Lumpenproletariat im Ausgehbezirk

Thorsten Nagelschmidt und sein politischer Roman Arbeit. Von Uwe Schütte

Online seit: 18. Juli 2020
Thorsten Nagelschmidt © Verena Brüning
Thorsten Nagelschmidt: Genauer Blick auf die Realität Berlins im Jahre 2020.
Foto: Verena Brüning

In der Popmusik erweist sich nicht selten das Debütalbum als die beste Platte jeder Band, während in der Literatur wildernde Popmusiker zumeist von Buch zu Buch besser werden. Diese Faustregel bestätigt der neue, nunmehr fünfte Roman des Sängers und Songwriters der deutschen Punkrock-Band Muff Potter. Mit Abfall des Herzens (2019) war Thorsten Nagelschmidt zwar vom Popkultur-Spartenverlag Ventil zu S. Fischer gewechselt, blieb aber insgesamt dem Prinzip einer autofiktionalen Aufarbeitung seiner provinziellen Rockmusikerbiografie treu: Popliteratur, im beschränkten Sinne des Begriffs.

Eine genuine literarische Qualität erreicht sein Schreiben nun mit Arbeit. An die Stelle eines alter ego rückt ein ganzes Arsenal an Figuren. Ihnen gemeinsam ist, dass sie arbeiten, ja: hart malochen, um den Ausgeh- und Partybetrieb des nächtlichen Berlins in seiner zunehmend erbärmlichen Mischung aus englischsprachigen Touristen, aggressiven Prolls aus dem Umland und ungeniert feiersüchtigen Millennials am Laufen zu halten: Taxifahrer, Hostelrezeptionisten, Notfallsanitäter, Türsteher, Essenslieferanten und Kioskbetreiber etwa; hinzukommen noch drogendealende Asylanten, migrantische Rosenverkäufer, duldsame Klo­frauen und zornige Flaschensammler. Zusammen ergeben sie das „neue Lumpenproletariat“, das nachts arbeiten muss, damit die anderen mit mehr Geld feiern können.

Ein weiteres literarisches Verdienst von Arbeit ist der genaue Blick auf die Realität Berlins im Jahre 2020, die Nagelschmidts Roman unbekümmert um linksliberale Dogmen oder politisch korrekte Überzeugungen dokumentiert.

Arbeit, wie leicht einsichtig, ist ein politischer Roman, freilich ohne dass Nagelschmidt sich irgendwelcher Parolen bedienen muss. Es reicht, dass er sich auf literarisch glaubhafte Weise etwa in die Psyche der kolumbianischen Studentin Marcela einfühlt, die bei einem Lieferdienst prekär beschäftigt per Fahrrad für einen Hungerlohn warme Gerichte an genervte Besteller ausfährt. Mit ihrer Firma verkehrt sie nur per App, bekommt wöchentlich E-Mails mit ihren „Performancedaten“ und erhält Aufträge per Anruf von einer Computerstimme. Schöne new economy. Bestechende Einblicke liefert Nagelschmidts Roman auch in den anstrengenden Arbeitsalltag der Rettungssanitäterin Tanja, die sich nach Arbeitsende in den frühen Morgenstunden gerne zur Erholung in einen Fetischclub begibt, oder den Taxifahrer Bederitzky, der nur so lange glaubt, eine lukrative Fernfahrt ergattert zu haben, bis ihm sein Fahrgast an Ziel davonläuft.

Mit beachtlicher Souveränität verknüpft Nagelschmidt – seinem expliziten literarischen Vorbild Manhattan Transfer von Dos Passos folgend – die verschiedenen Handlungsstränge, sodass sich eine spannende, polyphone Erzählung aus dem nächtlichen Treiben im Kreuzberger Vergnügungsghetto ergibt. Nicht immer perfekt ist die Nachahmung der unterschiedlichen Figurensprechweisen, wenngleich Nagelschmidt immer wieder erstaunliche Passagen gelingen, die Arbeit zu einem gültigen Großstadtroman des 21. Jahrhunderts machen. Stets bleibt spürbar, dass seine Figuren auf realen Vorbildern beruhen, die er bei deren Arbeit begleitet hat.

Die Brandstiftungen in Einkaufszentren sind das Fanal des soziokulturellen Wandels in den sogenannten Szenekiezen.

Anrührend sind zumal seine Protagonistinnen, beispielsweise die Flaschensammlerin, die sich als ehemalige Antiquariatsbesitzerin entpuppt, die mit dem Pfand den Luxus eines gelegentlichen Kinobesuchs erwirtschaften muss, nachdem sie ein privates Unglück