Manchmal möchte ich die Sterne essen

Michel Leiris und das Schreiben über sich selbst. Von Thomas Stangl
„Ist das, was auf dem Gebiete der Schriftstellerei vor sich geht, nicht jeden Wertes bar, wenn es ,ästhetisch‘ bleibt, harmlos und straffrei?“

Online seit: 6. Mai 2019
Michel Leiris © Charles Mallison
Michel Leiris: Man entkommt der Literatur nicht, auch nicht in den äußersten Momenten.
Foto: Charles Mallison

Fälschungen kommen nicht in Frage, denn Fälschen würde Sterben bedeuten.“ Diesen Satz schreibt Michel Leiris 1934 in sein Tagebuch; er ist zu diesem Zeitpunkt dreiunddreißig Jahre alt, hat gerade eine ethnografische Afrika-Expedition hinter sich (und mit dem Tagebuch dieser Expedition, Phantom Afrika, unter anderem nachhaltig das Selbstverständnis der Ethnografie erschüttert) und steht am Beginn einer autobiografischen Arbeit, die sich über fünf Jahrzehnte hinziehen, mehrere – auf den ersten Blick voneinander stark unterschiedene – Bücher umfassen und sich auf eine einzigartige und unauflösliche Art mit Leiris’ Leben verzahnen wird.

Der zitierte Satz ist programmatisch: Schreiben heißt für Leiris, mit bedingungsloser Aufrichtigkeit Rechenschaft über sein Leben zu geben, ohne jede Rücksicht sich selbst gegenüber – und zugleich in einer Art von Wette gegen den Tod. „Ist das, was auf dem Gebiete der Schriftstellerei vor sich geht, nicht jeden Wertes bar, wenn es ,ästhetisch‘ bleibt, harmlos und straffrei?“, schreibt er in seinem Essay Literatur als Stierkampf: „Wenn es […] nicht etwas gibt, das dem entspräche, was für den Stierkämpfer das spitze Horn des Stiers ist? Denn einzig und allein diese materielle Bedrohung verleiht