Angefangen wird mittendrin. „Er schreckte hoch. Dunkelheit um ihn herum, kein Geräusch, nur sein Atem. Dieser Knall als das Barackendach einstürzte, beißender Rauch, ein Blitzen, rot und blau, über den Köpfen der johlenden Menge.“ Wie der Protagonist, der zu Beginn von Ulrich Peltzers Das bessere Leben aus einem Albtraum aufschreckt, braucht auch der Leser nach diesem unvermittelten Auftakt eine Weile, um sich zu orientieren, um zu verstehen, wer hier spricht und wovon er spricht bzw. wovon er gerade geträumt hat.
Oder besser, um zu verstehen, dass dieser Einstieg programmatisch ist und von ihm auf den folgenden 450 Seiten kein bequemes Versinken in der Fabel, sondern aktive Mitarbeit eingefordert wird, er soll gleichsam Kollaborateur des Textes sein bei dem Versuch, die vielen Figuren, Handlungsstränge und Details in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.
Angefangen wird mittendrin so war Peltzers Frankfurter Poetikvorlesung betitelt, die vor vier Jahren erschien, genau in der Mitte zwischen dem mittlerweile acht Jahre zurückliegenden letzten Roman Teil der Lösung, der allseits für seine zeitgemäße Form einer politischen Ästhetik gefeiert worden war, und seinem nun endlich vorliegenden Nachfolger. Diese Vorlesung war dabei weniger eine Art der Überbrückung, sie diente vielmehr dazu, retrospektiv Einblicke in Peltzers Arbeitsweise und Poetik zu geben sowie vorausblickend sein Verständnis von ‚gegenwärtiger‘ Literatur zu artikulieren. Und vor allem ihren letzten Teil, in dem sich aus den immer wieder und dabei immer anders zu stellenden Fragen nach dem Wo-Anfangen und Wovon-Erzählen die Geschichte des international tätigen Sales-Managers Jochen Brockmann zu entwickeln beginnt, verstanden viele Rezensenten als Versprechen eines Romans, von dem man Einlassungen zum Internet wie zur Weltpolitik und allgemein dem Kapitalismus als Daseinsform erwarten dürfe. Das ist viel, und vielleicht sind diese Erwartungen grundsätzlich unsinnig angesichts dessen, was ein Roman leisten kann. Doch nehmen wir sie versuchsweise für einen Augenblick ernst, wie so viele Rezensionen, die Das bessere Leben an diesem Anspruch messen wollten.
Zwei Männer Mitte fünfzig
Über das Figurentableau und seine Topografie nimmt der Roman diese und weitere große Themen unserer Zeit zumindest in sich auf. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Männer Mitte fünfzig: Der eine ist der eben genannte Brockmann, ein Manager vom Niederrhein, der seit vierzehn Jahren für eine Firma in Turin arbeitet, die Anlangen für die Beschichtung von Trägermaterialien in die ganze Welt verkauft.
Nach Jahren der Prosperität ist die Firma gerade in die Krise geraten, als wir im Jahr 2006 in den Roman einsteigen, und mit ihr Brockmann. Ein großer Deal scheitert, und mit ihm scheint auch seine Karriere als Akteur der weltweiten Finanzoperationen ins Trudeln geraten.
Der andere ist Sylvester Lee Fleming, in England geboren, mittlerweile in Carmel-by-the-Sea ansässig, aber eigentlich immer irgendwo in der Welt in Geschäften unterwegs, eine so rätselhafte wie faszinierende Gestalt, von der sich schwerer sagen lässt, was genau sie eigentlich macht.
Offiziell ist Fleming zuständig für Risikoversicherungsmanagement, aber was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung? Er ist wohl eine Art ‚Problemlöser‘, Löser von Problemen allerdings, die er gelegentlich selbst erst schafft, um sie dann mit Bestechung, Erpressung oder gar Schlimmerem wieder aus dem Weg zu räumen.
An diese beiden Figuren hat Peltzer eine Vielzahl weiterer Gestalten angelagert, Angelika Volkhart etwa, einst Russisch-Lehrerin in der DDR und nun in leitender Position bei einer großen Amsterdamer Reederei – mit ihr wird Brockmann am Ende eine wunderbar zart und psychologisch überzeugend ausgearbeitete Liebesgeschichte beginnen.
Überhaupt ist Brockmann von seinem Autor mit einer vielschichtigen Biografie ausgestattet, wir lernen seine Tochter kennen, die in Mailand promoviert, und seine Ex-Frau, die in einem umgebauten Bauernhof bei Krefeld budddhistische Exerzitien betreibt. Und über ihn kommen weitere Figuren ins Bild, wie ein ehemaliger Schulfreund, der im Berlin der Gegenwart einen Aufsatz zu Buongiorno, notte schreibt, einen Film über die Aldo-Moro-Entführung, und dabei den verlorenen politischen Hoffnungen der Studentenbewegung nachsinnt. Können wir daher durch das Zusammenspiel der biografischen Details immerhin erahnen, wie er wurde, was er ist, so ist Fleming hingegen erratischer geraten, wie es sich für einen fast diabolischen Charakter gehört.
Große Themen: Geld, Geschichte, Liebe
Aber nicht nur die Figurenkonstellation ist verzweigt, sondern auch die Zeit- oder Geschichtskonstruktion. Denn immer wieder blendet der Roman zurück in eben nur chronologisch vergangene Zeiten, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen. Diese Rückblenden zeigen beklemmende Debatten im Moskau der 1930er- Jahre, in denen vorgebliche Abweichler in Anwesenheit von Becher und Lukács ins Verhör genommen werden, ob sie der Linie der Partei immer und überall treu gewesen seien.
Und sie zeigen in fast filmischer Anschaulichkeit, wie die Nationalgarde im Mai 1970 an der Kent-University in Ohio unvermittelt das Feuer eröffnet auf unbewaffnete Studenten, die gegen den Vietnam-Krieg protestieren. Vier von ihnen sterben, unter ihnen Alison Beth Krause, direkt neben Fleming. Vielleicht lässt sich sein Charakter von hier aus erklären.
Große Themen also, Geld, Geschichte, Liebe. Doch glücklicherweise widersteht Peltzer der Versuchung (wenn es für ihn denn je eine Versuchung war), diese Themen und ihren Zusammenhang zu erklären oder gar moralisch zu bewerten. Keine olympisch das Geschehen überblickende Instanz führt durch die Geschichte, sondern Peltzer lässt die Geschichte sich gleichsam selbst erzählen, indem er „Reisen durch Gedankenlandschaften“, wie es einmal selbstbezüglich heißt, und Dialogsequenzen nebeneinander montiert, als hätten sich Arthur Schnitzler und William Gaddis zum kongenialen Duo zusammengefunden.
Durch das Bewusstsein seiner Figuren führt der Text mittels der erlebten Rede, die Peltzer von Buch zu Buch weiter verfeinert hat und hier in Vollendung präsentiert, immer wieder unterbrochen von in Klammern eingefügten knappen Reflexionen, Kommentaren, Selbstberichtigungen der Figuren etc.
Das klingt kompliziert und ist es auch, in der Lektüre erzeugt das Gleiten vom einen in das andere Bewusstsein aber eine ungeheure Dynamik, und immer wieder einen fast soghaften Lesefluss. Ebenso fließend geraten sind die Dialoge, die in ihrer Sprunghaftigkeit und Lebendigkeit wie hingeworfen wirken und doch sehr genau komponiert sind, mit einem besonderen Ohr für den Sound der alltäglichen Rede.
Undurchschaubare Warenströme
Noch einmal: Erzählt wird von den großen Themen und den großen Fragen, vom Wert des Geldes für das gute Leben und undurchschaubaren Warenströmen, vom globalisierten Leben, von enttäuschten Ideologien und der Geschichte, was sie ist, was sie mit uns macht und ob sie sich beeinflussen lässt.
Oder mit dem Titel des Romans auf den Punkt gebracht, in dem alles zusammenläuft: Erzählt wird von der Frage danach, wie ein besseres Leben aussehen kann angesichts der Desillusionierungen, die das letzte Jahrhundert beschert hat, „warum, warum, warum, sinnlose Frage“?, echot es entsprechend durch den Roman.
Beantwortet wird diese Frage freilich nicht, sie wird vielmehr zur Disposition gestellt. Dafür bietet der Roman in seiner ideologischen Offenheit und konsequenten Vielstimmigkeit aber eine Antwort auf eine andere Frage, auf diejenige nämlich, wie diese Kunstform auf die längst unüberschaubare Wirklichkeit reagieren, d.h. wie ein im emphatischen Sinne zeitgenössisches Schreiben aussehen kann. So geht es.