitel der Website, Selbst-Erzählen, eröffnet spiegelnd hierzu einen zeitgenössischen Raum kollektiven, zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit changierenden Nachdenkens.

VOLLTEXT Ihr umfangreicher Roman hat eigentlich eine versöhnliche Grundtendenz: Eustachius Grolmann, dieser eigenwillige, ja störrische Alte, verbindet eine große Zuneigung mit seiner Enkelin Esther. Und Esther scheint die Einzige zu sein, die voll und ganz hinter ihrem Großvater steht. Bedarf es mindestens zweier Generationen, bis die Alten auf „affenartige Gegenliebe“ der Jüngeren hoffen dürfen?

DRAESNER Esther hat den Humor ihres Großvaters geerbt, über die „Affenliebe“ würde sie lächeln. Ihre Liebe zu Eustachius ist anders, tiefer, wenn Sie so möchten, unvermeidlicher. Dabei sieht sie ihn durchaus kritisch. Einem Großvater ist man viel weniger „ausgeliefert“ als einem Vater, davon profitieren sowohl Esther als auch Eustachius. Wie versöhnlich das Ganze ist, wird jeder Leser selbst entscheiden. Esther ist Jahrgang 1996. Für sie stellt sich die Geschichte ihres Großvaters als Teil des großen Themas „Migration“ dar. Wir haben das 21. Jahrhundert betreten, auch mit Esthers bester Freundin, deren Familie aus Pakistan stammt, sowie mit einem Vogelforscher, der unter größtem Aufwand daran arbeitet, einer im Freien ausgestorbenen Vogelart, dem einst weitverbreiteten Waldrapp, die Südmigration wieder beizubringen – also den freien, aus dem eigenen Leben heraus bestimmten Flug.

Ulrike Draesner, geboren 1962, lebt in Berlin. Ihr Werk umfasst Lyrik, Prosa, Essayistik und Hörspiele. Zuletzt erschienen der Essayband Heimliche Helden (2013) und der Roman Richtig liegen (2011) bei Luchterhand.

Andreas Puff-Trojan, geboren 1960, ist Privatdozent für Literaturwissenschaft und Literaturkritiker in München. Soeben ist sein Essayband Gottlose Gottsucher im Sonderzahl Verlag erschienen.

VOLLTEXT 2/2014

Online seit: 24. Februar 2022

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Roman. Luchterhand, München 2014. 560 Seiten, € 21,99 (D) / € 22,70 (A).

Die Website zum Roman findet sich unter http://www.der-siebte-sprung.de.